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EuGH 07.09.2023 - C-453/22
EuGH 07.09.2023 - C-453/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 07. September 2023 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Effektivitätsgrundsatz – Zu hoher Mehrwertsteuersatz auf einer Kaufrechnung – Rückzahlung des zu viel gezahlten Betrags – Unmittelbare Klage gegen die Verwaltung – Auswirkung der Gefahr einer doppelten Erstattung derselben Mehrwertsteuer“
Leitsatz
In der Rechtssache C-453/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Münster (Deutschland) mit Beschluss vom 27. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2022, in dem Verfahren
Michael Schütte
gegen
Finanzamt Brilon
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters N. Piçarra, Generalanwalt: M. Szpunar,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Michael Schütte, vertreten durch Rechtsanwalt H. Nieskens,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und N. Scheffel als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Mantl als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer und des Effektivitätsgrundsatzes.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Kläger des Ausgangsverfahrens, Herrn Michael Schütte, und dem Finanzamt Brilon (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen des Anspruchs auf einen aus Billigkeitsgründen zu gewährenden Erlass der von den deutschen Finanzbehörden nachträglich geforderten Mehrwertsteuer und der darauf festgesetzten Zinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a)
die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.
Gemäß Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie muss der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug nach ihrem Art. 168 Buchst. a ausüben zu können, „in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen … eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen“.
Deutsches Recht
In § 163 der Abgabenordnung (BGBl. 2002 I, S. 3866) (im Folgenden: AO) heißt es:
„(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. …
..."
§ 227 AO bestimmt:
„Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Land- und Forstwirt. In den Jahren 2011 bis 2013 erwarb er Holz von verschiedenen Lieferanten, das er anschließend als Brennholz an seine Kunden weiterverkaufte und lieferte. Während in den Rechnungen seiner Lieferanten als Mehrwertsteuersatz der normale Steuersatz von 19 % ausgewiesen wurde, wurde in den Rechnungen des Klägers des Ausgangsverfahrens an seine Kunden der ermäßigte Satz von 7 % ausgewiesen.
Die Lieferanten erklärten jeweils die Umsätze und führten die Mehrwertsteuer in Höhe von 19 % an die deutschen Finanzbehörden ab. Dagegen erklärte der Kläger des Ausgangsverfahrens die von ihm getätigten Verkäufe zu einem Satz von nur 7 % und brachte die Vorsteuer aus den Käufen zu einem Satz von 19 % in Abzug. Die sich hieraus ergebene Steuerschuld wurde vom Kläger des Ausgangsverfahrens an die deutsche Finanzbehörde gezahlt.
Das Finanzgericht Münster (Deutschland), das vorlegende Gericht, führt aus, dass es zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens gegeben habe und dass kein Betrugsverdacht gegen ihn vorgelegen habe. Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte das Finanzamt jedoch zu der Auffassung, dass die Ausgangsumsätze des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz hätten unterliegen müssen.
Im Anschluss an diese Betriebsprüfung wurde ein Gerichtsverfahren beim Finanzgericht Münster eingeleitet. Am Ende dieses Gerichtsverfahrens kam dieses Gericht mit Urteil vom 2. Juli 2019, das mittlerweile rechtskräftig ist, zu dem Ergebnis, dass die Ausgangsumsätze des Klägers des Ausgangsverfahrens durchaus dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterlegen hätten. Jedoch hätten auch die Einkäufe, die der Kläger des Ausgangsverfahrens getätigt habe, dem ermäßigten Steuersatz von 7 % unterlegen. Der Vorsteuerabzug des Klägers des Ausgangsverfahrens wurde daher entsprechend gekürzt.
Zur Umsetzung dieses Urteils forderte das Finanzamt mit Bescheiden vom 30. September 2019 die Mehrwertsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 zuzüglich Zinsen nach. Der Kläger des Ausgangsverfahrens wandte sich daher an seine Lieferanten, damit diese die Rechnungen ihm gegenüber berichtigen und ihm den Differenzbetrag auszahlen.
Sämtliche Lieferanten beriefen sich gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens auf die Einrede der Verjährung nach deutschem Zivilrecht. Die fraglichen Rechnungen wurden demnach nicht berichtigt, und der Kläger des Ausgangsverfahrens erhielt die Rückzahlungen, die er von den Lieferanten gefordert hatte, nicht.
Unter diesen Umständen stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 einen Antrag beim Finanzamt, ihm die nachgeforderte Mehrwertsteuer und die darauf festgesetzten Zinsen im Wege der Billigkeit gemäß den §§ 163 und 227 AO zu erlassen.
Das Finanzamt lehnte diesen Antrag mit Bescheiden vom 3. und vom 16. Dezember 2019 mit der Begründung ab, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens für die Situation selbst verantwortlich sei. Die Einsprüche, die dieser gegen die genannten ablehnenden Bescheide richtete, wurden mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 ebenfalls als unbegründet angesehen.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob vor dem vorlegenden Gericht Klage gegen die Ablehnung seines Antrags auf Erlass der nachträglich geforderten Mehrwertsteuer. Dieses hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bezug auf die Anwendung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität und des Effektivitätsgrundsatzes auf Erstattungsansprüche.
Seine Zweifel beziehen sich auch darauf, dass den Lieferanten die Möglichkeit der Rechnungsberichtigung zeitlich unbegrenzt zustehe, so dass sie diese Berichtigung vornehmen könnten, nachdem der Erwerber die Erstattung von den deutschen Finanzbehörden erhalten habe. Wenn die Lieferanten anschließend von der betreffenden Behörde den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangten, setze dies die Behörde der Gefahr aus, dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten zu müssen, ohne unbedingt gegen den Erwerber der Gegenstände, über die die Rechnungen ausgestellt worden seien, Rückgriff nehmen zu können.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Münster beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Gebieten die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie – insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten Mehrwertsteuer einschließlich der Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann – möglicherweise – nicht mehr Rückgriff beim Kläger nehmen kann, so dass die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörde dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten muss?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.
Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige nämlich vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 6. Februar 2014, Fatorie,C‑424/12, EU:C:2014:50, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer stellt insoweit ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar. In diesem Kontext liegt dem Antrag auf Erstattung zu viel entrichteter Mehrwertsteuer der Anspruch auf Rückzahlung rechtsgrundlos gezahlter Beträge zugrunde, der nach ständiger Rechtsprechung die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben soll, dass die mit der Abgabe zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult,C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 24 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
Allerdings ist es in Ermangelung einer Unionsregelung über die Erstattung von Abgaben Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann; diese Voraussetzungen müssen den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken,C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 37, und vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 50).
Vor dem Hintergrund, dass es grundsätzlich auch Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann, hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein System, nach dem zum einen der Lieferer eines Gegenstands, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden entrichtet hat, deren Erstattung verlangen kann, und zum anderen der Erwerber dieses Gegenstands eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung gegen den Lieferer erheben kann, die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität beachtet. Denn ein solches System ermöglicht es dem Erwerber, der mit der irrtümlich in Rechnung gestellten Steuer belastet war, die rechtsgrundlos gezahlten Beträge erstattet zu bekommen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken,C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 38 und 39, sowie vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 51).
Wenn allerdings die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig schwierig wird, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Lieferers, kann der Grundsatz der Effektivität gebieten, dass der Erwerber des betreffenden Gegenstands seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann. Damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt wird, müssen deshalb die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Erwerber ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken,C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 41, und vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 53).
Im Übrigen ist die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Urteile vom 2. Juli 2020, Terracult,C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 38, und vom 13. Oktober 2022, HUMDA,C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aufgrund des Stellenwerts des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer im gemeinschaftlichen Mehrwertsteuersystem erscheint hingegen eine Strafe, die einer absoluten Verwehrung des Rechts auf Erstattung der fälschlich in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer entspricht, unangemessen, wenn weder ein Betrug noch eine Beeinträchtigung des Staatshaushalts vorliegen, und zwar selbst dann, wenn der Steuerpflichtige nachweislich fahrlässig gehandelt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport,C‑284/11, EU:C:2012:458, Rn. 70, und vom 2. Juli 2020, Terracult,C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 37).
Im Licht der in den Rn. 19 bis 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erscheint eine nationale Regelung oder Praxis, die dazu führt, dass dem Erwerber von Gegenständen die Erstattung der Vorsteuer versagt wird, die ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde und die er zu viel an seine Lieferer gezahlt hat, nicht nur als Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und den Effektivitätsgrundsatz, sondern auch unverhältnismäßig, wenn es ihm allein aufgrund der Einrede der Verjährung, die diese Lieferer ihm gegenüber erheben, unmöglich ist, von diesen diese Erstattung einzufordern, während ihm weder Betrug noch Missbrauch oder nachweisliche Fahrlässigkeit vorzuwerfen sind.
Unter diesen Umständen ist der Erwerber, wenn es für ihn unmöglich oder übermäßig schwierig ist, von den Lieferern die Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer zu erhalten, und weder Betrug noch Missbrauch oder nachweisliche Fahrlässigkeit seinerseits vorliegt, berechtigt, seinen Erstattungsantrag unmittelbar gegen die Steuerbehörde zu richten.
Diese Beurteilung kann weder durch das Urteil vom 13. Januar 2022, Zipvit (C‑156/20, EU:C:2022:2), noch durch die fehlende Insolvenz der Lieferer noch durch die Gefahr einer doppelten Erstattung, die vom vorlegenden Gericht angeführt werden, in Frage gestellt werden.
Was erstens das letztgenannte Urteil betrifft, ist festzustellen, dass anders als in der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Konstellation die Forderung des Klägers in der Rechtssache, die jenem Urteil zugrunde lag, Dienstleistungen betraf, die irrig von der Mehrwertsteuer befreit worden waren. In jener Rechtssache hatte jedoch zum einen der Lieferer nicht versucht, die zu Unrecht nicht entrichtete Mehrwertsteuer bei seinem Kunden einzufordern, und zum anderen hatte die Steuerbehörde keinen berichtigten Steuerbescheid gegen den Lieferer erlassen. Aufgrund dieser Umstände hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Steuerpflichtiger keinen Anspruch darauf hat, einen Mehrwertsteuerbetrag abzuziehen, wenn dieser Betrag ihm nicht in Rechnung gestellt und folglich nicht auf den Endverbraucher abgewälzt wurde (Urteil vom 13. Januar 2022, Zipvit,C‑156/20, EU:C:2022:2, Rn. 31).
Zweitens stellt sich mit Blick auf die in Rn. 23 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Rechtsprechung die Frage, ob sich die Tatsache, dass die Lieferer nicht insolvent sind, auf den Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer auswirken kann. Insoweit steht fest, dass die systematische Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in dieser Rechtsprechung belegt, dass die Insolvenz der Lieferer nur einen der Fälle darstellt, in denen es unmöglich oder übermäßig schwierig sein kann, die Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer zu erhalten (Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken,C‑35/05, EU:C:2007:167, Rn. 41, vom 26. April 2017, Farkas,C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 53, vom 11. April 2019, PORR Építési Kft.,C‑691/17, EU:C:2019:327, Rn. 42 und 48, sowie vom 13. Oktober 2022, HUMDA,C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 22).
Drittens ist in Bezug auf die Gefahr, dass eine doppelte Erstattung erfolgt, weil die Lieferer die ursprünglich an den Erwerber ausgestellten Rechnungen berichtigen könnten, nachdem der Erwerber von der Steuerbehörde eine Erstattung erhalten hat, und anschließend von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen könnten, festzustellen, dass eine solche Gefahr unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer nämlich zu versagen, wenn feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.
Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen haben die betreffenden Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe. Zum anderen muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass sich der wesentliche Zweck der betreffenden Umsätze auf die Erlangung dieses Steuervorteils beschränkt (Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a.,C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 74 und 75, sowie vom 15. September 2022, HA.EN.,C‑227/21, EU:C:2022:687, Rn. 35).
Im vorliegenden Fall zeigt sich jedoch, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen, dass zum einen der Erwerber die in den Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuer an die Lieferer gezahlt hat und dass zum anderen die Lieferer diese Mehrwertsteuerbeträge an die Steuerbehörde abgeführt haben. Wenn also die Lieferer diese Rechnungen berichtigen und Anträge auf Erstattung der zu viel gezahlten Beträge bei der Steuerbehörde stellen sollten, nachdem diese dem Erwerber der in Rechnung gestellten Gegenstände diese zu viel gezahlten Beträge erstattet hat, obwohl sie gegenüber dem Erwerber zunächst die Einrede der Verjährung erhoben und damit klar zu erkennen gegeben haben, dass sie an der Berichtigung der Situation kein Interesse haben, hätten diese Anträge keinen anderen Zweck als den, einen Steuervorteil zu erlangen, der gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstößt. Eine solche Praxis wäre daher missbräuchlich im Sinne der oben genannten Rechtsprechung und könnte nicht zu einer Erstattung an die Lieferer führen, so dass die Gefahr einer doppelten Erstattung ausgeschlossen ist.
Was schließlich die Zinsen betrifft, hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation,C‑446/04, EU:C:2006:774, Rn. 205, und vom 13. Oktober 2022, HUMDA,C‑397/21, EU:C:2022:790, Rn. 32).
Vorliegend könnte nur die Durchführung des Urteils des vorlegenden Gerichts vom 2. Juli 2019, mit dem der Vorsteuerabzug von 19 % auf 7 % herabgesetzt wurde, zu einer wirtschaftlichen Belastung des Klägers des Ausgangsverfahrens führen, deren Höhe der Differenz zwischen dem Regelsatz und dem ermäßigten Satz der Mehrwertsteuer entspricht.
Sollte der Kläger des Ausgangsverfahrens den Betrag, der der Verringerung seines ursprünglichen Abzugs entspricht, tatsächlich bereits an die Steuerbehörde gezahlt haben, ist ihm somit ein finanzieller Schaden entstanden, da er nicht über diesen Betrag verfügen kann. Wenn die von der Behörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, müsste dieser Schaden demnach, da er, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils dargelegt, aufgrund eines Verstoßes des Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht entstanden ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz
sind dahin auszulegen, dass
sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.
Safjan
Jürimäe
Piçarra
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 07. September 2023
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Kammerpräsident
M. Safjan
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch
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