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EuGH 26.02.2019 - C-581/17
EuGH 26.02.2019 - C-581/17 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) - 26. Februar 2019 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Freizügigkeit – Verlegung des Wohnsitzes einer natürlichen Person von einem Mitgliedstaat in die Schweiz – Besteuerung der latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen – Direkte Besteuerung – Freizügigkeit Selbständiger – Gleichbehandlung“
Leitsatz
In der Rechtssache C-581/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Oktober 2017, in dem Verfahren
Martin Wächtler
gegen
Finanzamt Konstanz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, M. Ilešič, J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt : M. Wathelet,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juli 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn Wächtler, vertreten durch Rechtsanwalt R. Bock,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García und V. Ester Casas als Bevollmächtigte,
der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier, B.-R. Killmann, M. Šimerdová und N. Gossement als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. September 2018
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999 (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: FZA).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Martin Wächtler und dem Finanzamt Konstanz (Deutschland) wegen dessen Entscheidung, anlässlich der Verlegung des Wohnsitzes von Herrn Wächtler von Deutschland in die Schweiz den nicht realisierten Wertzuwachs der Beteiligung zu besteuern, die er an einer Gesellschaft mit Sitz in der Schweiz hält, deren Geschäftsführer er zugleich ist.
Rechtlicher Rahmen
FZA
Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits unterzeichneten am 21. Juni 1999 sieben Abkommen, darunter das FZA. Diese sieben Abkommen wurden durch den Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.
Nach dem Wortlaut der Präambel des FZA sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.
Art. 1 dieses Abkommens bestimmt:
„Ziel dieses Abkommens zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ist folgendes:
Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien;
…
Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben;
Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer.“
Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) dieses Abkommens bestimmt:
„Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert.“
Art. 4 („Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit“) des Abkommens sieht vor:
„Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird … nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt.“
Art. 6 des FZA lautet:
„Das Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wird den Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, gemäß den Bestimmungen des Anhangs I über Nichterwerbstätige eingeräumt.“
Art. 7 („Sonstige Rechte“) des Abkommens sieht vor:
„Die Vertragsparteien regeln insbesondere die folgenden mit der Freizügigkeit zusammenhängenden Rechte gemäß Anhang I:
Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie auf die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen;
Recht auf berufliche und geographische Mobilität, das es den Staatsangehörigen der Vertragsparteien gestattet, sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates frei zu bewegen und den Beruf ihrer Wahl auszuüben;
Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit;
…“
Nach Art. 15 des Abkommens sind die Anhänge und Protokolle Bestandteile dieses Abkommens.
Art. 16 („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht“) des Abkommens lautet:
„(1) Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden.
(2) Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.“
Art. 21 („Beziehung zu den bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen“) des FZA bestimmt:
„(1) Die Bestimmungen der bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bleiben von den Bestimmungen dieses Abkommens unberührt. Insbesondere lassen die Bestimmungen dieses Abkommens die in den Doppelbesteuerungsabkommen festgelegte Begriffsbestimmung des Grenzgängers unberührt.
(2) Keine Bestimmung dieses Abkommens ist so auszulegen, dass sie die Vertragsparteien daran hindert, bei der Anwendung ihrer Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen zu machen, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden.
(3) Keine Bestimmung dieses Abkommens hindert die Vertragsparteien daran, Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft andererseits geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern.“
Anhang I des Abkommens ist der Freizügigkeit gewidmet. In Art. 6 Abs. 1 dieses Anhangs heißt es:
„Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist (im Folgenden ‚Arbeitnehmer‘ genannt) und mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mindestens einem Jahr eingegangen ist, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis. …“
Art. 7 Abs. 1 dieses Anhangs sieht vor:
„Ein abhängig beschäftigter Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.“
Art. 9 („Gleichbehandlung“) des Anhangs I des Abkommens über die Freizügigkeit bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Ein Arbeitnehmer und seine … Familienangehörigen genießen dort die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen.“
Kapitel III des Anhangs I des FZA, das den Selbständigen gewidmet ist, umfasst die Art. 12 bis 16 dieses Anhangs. Art. 12 („Aufenthaltsregelung“) bestimmt in seinem Abs. 1:
„Ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der sich zwecks Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen will (im Folgenden ‚Selbständiger‘ genannt), erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung, sofern er den zuständigen nationalen Behörden nachweist, dass er zu diesem Zweck niedergelassen ist oder sich niederlassen will.“
Art. 13 („Selbständige Grenzgänger“) des genannten Anhangs bestimmt in seinem Abs. 1:
„Ein selbständiger Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.“
Art. 15 („Gleichbehandlung“) des Anhangs I bestimmt:
„(1) Dem Selbständigen wird im Aufnahmestaat hinsichtlich des Zugangs zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit und deren Ausübung eine Behandlung gewährt, die nicht weniger günstig ist als die den eigenen Staatsangehörigen gewährte Behandlung.
(2) Artikel 9 dieses Anhangs gilt sinngemäß für die in diesem Kapitel genannten Selbständigen.“
Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Das Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (BGBl. 1972 II S. 1022) in der durch das Protokoll vom 27. Oktober 2010 (BGBl. 2011 II S. 1092) geänderten Fassung (im Folgenden: DBA Deutschland/Schweiz) sieht in Art. 1 vor:
„Dieses Abkommen gilt für Personen, die in einem Vertragstaat oder in beiden Vertragstaaten ansässig sind.“
Art. 4 Abs. 1 des DBA Deutschland/Schweiz sieht vor:
„Im Sinne dieses Abkommens bedeutet der Ausdruck ‚eine in einem Vertragstaat ansässige Person‘ eine Person, die nach dem in diesem Staat geltenden Recht dort unbeschränkt steuerpflichtig ist.“
Art. 13 dieses Abkommens bestimmt:
„(1) Gewinne aus der Veräußerung unbeweglichen Vermögens im Sinne des Artikels 6 Absatz 2 können in dem Vertragstaat besteuert werden, in dem dieses Vermögen liegt.
(2) Gewinne aus der Veräußerung beweglichen Vermögens, das Betriebsvermögen einer Betriebstätte darstellt, die ein Unternehmen eines Vertragstaates in dem anderen Vertragstaat hat, oder das zu einer festen Einrichtung gehört, über die eine in einem Vertragstaat ansässige Person für die Ausübung eines freien Berufes in dem anderen Vertragstaat verfügt, einschließlich derartiger Gewinne, die bei der Veräußerung einer solchen Betriebstätte (allein oder zusammen mit dem übrigen Unternehmen) oder einer solchen festen Einrichtung erzielt werden, können in dem anderen Staat besteuert werden. …
(3) Gewinne aus der Veräußerung des in den Absätzen 1 und 2 nicht genannten Vermögens können nur in dem Vertragstaat besteuert werden, in dem der Veräußerer ansässig ist.
…
(5) Besteuert ein Vertragstaat bei Wegzug einer in diesem Staat ansässigen natürlichen Person den Vermögenszuwachs, der auf eine wesentliche Beteiligung an einer in diesem Staat ansässigen Gesellschaft entstanden ist, so wird bei späterer Veräußerung der Beteiligung, wenn der daraus erzielte Gewinn in dem anderen Staat gemäß Absatz 3 besteuert wird, dieser Staat bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns als Anschaffungskosten den Betrag zugrunde legen, den der erstgenannte Staat im Zeitpunkt des Wegzugs als Erlös angenommen hat.“
Art. 27 Abs. 1 des Abkommens lautet:
„Die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten tauschen die Informationen aus, die zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Anwendung oder Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts betreffend Steuern jeder Art und Bezeichnung, die für Rechnung der Vertragsstaaten oder ihrer Länder, Kantone, Bezirke, Kreise, Gemeinden oder Gemeindeverbände erhoben werden, voraussichtlich erheblich sind, soweit die diesem Recht entsprechende Besteuerung nicht dem Abkommen widerspricht. Der Informationsaustausch ist durch die Artikel 1 und 2 nicht eingeschränkt.“
Deutsches Recht
Das Einkommensteuergesetz in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (BGBl. 2009 I S. 3366, im Folgenden: EStG) bestimmt in § 1 Abs. 1:
„Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. …“
§ 17 Abs. 1 und 2 EStG sieht vor:
„(1) Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1 Prozent beteiligt war. …
(2) Veräußerungsgewinn im Sinne des Absatzes 1 ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. …“
Das Gesetz über die Besteuerung bei Auslandsbeziehungen vom 8. September 1972 (BGBl. 1972 I S. 1713) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AStG) bestimmt in seinem § 6:
„(1) Bei einer natürlichen Person, die insgesamt mindestens zehn Jahre nach § 1 Abs. 1 [EStG] steuerpflichtig war und deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet, ist auf Anteile im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 [EStG] im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht § 17 [EStG] auch ohne Veräußerung anzuwenden, wenn im Übrigen für die Anteile zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind.
…
(4) Vorbehaltlich des Absatzes 5 ist die nach Absatz 1 geschuldete Einkommensteuer auf Antrag in regelmäßigen Teilbeträgen für einen Zeitraum von höchstens fünf Jahren seit Eintritt der ersten Fälligkeit gegen Sicherheitsleistung zu stunden, wenn ihre alsbaldige Einziehung mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden wäre. Die Stundung ist zu widerrufen, soweit die Anteile während des Stundungszeitraums veräußert werden oder verdeckt in eine Gesellschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 [EStG] eingelegt werden oder einer der Tatbestände des § 17 Abs. 4 [EStG] verwirklicht wird. …
(5) Ist der Steuerpflichtige im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates … oder eines anderen Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum [vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen)] anwendbar ist, und unterliegt er nach der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in einem dieser Staaten (Zuzugsstaat) einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht, so ist die nach Absatz 1 geschuldete Steuer zinslos und ohne Sicherheitsleistung zu stunden. Voraussetzung ist, dass die Amtshilfe und die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung der geschuldeten Steuer zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesem Staat gewährleistet sind. …
Die Stundung ist zu widerrufen,
soweit der Steuerpflichtige oder sein Rechtsnachfolger im Sinne des Satzes 3 Nr. 1 Anteile veräußert oder verdeckt in eine Gesellschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 [EStG] einlegt oder einer der Tatbestände des § 17 Abs. 4 [EStG] erfüllt wird;
soweit Anteile auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person übergehen, die nicht in einem Mitgliedstaat … oder einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht unterliegt;
soweit in Bezug auf die Anteile eine Entnahme oder ein anderer Vorgang verwirklicht wird, der nach inländischem Recht zum Ansatz des Teilwerts oder des gemeinen Werts führt;
wenn für den Steuerpflichtigen oder seinen Rechtsnachfolger im Sinne des Satzes 3 Nr. 1 durch Aufgabe des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts keine Steuerpflicht nach Satz 1 mehr besteht.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Herr Wächtler, ein deutscher Staatsangehöriger, ist seit dem 1. Februar 2008 Geschäftsführer einer Gesellschaft schweizerischen Rechts. Er übt in diesem Rahmen eine Tätigkeit im Bereich der IT-Beratung aus und hält 50 % der Gesellschaftsanteile.
Am 1. März 2011 verlegte Herr Wächtler seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz. Wegen dieses Ortswechsels unterwarf das Finanzamt Konstanz nach § 6 AStG und § 17 EStG die latenten Wertzuwächse seiner Anteile an dieser Gesellschaft der Einkommensteuer.
Herr Wächtler war der Auffassung, diese Besteuerung allein aufgrund der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz verstoße gegen das FZA, insbesondere gegen die darin vorgesehene Niederlassungsfreiheit, und erhob Klage beim Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland).
Dieses Gericht hegt Zweifel an der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Steuerregelung, die im Fall eines deutschen Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlege, eine Besteuerung der latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Steuer vorsehe, während diese Steuerregelung im Fall eines deutschen Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat oder einen dem EWR angehörenden Staat verlege, den zinslosen Aufschub der Zahlung dieser Steuer bis zur tatsächlichen Veräußerung der betreffenden Beteiligungen ohne Sicherheitsleistung erlaube, sofern erstens der Aufnahmestaat der Bundesrepublik Deutschland Amtshilfe und Unterstützung bei der Steuerbeitreibung leiste und zweitens der Steuerpflichtige in diesem Aufnahmestaat einer der deutschen Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht unterliege, mit der Präambel und den Art. 1, 2, 4, 6, 7, 16 und 21 des FZA sowie Anhang I Art. 9 dieses Abkommens.
Das vorlegende Gericht führt aus, dass dieser Aufschub, was diesen letzten Fall der Wohnsitzverlegung betrifft, vom nationalen Gesetzgeber in § 6 Abs. 5 AStG eingeführt worden sei, weil die betreffende Steuerregelung ohne die Möglichkeit eines Aufschubs der Zahlung der fraglichen Steuer gegen die vom Unionsrecht garantierte Niederlassungsfreiheit verstieße, da ein deutscher Staatsangehöriger, der seinen Wohnsitz im Inland beibehalte, erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse der betroffenen Gesellschaftsanteile besteuert werde. Die Vereinbarkeit der Änderung dieser Bestimmung in Bezug auf den Aufschub der Erhebung mit dem Unionsrecht sei im Übrigen durch das Urteil vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant (C-9/02, EU:C:2004:138), bestätigt worden.
Für den Fall, dass die fragliche Steuerregelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne des FZA darstellen sollte, stellt sich das vorlegende Gericht die Frage, ob diese Beschränkung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, wie etwa die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen und die Notwendigkeit, zur Vermeidung von Steuermindereinnahmen eine wirksame Erhebung der Steuer zu gewährleisten, gerechtfertigt sein kann und, falls ja, ob die Beschränkung zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hierfür Erforderliche hinausgeht.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Baden-Württemberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Vorschriften des FZA, insbesondere dessen Präambel sowie die Art. 1, 2, 4, 6, 7, 16 und 21 und Anhang I Art. 9 dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der, damit kein Besteuerungssubstrat entgeht, latente, noch nicht realisierte Wertsteigerungen von Gesellschaftsrechten (ohne Aufschub) besteuert werden, wenn ein in diesem Staat zunächst unbeschränkt steuerpflichtiger Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats seinen Wohnsitz von diesem Staat in die Schweiz und nicht in einen Mitgliedstaat oder in einen Staat verlegt, auf den das EWR-Abkommen Anwendung findet?
Zur Vorlagefrage
Wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, wurde die Möglichkeit des Aufschubs der Zahlung der Steuer auf latente Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen im Fall eines deutschen Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz von Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat oder einen dem EWR angehörenden Staat verlegt, vom nationalen Gesetzgeber eingeführt, um das deutsche Steuersystem mit dem Recht der Union über die Personenfreizügigkeit in Einklang zu bringen, da die Besteuerung der Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen eines deutschen Staatsangehörigen, der seinen Wohnsitz im Inland beibehält, erst im Zeitpunkt der Realisierung dieser Wertzuwächse erfolgt.
Daher ist die Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass dieses im Wesentlichen wissen möchte, ob die Bestimmungen des FZA dahin auszulegen sind, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.
Da das FZA ein völkerrechtlicher Vertrag ist, ist es nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen (Urteile vom 2. März 1999, Eddline El-Yassini, C-416/96, EU:C:1999:107, Rn. 47, und vom 24. November 2016, SECIL, C-464/14, EU:C:2016:896, Rn. 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem ist einem Begriff gemäß dieser Bestimmung eine besondere Bedeutung beizulegen, wenn feststeht, dass dies die Absicht der Parteien war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C-266/16, EU:C:2018:118, Rn. 70).
In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass das FZA in einem allgemeineren Rahmen der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft steht. Diese hat sich zwar nicht für die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum und am Binnenmarkt der Union entschieden, ist aber gleichwohl durch eine Vielzahl von Abkommen mit dieser verbunden, die weite Bereiche abdecken und spezifische Rechte und Pflichten vorsehen, die in mancher Hinsicht den im Vertrag festgelegten entsprechen. Die allgemeine Zielsetzung dieser Abkommen, einschließlich des FZA, besteht darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu intensivieren (Urteil vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, EU:C:2011:643, Rn. 33).
Die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt kann allerdings nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden, sofern dies nicht in diesem Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist, da die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten ist (Urteil vom 15. März 2018, Picart, C-355/16, EU:C:2018:184, Rn. 29).
Was zweitens das Ziel des FZA und seine Auslegung betrifft, ergibt sich aus der Präambel sowie Art. 1 und Art. 16 Abs. 2 dieses Abkommens, dass dieses zum Ziel hat, zugunsten der Staatsangehörigen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien zu verwirklichen. Hierzu stützt es sich auf die in der Union geltenden Vorschriften, deren Begriffe unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens auszulegen sind.
Zur Rechtsprechung nach diesem Zeitpunkt ist festzustellen, dass Art. 16 Abs. 2 des FZA zum einen vorsieht, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft über diese Rechtsprechung unterrichtet wird, und dass zum anderen, um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, der in Art. 14 dieses Abkommens vorgesehene Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung feststellt. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 71 und 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist jedoch selbst ohne eine Entscheidung dieses Ausschusses auch diese Rechtsprechung zu berücksichtigen, sofern sie lediglich die Grundsätze präzisiert oder bestätigt, die in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bereits bestehenden Rechtsprechung zu den Begriffen des Unionsrechts, an denen sich dieses Abkommen ausrichtet, aufgestellt waren.
Im Licht dieser Erwägungen sind der Anwendungsbereich und die Bestimmungen des FZA zu prüfen.
Gemäß der Präambel sowie Art. 1 Buchst. a und c des FZA fallen natürliche Personen, die eine Erwerbstätigkeit ausüben, und auch solche, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, in den Anwendungsbereich des Abkommens.
Aus den Akten des Gerichtshofs geht hervor, dass Herr Wächtler eine Erwerbstätigkeit ausübt, nämlich die eines IT-Beraters bei einer in der Schweiz niedergelassenen Gesellschaft, deren Geschäftsführer er ist.
Aus dem Wortlaut von Art. 1 Buchst. a des FZA geht hervor, dass es speziell in Bezug auf solche Personen Ziel dieses Abkommens ist, ein Recht auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien einzuräumen. Zu diesem Zweck sieht Art. 4 des FZA vor, dass das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit nach Maßgabe des Anhangs I des Abkommens eingeräumt wird.
Zum rechtlichen Rahmen, in dem die in Rede stehende Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen den Art. 6 und 7 des Anhangs I des FZA und den Art. 12 und 13 dieses Anhangs, dass für die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen maßgebend ist, ob die fragliche Erwerbstätigkeit als „abhängige Beschäftigung“ oder „selbständige Erwerbstätigkeit“ anzusehen ist.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ ein Begriff des Unionsrechts ist (Urteil vom 19. März 1964, Unger, 75/63, EU:C:1964:19, S. 397), den es bereits zur Zeit der Unterzeichnung des Abkommens gab. Das wesentliche Merkmal des abhängigen Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Umgekehrt ist eine nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses ausgeübte Tätigkeit als „selbständige Erwerbstätigkeit“ zu qualifizieren (vgl. entsprechend Urteile vom 27. Juni 1996, Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 25 und 26, sowie vom 20. November 2001, Jany u. a., C-268/99, EU:C:2001:616, Rn. 34).
Da Herr Wächtler seine Tätigkeit als IT-Berater in einer Gesellschaft ausübt, deren Geschäftsführer er ist und an der er 50 % der Gesellschaftsanteile hält, fehlt es im vorliegenden Fall an dem Unterordnungsverhältnis, das eine abhängige Beschäftigung kennzeichnet, wie der Generalanwalt in den Nrn. 38 und 39 seiner Schlussanträge festgestellt hat. Herr Wächtler übt folglich eine selbständige Erwerbstätigkeit aus und ist Selbständiger im Sinne des FZA.
Wie der Gerichtshof bereits klargestellt hat, wird der persönliche Anwendungsbereich des Begriffs „Selbständiger“ im Sinne des FZA in den Art. 12 und 13 des Anhangs I dieses Abkommens definiert (Urteil vom 15. März 2018, Picart, C-355/16, EU:C:2018:184, Rn. 18).
Aus Art. 12 Abs. 1 dieses Anhangs geht hervor, dass diese Vorschrift auf Staatsangehörige, also natürliche Personen, einer Vertragspartei anwendbar ist, die sich im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederlassen und im Hoheitsgebiet dieser anderen Vertragspartei eine selbständige Tätigkeit ausüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2018, Picart, C-355/16, EU:C:2018:184, Rn. 22 und 23).
Herr Wächtler befindet sich in der Situation eines Staatsangehörigen einer Vertragspartei des FZA, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, der sich im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei, nämlich der Schweizerischen Eidgenossenschaft, niedergelassen hat, um dort im Rahmen einer Gesellschaft eine selbständige Tätigkeit auszuüben. Diese Situation fällt somit in den Anwendungsbereich von Art. 12 des Anhangs I des FZA.
Der Umstand, dass Herr Wächtler 50 % der Anteile der Gesellschaft hält, in deren Rahmen er die in Rede stehende selbständige Tätigkeit ausübt, ändert nichts an dieser Feststellung. Wie nämlich der Generalanwalt in den Nrn. 43 bis 56 seiner Schlussanträge im Wesentlichen festgestellt hat, umfasst das Recht auf Niederlassung als Selbständiger im Sinne des FZA, mit Ausnahme der Erbringung von Dienstleistungen, jede Erwerbstätigkeit einer natürlichen Person, die, die nicht unter den Begriff des „Arbeitnehmers“ fällt. Außerdem setzt die wirksame Ausübung dieses Rechts die Möglichkeit voraus, die zu diesem Zweck geeignete Rechtsform zu wählen.
Was die Frage angeht, ob ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei aus dem FZA abgeleitete Rechte gegenüber seinem eigenen Land geltend machen kann, ist festzustellen, dass nach einer bereits im Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs das Niederlassungsrecht im Sinne des Unionsrechts nicht nur die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen soll, sondern auch Behinderungen verbietet, die vom Herkunftsmitgliedstaat des betreffenden Staatsangehörigen ausgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 1988, Daily Mail and General Trust, 81/87, EU:C:1988:456, Rn. 16).
So können unter bestimmten Umständen und nach Maßgabe der anwendbaren Bestimmungen die Staatsangehörigen einer Vertragspartei aus dem FZA abgeleitete Rechte nicht nur gegenüber dem Land, wohin sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, sondern auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen (Urteil vom 15. März 2018, Picart, C-355/16, EU:C:2018:184, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Freizügigkeit, die das FZA garantiert, würde nämlich beeinträchtigt, wenn ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats in seinem Herkunftsland einen Nachteil allein deshalb erlitte, weil er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat (Urteil vom 15. Dezember 2011, Bergström, C-257/10, EU:C:2011:839, Rn. 28).
Hieraus folgt, dass ein Selbständiger, der in den Anwendungsbereich des FZA fällt, den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 15 Abs. 2 des Anhangs I des FZA in Verbindung mit Art. 9 dieses Anhangs auch gegenüber seinem Herkunftsstaat geltend machen kann.
Da der Gleichbehandlungsgrundsatz ein Begriff des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel u. a., 117/76 und 16/77, EU:C:1977:160, Rn. 7, sowie vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, EU:C:2011:643, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), der bereits vor der Unterzeichnung des FZA bestand, sind, wie sich aus den Rn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils ergibt, bei der Prüfung, ob möglicherweise eine vom FZA verbotene Ungleichbehandlung vorliegt, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Gleichbehandlung entwickelten Grundsätze zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, EU:C:2011:643, Rn. 26, sowie vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 47).
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass ein deutscher Staatsangehöriger, der, wie Herr Wächtler, sein Niederlassungsrecht als Selbständiger gemäß dem FZA ausgeübt hat, einen steuerlichen Nachteil im Vergleich zu anderen deutschen Staatsangehörigen erleidet, die wie er eine selbständige Tätigkeit im Rahmen einer Gesellschaft ausüben, an der sie Anteile halten, aber im Unterschied zu ihm ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten. Diese müssen nämlich die Steuer für latente Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert werden, d. h. bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während ein Staatsangehöriger wie Herr Wächtler die fragliche Steuer für die latenten Wertzuwächse solcher Gesellschaftsanteile im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz zahlen muss, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile erhalten zu können.
Diese Ungleichbehandlung, die einen Liquiditätsnachteil für einen deutschen Staatsangehörigen wie Herrn Wächtler darstellt, ist geeignet, ihn davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem FZA tatsächlich Gebrauch zu machen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuerregelung kann daher das von diesem Abkommen garantierte Niederlassungsrecht als Selbständiger behindern.
Nach Art. 21 Abs. 2 des FZA ist jedoch im Bereich der Steuern eine differenzierte Behandlung von Steuerpflichtigen zulässig, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden (Urteil vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 45).
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 6 AStG entschieden hat, in Bezug auf die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen eines deutschen Staatsangehörigen, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht dieses Staatsangehörigen als steuerlich in Deutschland Ansässigem entstanden sind, ihre Besteuerungsbefugnis auszuüben, und zwar unabhängig davon, in welchem Hoheitsgebiet die Wertzuwächse entstanden sind.
Im Hinblick auf das Ziel dieser Gesetzgebung, das darin besteht, die Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen, die im Rahmen der Besteuerungsbefugnis der Bundesrepublik Deutschland entstanden sind, zu besteuern, ist die Situation eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt, vergleichbar der eines Angehörigen eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz in Deutschland beibehält. In beiden Fällen liegt nämlich die Befugnis, diese Wertzuwächse zu besteuern, bei der Bundesrepublik Deutschland, da diese Befugnis gemäß ihrer nationalen Gesetzgebung an den steuerlichen Wohnsitz des Staatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet während des Entstehungszeitraums dieser Wertzuwächse, unabhängig vom Ort ihrer Entstehung, geknüpft ist.
Somit stellt sich die Frage, ob die in den Rn. 56 und 57 des vorliegenden Urteils festgestellte Ungleichbehandlung durch die vom vorlegenden Gericht angeführten und in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannten zwingenden Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein kann, d. h. die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Vertragsparteien des FZA, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen und die Notwendigkeit, zur Vermeidung von Steuermindereinnahmen eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten.
Hierzu bestimmt Art. 21 Abs. 3 des FZA, dass keine Bestimmung dieses Abkommens die Vertragsparteien daran hindert, Maßnahmen zu beschließen, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern.
Solche Maßnahmen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Freizügigkeit von Personen in der Union zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen (vgl. u. a. Urteile vom 15. Mai 1997, Futura Participations und Singer, C-250/95, EU:C:1997:239, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 3. Oktober 2006, FKP Scorpio Konzertproduktionen, C-290/04, EU:C:2006:630, Rn. 36, sowie vom 11. Dezember 2014, Kommission/Spanien, C-678/11, EU:C:2014:2434, Rn. 45 und 46), müssen gleichwohl jedenfalls den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten; d. h., sie müssen zur Erreichung dieser Ziele geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was hierfür erforderlich ist.
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass zwar die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz eine geeignete Maßnahme ist, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen. Dieses Ziel ist jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung dieser Steuer unmöglich ist. Eine solche Stundung bedeutet nämlich nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Schweizerischen Eidgenossenschaft auf ihre Befugnis zur Besteuerung der Wertzuwächse verzichtet, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht des Inhabers der Gesellschaftsanteile in Deutschland entstanden sind.
Was das Ziel der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen betrifft, sieht das DBA Deutschland/Schweiz die Möglichkeit eines Austauschs von Steuerinformationen zwischen den Vertragsstaaten vor, so dass die Bundesrepublik Deutschland von den zuständigen schweizerischen Behörden die notwendigen Informationen über die Veräußerung der Gesellschaftsanteile mit den in Rede stehenden latenten Wertzuwächsen durch den Staatsangehörigen, der zuvor seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat, erhalten könnte. Folglich ist die fehlende Möglichkeit der Stundung der in Rede stehenden Steuer jedenfalls eine Maßnahme, die über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Was das Ziel angeht, das die Notwendigkeit betrifft, zur Vermeidung von Steuermindereinnahmen eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten, ist festzustellen, dass die alsbaldige Einziehung der in Rede stehenden Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes des Steuerpflichtigen grundsätzlich durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann, die wirksame Einziehung von Steuerschulden zu gewährleisten. Allerdings geht, wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 bis 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, diese Maßnahme über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und ist daher als unverhältnismäßig anzusehen. In einem Fall, in dem – insbesondere wegen des Fehlens von Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen – ein Risiko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer besteht, kann nämlich der Aufschub der Einziehung dieser Steuer von der Leistung einer Sicherheit abhängig gemacht werden (vgl. entsprechend Urteile vom 29. November 2011, National Grid Indus, C-371/10, EU:C:2011:785, Rn. 73 und 74, sowie vom 23. Januar 2014, DMC, C-164/12, EU:C:2014:20, Rn. 65 bis 67).
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuersystem eine ungerechtfertigte Beschränkung des vom FZA vorgesehenen Niederlassungsrechts darstellt.
Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass diese Steuerregelung die Möglichkeit einer Zahlung der geschuldeten Steuer in Teilbeträgen vorsieht, wenn die alsbaldige Einziehung dieser Steuer mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden wäre. Abgesehen davon, dass diese Maßnahme der Ratenzahlung nur in diesem speziellen Fall möglich ist, ist sie nämlich nicht geeignet, in einem solchen Fall den Liquiditätsnachteil aufzuheben, den die Verpflichtung des Steuerpflichtigen darstellt, im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz einen Teil der für die latenten Wertzuwächse der betreffenden Gesellschaftsanteile geschuldeten Steuer zu zahlen. Außerdem bleibt sie für den Steuerpflichtigen kostspieliger als eine Maßnahme, die die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung dieser Gesellschaftsanteile vorsähe.
Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Bestimmungen des FZA dahin auszulegen sind, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, sind dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.
Lenaerts
Silva de Lapuerta
Bonichot
Prechal
Vilaras
Jürimäe
Lycourgos
Rosas
Ilešič
Malenovský
Safjan
Šváby
Fernlund
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Februar 2019.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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