Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 10.07.2014 - C-358/13, C-181/14
EuGH 10.07.2014 - C-358/13, C-181/14 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) - 10. Juli 2014 ( *1) - „Humanarzneimittel — Richtlinie 2001/83/EG — Geltungsbereich — Auslegung des Begriffs ‚Arzneimittel‘ — Bedeutung des Kriteriums der Eignung, die physiologischen Funktionen zu beeinflussen — Erzeugnisse auf der Grundlage von Kräutern und Cannabinoiden — Ausschluss“
Leitsatz
In den verbundenen Rechtssachen C-358/13 und C-181/14
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 28. Mai 2013 und 8. April 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2013 und 14. April 2014, in den Strafverfahren gegen
Markus D. (C-358/13)
und
G. (C-181/14)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter M. Safjan und J. Malenovský (Berichterstatter) sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs G. (C-181/14, EU:C:2014:740), das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-181/14 dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von Herrn D., vertreten durch Rechtsanwalt B. Engel,
des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch H. Range, S. Ritzert und S. Heine als Bevollmächtigte,
der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und B. Beutler als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, S. Šindelková und D. Hadroušek als Bevollmächtigte,
der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi und N. Grünberg als Bevollmächtigte,
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér als Bevollmächtigten,
der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brighouse und S. Lee als Bevollmächtigte,
der norwegischen Regierung, vertreten durch B. Gabrielsen und K. Winther als Bevollmächtigte im Beistand von M. Schei, advokat,
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, M. Šimerdová und A. Sipos als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2014
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Begriffs „Arzneimittel“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83).
Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen Herrn D. und Herrn G., denen zur Last gelegt wird, Kräutermischungen verkauft zu haben, die u. a. synthetische Cannabinoide enthielten, die zu der für die Sachverhalte der Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit nicht unter das deutsche Betäubungsmittelgesetz fielen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2001/83
Der siebte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 lautet:
„Die Begriffe Schädlichkeit und therapeutische Wirksamkeit können nur in ihrer wechselseitigen Beziehung geprüft werden und haben nur eine relative Bedeutung, die nach Maßgabe des Standes der Wissenschaft und unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung des Arzneimittels beurteilt wird. Aus den Angaben und Unterlagen, die dem Antrag auf Genehmigung für das Inverkehrbringen beizufügen sind, muss hervorgehen, dass die Wirksamkeit höher zu bewerten ist als die potenziellen Risiken.“
Nach Art. 1 Nr. 2 dieser Richtlinie bedeutet in deren Sinne
„Arzneimittel:
alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, oder
alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen“.
Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83 bestimmt:
„Diese Richtlinie lässt die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften unberührt, die den Verkauf, die Lieferung und den Gebrauch von empfängnisverhütenden oder schwangerschaftsunterbrechenden Arzneimitteln verbieten oder einschränken. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften mit.“
Richtlinie 2004/27
Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/27 heißt es:
„[D]ie nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die sich in den wesentlichen Grundsätzen unterscheiden, [müssen] einander angenähert werden, damit das Funktionieren des Binnenmarktes verbessert und gleichzeitig ein hohes Niveau des menschlichen Gesundheitsschutzes erreicht werden kann.“
Deutsches Recht
Mit dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln wurde die Richtlinie 2001/83 in deutsches Recht umgesetzt. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist dieses Gesetz in den Ausgangsverfahren in der Fassung anwendbar, die sich aus Art. 1 des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 17. Juli 2009 (BGBl. 2009 I S. 1990) ergibt (im Folgenden: Arzneimittelgesetz bzw. AMG). § 2 AMG bestimmt:
„(1) Arzneimittel sind Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen,
die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind oder
die im oder am menschlichen oder tierischen Körper angewendet oder einem Menschen oder einem Tier verabreicht werden können, um entweder
die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder
eine medizinische Diagnose zu erstellen.
…“
§ 4 Abs. 17 AMG lautet:
„Inverkehrbringen ist das Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, das Feilhalten, das Feilbieten und die Abgabe an andere.“
§ 5 Abs. 1 AMG bestimmt:
„Es ist verboten, bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr zu bringen oder bei einem anderen Menschen anzuwenden.“
§ 95 AMG sieht vor:
„(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
entgegen § 5 Absatz 1 ein Arzneimittel in den Verkehr bringt oder bei anderen anwendet,
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Rechtssache C-358/13
Herr D. verkaufte in seinem Geschäft „G. – Alles rund um Hanf“ u. a. Tütchen mit Kräutern, denen synthetische Cannabinoide hinzugemischt waren. Diese Tütchen enthielten weder festgelegte Wirkstoffmengen noch Hinweise auf den Wirkstoff oder Dosierungsanleitungen. In der Regel waren sie mit dem Aufdruck versehen, es handele sich um Raumerfrischer und der Inhalt sei nicht zum Verzehr geeignet.
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass Herrn D. bekannt war, dass seine Kunden die in diesen Tütchen verkauften Mischungen als Ersatz für Marihuana benutzten.
Der Konsum dieser synthetischen Cannabinoide führte im Allgemeinen zu einem Rauschzustand, der von gehobener Stimmung bis hin zu Halluzinationen gehen konnte. Er konnte auch Übelkeit, heftiges Erbrechen, Herzrasen, Desorientierung, Wahnvorstellungen und sogar Kreislaufversagen hervorrufen.
Die besagten synthetischen Cannabinoide waren von der Pharmaindustrie in vorexperimentellen Studien getestet worden. Die Testreihen wurden bereits in der ersten experimentell-pharmakologischen Phase abgebrochen, da die gesundheitlichen Effekte, die man sich von diesen Stoffen versprach, nicht erzielt werden konnten und erhebliche Nebenwirkungen aufgrund der psychoaktiven Wirksamkeit der Stoffe zu erwarten waren.
Zu der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeit fielen die synthetischen Cannabinoide nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Sie wurden jedoch wegen ihrer gesundheitsschädlichen Wirkungen als bedenkliche Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes eingestuft.
Herr D. wurde vom Landgericht Lüneburg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Landgericht Lüneburg war der Ansicht, dass Herr D. durch den Verkauf der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kräutermischungen bedenkliche Arzneimittel im Sinne von § 5 Abs. 1 in Verbindung mit § 4 Abs. 17 AMG in den Verkehr gebracht und sich dadurch nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG strafbar gemacht habe.
Herr D. legte Revision beim vorlegenden Gericht ein. Er wendet sich insbesondere gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts Lüneburg und gegen die Feststellung, dass ihm die bedenklichen Wirkungen der synthetischen Cannabinoide bekannt gewesen seien.
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Verfahren davon ab, ob die von Herrn D. verkauften Erzeugnisse als „Arzneimittel“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83, dessen Umsetzung in deutsches Recht § 2 Abs. 1 AMG darstelle, eingestuft werden können.
Rechtssache C-181/14
Herr G. bestellte und verkaufte von Mai 2010 bis Mai 2011 zunächst allein über einen Onlineshop und von Oktober 2012 bis November 2012 nach dessen Aufgabe mit einem Mittäter ähnliche Kräutertütchen wie die im Rahmen der Rechtssache C-358/13 beschriebenen, die ebenfalls synthetische Cannabinoide enthielten.
Zu der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeit waren diese Stoffe im Betäubungsmittelgesetz nicht ausdrücklich geregelt, und die nationalen Gerichte wandten das Arzneimittelrecht an, da die besagten Stoffe aufgrund ihrer gesundheitsschädlichen Wirkungen als bedenkliche Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes eingestuft worden waren.
Das Landgericht Itzehoe verurteilte Herrn G. somit wegen vorsätzlichen Inverkehrbringens bedenklicher Arzneimittel in 87 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten und ordnete einen Wertersatzverfall in Höhe von 200000 Euro an.
Herr G. legte beim vorlegenden Gericht Revision ein.
Nach Ansicht dieses Gerichts hängt die Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Verfahren davon ab, ob die von Herrn G. verkauften Erzeugnisse als „Arzneimittel“ im Sinne von Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83, dessen Umsetzung in deutsches Recht § 2 Abs. 1 AMG darstelle, eingestuft werden können.
Der Bundesgerichtshof hat beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof jeweils folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen, dass Stoffe oder Stoffzusammensetzungen im Sinne dieser Vorschrift, die die menschlichen physiologischen Funktionen lediglich beeinflussen – also nicht wiederherstellen oder korrigieren –, nur dann als Arzneimittel anzusehen sind, wenn sie einen therapeutischen Nutzen haben oder jedenfalls eine Beeinflussung der körperlichen Funktionen zum Positiven hin bewirken? Fallen mithin Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die allein wegen ihrer – einen Rauschzustand hervorrufenden – psychoaktiven Wirkungen konsumiert werden und dabei einen jedenfalls gesundheitsgefährdenden Effekt haben, nicht unter den Arzneimittelbegriff der Richtlinie 2001/83?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Mit Beschluss des Gerichtshofs vom 6. Mai 2014 sind die Rechtssachen C-358/13 und C-181/14 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zur Vorlagefrage
Mit der Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff des Arzneimittels in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass davon Stoffe wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht erfasst werden, deren Wirkungen sich darauf beschränken, die physiologischen Funktionen lediglich zu beeinflussen, ohne positiv auf sie einzuwirken, die nur konsumiert werden, um einen Rauschzustand hervorzurufen, und die dabei gesundheitsschädlich sind.
Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 enthält zwei verschiedene Definitionen des Begriffs „Arzneimittel“. So sieht erstens Art. 1 Nr. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vor, dass „alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind“, Arzneimittel sind. Nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. b dieser Richtlinie sind zweitens Arzneimittel „alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen“.
Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Erzeugnis ein Arzneimittel, wenn es unter die eine oder die andere dieser beiden Definitionen fällt (Urteil HLH Warenvertrieb und Orthica, C-211/03, C-299/03 und C-316/03 bis C-318/03, EU:C:2005:370, Rn. 49).
Auch wenn diese beiden Bestimmungen der Richtlinie 2001/83 durch das Wort „oder“ voneinander getrennt sind, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie in keiner Beziehung zueinander stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Upjohn, C-112/89, EU:C:1991:147, Rn. 18), und sie müssen daher, wie vom Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt, in Verbindung miteinander gelesen werden. Das setzt voraus, dass ihre verschiedenen Kriterien nicht so verstanden werden können, dass sie im Gegensatz zueinander stehen.
Die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage bezieht sich genauer auf die in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 enthaltene Definition und insbesondere auf die in dieser Bestimmung gebrauchte Wendung „die … physiologischen Funktionen … beeinflussen“.
Insoweit ist zwar festzustellen, dass der Ausdruck „beeinflussen“ in seiner gewöhnlichen Bedeutung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nichts darüber aussagt, ob die hervorgerufenen Wirkungen förderlich oder schädlich sind.
Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile Merck, 292/82, EU:C:1983:335, Rn. 12, und Brain Products, C-219/11, EU:C:2012:742, Rn. 13).
Nach dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/27 muss im Rahmen der Annäherung der nationalen Rechtsvorschriften ein hohes Niveau des Schutzes der menschlichen Gesundheit erreicht werden können. Unter diesen Voraussetzungen sind die Richtlinie 2001/83 im Allgemeinen und ihr Art. 1 Nr. 2 im Besonderen mit Blick auf dieses Ziel zu lesen. Letzteres bringt aber keine schlichte Neutralität der Auswirkung auf die menschliche Gesundheit zum Ausdruck, sondern impliziert eine gesundheitsfördernde Wirkung.
Insoweit ist festzustellen, dass die Definition in Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83 auf „Eigenschaften zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten“ Bezug nimmt. Aus dieser Wendung lässt sich eindeutig das Bestehen einer positiven Wirkung für die menschliche Gesundheit ableiten.
Auch Art. 1 Nr. 2 Buchst. b dieser Richtlinie nimmt Begriffe in Bezug, die das Bestehen einer gesundheitsfördernden Wirkung implizieren, da am Ende der Bestimmung von einer „medizinischen Diagnose“ die Rede ist und eine solche Diagnose der Erkennung etwaiger Krankheiten zwecks deren rechtzeitiger Behandlung dient.
Nichts anderes kann für die Ausdrücke „wiederherzustellen“ und „korrigieren“ gelten, die in der Definition des Arzneimittels in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 im Zusammenhang mit den physiologischen Funktionen verwendet werden. Diese Ausdrücke sind nämlich so zu verstehen, dass darin der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck kommt, die positive Wirkung herauszustellen, die die betreffenden Stoffe für das Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich – ob unmittelbar oder mittelbar – für die menschliche Gesundheit haben sollen, und zwar auch ohne dass eine Krankheit vorliegt (vgl. für diesen letzten Aspekt Urteil Upjohn, EU:C:1991:147, Rn. 19).
Damit im Einklang mit Rn. 29 des vorliegenden Urteils bei der gebotenen Auslegung beider Definitionen des Arzneimittels in Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 als Ganzes die Kohärenz sichergestellt ist und eine widersprüchliche Auslegung der verschiedenen Kriterien dieser Definitionen verhindert wird, können für das Verständnis von dem Ausdruck „beeinflussen“, der im selben Satzteil hinter den Ausdrücken „wiederherzustellen“ und „korrigieren“ folgt, keine anderen teleologischen Erwägungen gelten als diejenigen, die in der vorstehenden Randnummer angestellt worden sind. Der Ausdruck „beeinflussen“ muss daher dahin ausgelegt werden, dass er die Stoffe erfasst, die geeignet sind, dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich zu sein.
Demnach ist der Begriff des Arzneimittels in Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen, dass er keine Stoffe erfasst, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein.
Daran ändert auch das Argument nichts, das im Wesentlichen dahin geht, dass diese Auslegung dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufe, der in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83 „empfängnisverhütende oder schwangerschaftsunterbrechende“ Erzeugnisse als Arzneimittel bezeichnet habe, obwohl sie die physiologischen Funktionen beeinflussten, ohne der menschlichen Gesundheit zuträglich sein zu können.
Zum einen ist nämlich festzustellen, dass die „empfängnisverhütenden oder schwangerschaftsunterbrechenden“ Erzeugnisse vom Standpunkt der Richtlinie 2001/83 aus eine Sonderregelung genießen, da die Mitgliedstaaten durch den besagten Art. 4 Abs. 4 ermächtigt werden, ihre eigenen, restriktiven Rechtsvorschriften auf diese Erzeugnisse anzuwenden.
Daher ist die Lage in Bezug auf solche Erzeugnisse mit Blick auf die Richtlinie 2001/83 überhaupt nicht mit derjenigen in Bezug auf die Arzneimittel vergleichbar, die unter die in dieser Richtlinie vorgesehene allgemeine Regelung fallen.
Zum anderen ist an die ständige Rechtsprechung zu erinnern, nach der die zuständige nationale Behörde, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig wird, die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des „Arzneimittels“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 fällt, von Fall zu Fall treffen muss und dabei alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen hat, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (Urteile Upjohn, EU:C:1991:147, Rn. 23, und BIOS Naturprodukte, C-27/08, EU:C:2009:278, Rn. 18).
Der Gesetzgeber hat aber in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/83 nicht bestimmte Erzeugnisse, sondern allgemein eine ganze Kategorie von Erzeugnissen als Arzneimittel bezeichnet.
Eine solche Bezeichnung durch den Gesetzgeber darf nicht mit der Einstufung eines konkreten Erzeugnisses im Einzelfall verwechselt werden, die von den nationalen Behörden nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 und im Einklang mit den oben in Rn. 42 genannten Anforderungen vorgenommen wird.
Angesichts des Vorstehenden ist es nicht gerechtfertigt, bei der Ermittlung des Gehalts der den allgemeinen Definitionen des Arzneimittelbegriffs in Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83 innewohnenden Kriterien und insbesondere des Ausdrucks „beeinflussen“ bestimmte Merkmale zu berücksichtigen, die einer Kategorie von Erzeugnissen eigen sind, die wie diejenige des Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie von deren Standpunkt aus eine Sonderstellung genießt.
Aus dem zweiten Teil der Vorlagefrage ergibt sich im Übrigen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Stoffe nicht zu therapeutischen, sondern ausschließlich zu Entspannungszwecken konsumiert werden und dabei gesundheitsschädlich sind.
In Anbetracht des oben in Rn. 33 genannten Ziels, des oben in Rn. 29 angesprochenen Erfordernisses einer kohärenten Auslegung des Arzneimittelbegriffs und des im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 erwähnten Erfordernisses, die etwaige Schädlichkeit eines geprüften Erzeugnisses in Beziehung zu dessen therapeutischer Wirksamkeit zu setzen, können solche Stoffe nicht als „Arzneimittel“ eingestuft werden.
Dieses Ergebnis kann schließlich nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass es, wie sich aus den Vorlageentscheidungen ergibt, zur Folge hätte, dass der Vertrieb der in den Ausgangsverfahren fraglichen Stoffe jeder Strafverfolgung entzogen ist.
Insoweit genügt die Feststellung, dass das Ziel, das Inverkehrbringen schädlicher Stoffe wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu bestrafen, weder auf die Definition des Arzneimittelbegriffs der Richtlinie 2001/83 noch auf die etwaige Einstufung dieser Stoffe als Arzneimittel auf der Grundlage dieser Definition Einfluss haben kann.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen ist, dass davon Stoffe wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht erfasst werden, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, die nur konsumiert werden, um einen Rauschzustand hervorzurufen, und die dabei gesundheitsschädlich sind.
Kosten
Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass davon Stoffe wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht erfasst werden, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der menschlichen Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein, die nur konsumiert werden, um einen Rauschzustand hervorzurufen, und die dabei gesundheitsschädlich sind.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Bayern
Persönlicher Ansprechpartner
E-Mail-Service
Bankdaten