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BAG 22.07.2021 - 2 AZR 193/21
BAG 22.07.2021 - 2 AZR 193/21 - Nicht rechtskräftige Aufhebung der Zustimmung des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung
Normen
§ 168 SGB 9 2018, § 171 Abs 4 SGB 9 2018, § 174 Abs 1 SGB 9 2018, § 174 Abs 3 SGB 9 2018, § 134 BGB
Vorinstanz
vorgehend ArbG Frankfurt, 12. März 2019, Az: 5 Ca 6363/18, Urteil
vorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht, 6. Oktober 2020, Az: 8 Sa 450/19, Urteil
nachgehend Hessisches Landesarbeitsgericht, 22. Februar 2022, Az: 8 Sa 959/21, Urteil
Tenor
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1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 6. Oktober 2020 - 8 Sa 450/19 - aufgehoben.
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2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung sowie einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist.
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Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin arbeitete seit dem Jahr 2002 bei der Beklagten. Diese beantragte mit Schreiben vom 23. August 2018 die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung und (vorsorglichen) außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist. Das Integrationsamt eröffnete der Beklagten am 7. September 2018, dass wegen Fristablaufs nach § 174 Abs. 3 SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte.
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Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit zwei am selben Tag zugegangenen Schreiben vom 10. September 2018 unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich fristlos sowie vorsorglich außerordentlich mit Auslauffrist zum 31. März 2019.
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Die Klägerin legte gegen die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen Widerspruch ein. Mit einem Abhilfebescheid vom 21. Februar 2019 hob das Integrationsamt den „Bescheid … vom 07.09.2018“ auf und versagte die Zustimmung zu den Kündigungen, da die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe. Hiergegen brachte die Beklagte eine Klage vor dem Verwaltungsgericht an, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht noch rechtshängig war.
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Mit ihrer rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom 10. September 2018 gewandt und behauptet, ein dienstliches Fehlverhalten liege nicht vor. Der Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung seien nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB und des § 174 Abs. 2 SGB IX sei nicht gewahrt.
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Die Klägerin hat beantragt
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1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 10. September 2018 aufgelöst ist;
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10. September 2018 mit sozialer Auslauffrist zum 31. März 2019 aufgelöst wird.
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Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.
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Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision hat Erfolg. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigungen vom 10. September 2018 aufgelöst worden ist, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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I. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Kündigungen seien schon deshalb nach § 134 BGB iVm. § 168 SGB IX nichtig, da der „Bescheid vom 7. September 2018“ auf den Widerspruch der Klägerin aufgehoben wurde, auch wenn dieser Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig, sondern mit einer verwaltungsgerichtlichen Klage von der Beklagten angefochten worden ist, erweist sich als rechtsfehlerhaft.
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1. Allerdings bedarf die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin durch die Beklagte gemäß §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts, da sie einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt ist. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des Teils 3 des SGB IX - mit Ausnahme des § 208 SGB IX (Zusatzurlaub) und des Kapitels 13 des SGB IX (Unentgeltliche Beförderung) - angewendet. Dazu zählen auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4 (§§ 168 bis 175 SGB IX; vgl. auch BAG 11. Juni 2020 - 2 AZR 442/19 - Rn. 18).
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2. Die Zustimmung des Integrationsamts zu den beabsichtigten Kündigungen der Beklagten gilt gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX als erteilt, da das Integrationsamt auf den entsprechenden Antrag der Beklagten vom 23. August 2018 bis zum Ablauf des 6. September 2018 keine Entscheidung getroffen hat.
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3. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts spielt es keine Rolle, dass das Integrationsamt auf den Widerspruch der Klägerin mit Abhilfebescheid vom 21. Februar 2019 den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung zu den außerordentlichen Kündigungen versagt hat, da der Abhilfebescheid noch nicht rechtskräftig ist.
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a) Liegt eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX (vgl. auch zum Folgenden BAG 11. Juni 2020 - 2 AZR 442/19 - Rn. 31).
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aa) Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten hat zur Folge, dass die Gerichte aller Rechtszweige an ihr Bestehen und ihren Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht die Kontrollkompetenz eingeräumt ist (BAG 8. Mai 2018 - 9 AZR 531/17 - Rn. 33; 14. September 2011 - 10 AZR 466/10 - Rn. 19). Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG bzw. § 39 SGB X. Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist daher grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl. BAG 8. Mai 2018 - 9 AZR 531/17 - aaO; BVerwG 30. Januar 2003 - 4 CN 14.01 - zu 1 der Gründe, BVerwGE 117, 351). Die Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungsakt nichtig ist (BAG 8. Mai 2018 - 9 AZR 531/17 - aaO; 14. September 2011 - 10 AZR 466/10 - aaO).
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bb) Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung, worauf im Übrigen schon das Schreiben des Integrationsamts vom 7. September 2018 hinweist. Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Für die Berechtigung des Arbeitgebers, auf der Grundlage des Zustimmungsbescheids die Kündigung zunächst zu erklären, ist es folglich ohne Bedeutung, ob die Zustimmung vom Widerspruchsausschuss oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die betreffende Entscheidung nicht bestands- bzw. rechtskräftig ist (vgl. BAG 23. Mai 2013 - 2 AZR 991/11 - Rn. 22 f., 25, BAGE 145, 199; APS/Vossen 6. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 37 und § 171 Rn. 11; ErfK/Rolfs 21. Aufl. SGB IX § 168 Rn. 14 und § 171 Rn. 4; LSSW/Löwisch 11. Aufl. Vor § 1 Rn. 213; KR/Gallner 12. Aufl. §§ 168 - 173 SGB IX Rn. 122 und 124, anders hingegen Rn. 123 am Ende). Wird die Zustimmungsentscheidung erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage bestands- oder rechtskräftig aufgehoben, steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen (BAG 23. Mai 2013 - 2 AZR 991/11 - Rn. 24, aaO).
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cc) Diese Grundsätze hat das Landesarbeitsgericht nicht beachtet. Es übersieht, dass sich die Beklagte nach § 171 Abs. 4 SGB IX bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetretenen Zustimmung des Integrationsamts auf diese berufen kann. Zu Unrecht hat sich das Landesarbeitsgericht zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf ein Urteil des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 25. November 1980 (- 6 AZR 210/80 - BAGE 34, 275) berufen. In diesem wird gerade im Einklang mit den vorstehend wiedergegebenen Rechtssätzen ausgeführt, dass (nur) der Arbeitnehmer nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage und einer nachfolgenden bestands- oder rechtskräftigen Aufhebung der Zustimmungsentscheidung die Möglichkeit zur Erhebung einer Restitutionsklage hat.
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b) Die Zustimmung des Integrationsamts zu den Kündigungen ist (bisher) nicht rechtskräftig aufgehoben. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte gegen den aufhebenden Abhilfebescheid Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben, die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch anhängig war.
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II. Die Sache ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO), da der Senat nicht selbst entscheiden kann.
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1. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht insbesondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vorliegt und der Personalrat sowie die Schwerbehindertenvertretung vor deren Ausspruch ordnungsgemäß beteiligt wurden, was es bisher - nach seiner Begründungslinie konsequent - unterlassen hat. Ferner hat es auch über die Kosten des Revisions- und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden.
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2. Dagegen bedarf die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB keiner Prüfung durch das Landesarbeitsgericht, sondern nur die des § 174 Abs. 5 SGB IX (BAG 11. Juni 2020 - 2 AZR 442/19 - Rn. 26, 32). Ebenso wenig besteht eine Prüfungskompetenz des Landesarbeitsgerichts, ob die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX eingehalten hat (BAG 11. Juni 2020 - 2 AZR 442/19 -Rn. 31).
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