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BSG 06.10.2022 - B 8 SO 14/22 B
BSG 06.10.2022 - B 8 SO 14/22 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten - Reichweite und Wirksamkeit
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Dortmund, 8. November 2018, Az: S 62 SO 199/17, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 16. September 2021, Az: L 9 SO 769/18, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. September 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Kläger begehren von der Beklagten die Zustimmung zur Anmietung einer Wohnung sowie die Übernahme höherer Unterkunftskosten.
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Die Kläger, die ergänzend neben einer Altersrente des Klägers Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) beziehen, haben am 7.11.2016 einen Mietvertrag über eine neue Wohnung geschlossen, der Beklagten dies am 25.11.2016 mitgeteilt und zugleich einen Antrag auf Zustimmung zur Anmietung sowie auf Übernahme von Umzugskosten (Bezugsdatum zum 1.1.2017) gestellt, der erfolglos blieb (Bescheid der Beklagten vom 1.12.2016; Widerspruchsbescheid des Hochsauerlandkreises vom 24.2.2017). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Dortmund vom 8.11.2018; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 16.9.2021). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die Klage sei unzulässig, soweit höhere Leistungen für Unterkunftsbedarfe geltend gemacht würden, da der angefochtene Bescheid hierüber keine Regelung treffe. Die Klage sei im Übrigen nach dem Umzug in die neue Wohnung unzulässig geworden.
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Mit ihrer Beschwerde machen die Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) geltend; ua sei das Urteil des LSG ohne mündliche Verhandlung ergangen, obwohl ein wirksames Einverständnis von ihnen nicht mehr vorgelegen habe; damit sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig. Die Beschwerde genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.
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Die Beschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 SGG festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Er führt gemäß § 160a Abs 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
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Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Nach § 124 Abs 2 SGG kann das Gericht unter der Voraussetzung, dass die Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt haben ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Der Sinn dieser Ausnahmeregelung besteht darin, die Gerichte zu entlasten und das Verfahren im Interesse der Beteiligten zu vereinfachen und zu beschleunigen (vgl BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist daher nur dann sinnvoll, wenn die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen lässt (vgl BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 41/09 B). Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 132/15 B - RdNr 10; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 mwN).
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Das von den Klägern schriftsätzlich zu Beginn des Berufungsverfahrens erklärte Einverständnis mit einer - in ihrem Sinne ausfallenden - Entscheidung des LSG ohne mündliche Verhandlung war nach ihrem im späteren Verlauf des Berufungsverfahrens erfolgten weiteren Vortrag, in Reaktion auf den ablehnenden Prozesskostenhilfe (PKH)-Beschluss des LSG, und nach ihren weiteren gestellten Anträgen verbraucht. Es hätte neu eingeholt werden müssen, wenn das LSG weiterhin ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden wollen.
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Die Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten, bezieht sich regelmäßig nur auf die nächste gerichtliche Entscheidung und steht unter dem Vorbehalt der im Wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage. Wenn eine solche Entscheidung nicht das abschließende Urteil ist, wird in der Regel die Einverständniserklärung durch jede gerichtliche Entscheidung verbraucht, welche die Entscheidung sachlich vorbereitet (vgl BSG vom 31.5.1978 - 12 BK 20/77 - SozR 1500 § 124 Nr 3; BSG vom 15.12.1994 - 4 RA 34/94 - SozSich 1995, 477; jeweils mwN). Dasselbe gilt bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage; auch sie entzieht dem bisherigen Verzicht die Grundlage; das Einverständnis verliert damit automatisch ohne weitere Erklärungen seine Wirksamkeit (vgl BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 9; BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4).
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Dahinstehen kann, ob vorliegend die wesentliche Änderung der Prozesslage bereits durch die ablehnende Entscheidung über den PKH-Antrag eingetreten ist. Jedenfalls der sich hieran anschließende weitere Vortrag der Kläger und die von ihnen gestellten weiteren Anträge, über die zu entscheiden das LSG die Notwendigkeit gesehen hat, haben zum Verbrauch des Einverständnisses geführt. Das LSG hat mit seiner Verfahrensweise auch aus der Sicht eines objektiven Prozessbeobachters deutlich gemacht, dass es vor der Entscheidung des Rechtsstreits in der Hauptsache noch weitere Schritte für erforderlich erachtet hat.
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Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, hätte das LSG im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen müssen. Die Beteiligten sind bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - RdNr 14).
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Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Zivilprozessordnung <ZPO>), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) verstoßen wird, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa BSG vom 11.4.2013 - B 2 U 359/12 B; BSG vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1; BSG vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - SozR 3-1500 § 124 Nr 4; BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 41/09 B - RdNr 10 f mwN). Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob auch die weiteren Verfahrensrügen durchgreifen. Es wäre in jedem Fall zu erwarten, dass ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen würde (vgl dazu BSG vom 23.5.2006 - B 13 RJ 253/05 B - und vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B), sodass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
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Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits unter Beachtung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.
Bieresborn Scholz Luik
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