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BSG 24.03.2015 - B 8 SO 73/14 B
BSG 24.03.2015 - B 8 SO 73/14 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Versäumung der Berufungsfrist - keine ordnungsgemäße Zustellung des Urteils des Sozialgerichts - Fehlerhaftigkeit der öffentlichen Zustellung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 63 Abs 2 S 1 SGG, § 185 Nr 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Landshut, 1. August 2012, Az: S 10 SO 14/12
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 4. August 2014, Az: L 8 SO 76/14, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. August 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die 1934 geborene Klägerin, die seit Januar 2014 - wie auch bis Februar 2008 - unter Betreuung steht, erhielt seit 2005 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Die gegen die Pfändung ihrer Sparguthaben durch vom Beklagten erwirkte Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse gerichtete Klage wies das Sozialgericht Landshut (SG) ab (Urteil nach mündlicher Verhandlung vom 1.8.2012). Die am 1.10.2012 an die Anschrift "G straße, L." verfügte Zustellung des Urteils war erfolglos; die Zustellungsurkunde kam mit dem Vermerk "Empfänger unbekannt verzogen" zurück. Auf Anfrage des SG teilte das Einwohnermeldeamt als alleinige Wohnung "G straße, L." mit. In der Akte wurde vermerkt, eine Rückfrage bei der Geschäftsstelle der 16. Kammer und den Sozialämtern des Landkreises bzw der Stadt Landshut habe ergeben, dass dort "ebenfalls keine aktuelle Anschrift bekannt" sei. Daraufhin erfolgte die öffentliche Zustellung des Urteils (Aushang vom 10.10. bis 13.11.2012).
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Am 3.4.2014 legte die Klägerin Berufung gegen das Urteil ein, von dem sie erst bei ihrer persönlichen Vorsprache beim SG am 3.4.2014 Kenntnis erlangt habe. Nach Anhörung der Klägerin wurde die Berufung als unzulässig verworfen (Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts <LSG> vom 4.8.2014). Die Berufung sei wegen Versäumens der Frist zu ihrer Einlegung unzulässig. Die öffentliche Zustellung sei ordnungsgemäß erfolgt; das Urteil habe mithin am 13.11.2012 als zugestellt gegolten. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. Auch auf Vorhalt der Fristversäumnis habe die Klägerin auf ihrer Rechtsansicht zum materiellen Recht insistiert und nur darauf hingewiesen, sie habe auf einen Brief des Gerichts gewartet und keine Veranlassung gesehen, selbst tätig zu werden.
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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG rügt die Klägerin einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Das LSG sei zu Unrecht von einer wirksamen öffentlichen Zustellung des Urteils ausgegangen und habe deshalb zu Unrecht ein Prozess- anstelle eines Sachurteils gefällt. Sie habe immer an der bezeichneten Anschrift gewohnt. Zudem sei sie bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des SG prozessunfähig gewesen, sodass an sie schon aus diesem Grund nicht hätte wirksam zugestellt werden können.
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II. Die Beschwerde der Klägerin, eingelegt durch den von ihrer Betreuerin wirksam bevollmächtigten Rechtsanwalt, ist zulässig. Die Zulässigkeit scheitert nicht daran, dass der Beschluss des LSG ihr noch nicht wirksam zugestellt und damit ihr gegenüber nicht wirksam ist. Dass die Zustellung der LSG-Entscheidung an die zu diesem Zeitpunkt bereits (wieder) unter Betreuung stehende Klägerin selbst erfolgte (§ 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 170 Abs 1 Zivilprozessordnung <ZPO>), führt schon deshalb nicht zu deren Unwirksamkeit, weil das LSG weder davon noch von einer eventuellen Prozessunfähigkeit Kenntnis hatte (vgl dazu BGHZ 104, 109 mwN). Ob anderenfalls das Beschwerdeverfahren in entsprechender Anwendung des § 114 Abs 2 SGG auszusetzen wäre (vgl dazu BFH, Beschluss vom 9.10.2013 - V B 54/13), bedarf keiner Entscheidung.
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Die Beschwerde genügt auch hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Da der gerügte Verfahrensfehler auch vorliegt, hat der Senat den angefochtenen Beschluss gemäß § 160a Abs 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Ob sich die Entscheidung des LSG aus anderen Gründen als richtig darstellt, was dem Senat unter Umständen eine Entscheidung in der Sache hätte ermöglichen können (dazu nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 19e mwN), kann nicht beurteilt werden, weil für eine Entscheidung in der Sache die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) fehlen.
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Die Voraussetzungen für die öffentliche Zustellung des Urteils des SG durch dieses lagen nicht vor. Die Klägerin hat deshalb am 3.4.2014 fristgerecht (§ 151 SGG) Berufung eingelegt, und das LSG hat zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen. Nach § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 185 Nr 1 ZPO kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung (nur) erfolgen, wenn der Aufenthaltsort einer Person unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Unbekannt ist der Aufenthalt einer Person, wenn nicht nur das Gericht, sondern auch die Allgemeinheit den Aufenthalt des Zustellungsadressaten nicht kennt (vgl nur BGH, Urteil vom 4.7.2012 - XII ZR 94/10 -, NJW 2012, 3582 ff; BGHZ 149, 311 ff). Das traf für den Aufenthalt der Klägerin nicht zu, die in der gesamten Zeit unter derselben Adresse gewohnt hat. Insoweit war auch die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung nur kurze Zeit vorher möglich.
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Demgemäß war bei allen angefragten Stellen die Anschrift "G straße, L." bekannt. Abgesehen davon, dass dies das SG hätte erkennen können (zu dieser Voraussetzung für die Wirksamkeit einer öffentlichen Zustellung trotz fehlender gesetzlicher Voraussetzungen für eine solche BGHZ 149, 311 ff), hätte es vor einer öffentlichen Zustellung ohnedies weitere Nachforschungen anstellen und die Zustellung des Urteils an die benannte Anschrift ein weiteres Mal versuchen müssen, ggf auch, weil die letzte bekannte Anschrift der Klägerin am Sitz des Gerichts war, durch einen Boten (vgl zu den Anforderungen an die Ermittlung des Aufenthalts auch Zöller, ZPO, 30. Aufl 2014, § 185 RdNr 2 mwN). Die öffentliche Zustellung war somit fehlerhaft und hat den Lauf der Berufungsfrist nicht ausgelöst (vgl BGH, Urteil vom 6.10.2006 - V ZR 282/05).
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Ob die fehlerhafte Zustellung am 3.4.2014 geheilt wurde (§ 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 189 ZPO), kann dahin stehen; nach Aktenlage kann nicht nachvollzogen werden, ob die Klägerin das maßgebliche Dokument ausgehändigt erhalten hat. Gleichwohl hätte die Klägerin gegen die vom SG verkündete Entscheidung Berufung einlegen können (vgl dazu allgemein Leitherer, aaO, § 143 RdNr 2b); die Berufungsfrist wäre in diesem Fall eingehalten, weil eine Frist in diesem Fall noch gar nicht zu laufen begonnen hätte.
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Ob die angefochtene Entscheidung auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG beruht, weil die Klägerin jedenfalls im Berufungsverfahren, ggf aber auch schon im Klageverfahren prozessunfähig und daher nicht wirksam vertreten war (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO), kann deshalb dahin stehen.
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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