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BSG 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B
BSG 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren - Verbot des widersprüchlichen Verhaltens - Aussage des ersten Berichterstatters - keine Bindungswirkung für den gesamten Spruchkörper - irrtümliche Berufungsrücknahme
Normen
§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 6 Abs 1 S 1 MRK, § 112 Abs 1 S 1 SGG, § 112 Abs 2 S 2 SGG, § 156 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG München, 15. September 2008, Az: S 20 U 270/06, Gerichtsbescheid
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 24. August 2010, Az: L 3 U 31/10, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. August 2010 wird als unzulässig verworfen.
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Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) ist als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Der Kläger hat zur Begründung seiner Beschwerde keinen der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe (grundsätzliche Bedeutung, Abweichung oder Verfahrensmangel) gemäß § 160a Abs 2 Satz 3 SGG schlüssig dargelegt oder bezeichnet.
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Der Kläger stützt seine Beschwerde auf den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
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Hinsichtlich des gerügten Verstoßes gegen die Amtsermittlungspflicht des LSG nach § 103 SGG mangelt es an der allein zu prüfenden Bezeichnung eines Beweisantrags, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung des LSG aufrechterhalten hat. Denn nach dem Sinn und Zweck des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist das Übergehen eines Beweisantrags nur dann ein Verfahrensmangel, wenn das LSG vor seiner Entscheidung darauf hingewiesen wurde, dass der Beteiligte die Amtsermittlungspflicht des Gerichts (§ 103 SGG) noch nicht als erfüllt ansieht (vgl ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 67; SozR 3-1500 § 160 Nr 9, 20, 31 sowie BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX, RdNr 130). Dem Beweisantrag soll eine Warnfunktion zukommen, die er nicht erfüllt, wenn er zwar in einem früheren Verfahrensstadium zB schriftsätzlich gestellt wurde, im Entscheidungszeitpunkt selbst aber nicht mehr erkennbar weiterverfolgt wird.
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Die Rüge, das LSG habe das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren verletzt, ist nicht hinreichend dargelegt. Der aus Art 2 Abs 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl Art 20 Abs 3 GG) sowie Art 6 Abs 1 Satz 1 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) abgeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren ist nur verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG SozR 3-1500 § 161 Nr 5; BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 1, SozR 3-1500 § 112 Nr 2; BSG Beschluss vom 25.6.2002 - B 11 AL 21/02 B).
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Auf einen Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens könnte der Vortrag des Klägers abzielen, nach der irrtümlichen Rücknahme seiner Berufung habe er sich mit dem damaligen Berichterstatter in Verbindung gesetzt und auf dessen Veranlassung sei das Verfahren unter einem neuen Aktenzeichen fortgesetzt worden. Außerdem habe dieser Berichterstatter um Vorlage der Berufungsbegründung gebeten und mitgeteilt, dass ein Gutachten gemäß § 106 SGG eingeholt werden solle. Dann habe der Berichterstatter gewechselt und der neue Berichterstatter habe die Auffassung vertreten, dass die Rücknahme der Berufung den Verlust des Rechtsmittels bedeute.
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Selbst wenn das vom Kläger vorgetragene Verhalten des ersten Berichterstatters, insbesondere die Mitteilung, es solle ein Gutachten eingeholt werden, so gedeutet werden könnte, als ob dieser in der Sache habe ermitteln und entscheiden wollen, so hat diese keine Bindungswirkung für den Senat. Denn auch die Äußerung des Vorsitzenden eines Senats in der letzten mündlichen Verhandlung im Rahmen der Verhandlungsführung (§ 112 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 2 SGG), die ein Beteiligter so versteht, dass die spätere Senatsentscheidung zu seinen Gunsten ausfallen werde, ist nur eine Einzelmeinung und kann für die (nachfolgende) Entscheidung des "Gerichts", dh des gesamten Spruchkörpers, nicht bindend (BSG Beschluss vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2) sein.
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Es ist auch nicht dargetan, weshalb die Vergabe eines neuen Aktenzeichens und die Bitte um eine Berufungsbegründung in einem Streit um die Wirksamkeit oder um Irrtümer bei einer Berufungsrücknahme ein Verfahrensfehler sein könnte, obwohl es sich um das übliche Verfahren handelt (vgl Breitkreuz/Fichte, SGG, 2009, § 156 RdNr 13; Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 157 RdNr 6).
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Aus dem Vorbringen des Klägers folgt auch kein Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>, § 62 SGG) soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f).
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Die Voraussetzungen keiner dieser beiden Alternativen sind dem Vorbringen des Klägers zu entnehmen. Weder zeigt er auf, welches konkrete entscheidungserhebliche Vorbringen seinerseits vom LSG nicht in dessen Erwägungen miteinbezogen wurde, noch dass er durch die Entscheidung des LSG überrascht wurde, da der neue Berichterstatter seine Auffassung ihm - dem Kläger - mitgeteilt hatte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
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