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BVerfG 19.05.2020 - 1 BvR 672/19, 1 BvR 797/19, 1 BvR 2832/19
BVerfG 19.05.2020 - 1 BvR 672/19, 1 BvR 797/19, 1 BvR 2832/19 - Nichtannahmebeschluss: unmittelbar gegen § 4a Abs 2 S 2 TVG idF vom 18.12.2018 gerichtete Verfassungsbeschwerde unzulässig - vorrangige Anrufung der Fachgerichte geboten
Normen
Art 9 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, § 4a Abs 2 S 2 TVG vom 18.12.2018
Tenor
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Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
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Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Mit Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. - BVerfGE 146, 71 hat der Erste Senat das Tarifeinheitsgesetz insoweit für verfassungswidrig gehalten, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Daraufhin wurde zum 1. Januar 2019 eine neue Regelung zur Tarifkollision in das Tarifvertragsgesetz (TVG) eingefügt, gegen die sich die vorliegenden Rechtssatzverfassungsbeschwerden wenden. Die Beschwerdeführenden rügen insbesondere eine Verletzung der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Grundsätzliche Bedeutung kommt den Verfassungsbeschwerden nicht zu. Ihre Annahmen sind auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführenden angezeigt, da sie unzulässig sind.
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1. Es bestehen bereits Zweifel, ob die Beschwerdeführenden in einer den Anforderungen nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen sind.
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a) Eine Verfassungsbeschwerde ist, insbesondere, wenn sie sich, wie vorliegend, unmittelbar gegen ein Gesetz richtet, nur zulässig, wenn Beschwerdeführende durch den angegriffenen Hoheitsakt selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind (vgl. BVerfGE 1, 97 101 f.>; 102, 197 206 f.>; 150, 309 324 Rn. 34>; stRspr). Das kann der Fall sein, wenn der neuen Rechtslage schon Vorwirkungen zugeschrieben werden können, weil sich Beschwerdeführende etwa auf sie einstellen und später nur noch schwer korrigierbare Dispositionen treffen müssen (vgl. BVerfGE 123, 186 226 f.>) oder ihr Verhalten in einem grundrechtssensiblen Bereich an die neue Regelung anpassen müssen (vgl. BVerfGE 97, 157 165 f.>; 146, 71 108 Rn. 111>).
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b) Die Beschwerdeführenden verweisen im Grunde darauf, dass bereits im Urteil zur Tarifeinheit (BVerfGE 146, 71 107 f. Rn. 109 ff.>) die unmittelbare Betroffenheit festgestellt worden war und dies auch hier gelte. Das berücksichtigt aber die angegriffene Änderung des § 4a TVG nicht. Es ist zumindest fraglich, ob die neue Regelung tatsächlich geeignet ist, Gewerkschaften, die in einem Tarifbereich voraussichtlich weniger Mitglieder organisieren als andere, aus dem Tarifgeschehen insgesamt zu verdrängen. Die hier angegriffene Regelung in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG führt, anders als die vorhergehende, vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Tarifeinheit (BVerfGE 146, 71) zum Teil beanstandete Regelung dazu, dass der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht immer und voraussetzungslos verdrängt wird. Vielmehr gilt dies nun nur, soweit die Interessen der Arbeitnehmergruppe der Minderheitsgewerkschaft beim Zustandekommen des von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags keine "ernsthafte und wirksame Berücksichtigung" gefunden haben. Gelingt es nicht, die Interessen der Arbeitnehmergruppen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam zu berücksichtigen, wird ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt.
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Die unmittelbare Betroffenheit durch die neue gesetzliche Regelung erscheint auch zweifelhaft, soweit die Verfassungsbeschwerden darauf verweisen, die angegriffene Regelung berge für sie arbeitskampfrechtliche Risiken. Im Urteil zum Tarifeinheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass sich § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nicht auf den Arbeitskampf auswirke (vgl. BVerfGE 146, 71 117 f. Rn. 138 ff.>). Anhaltspunkte, warum dies doch anders sein sollte, sind derzeit nicht ersichtlich.
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2. Zweifel bestehen auch, ob die Verfassungsbeschwerden hinsichtlich der Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten hinreichend substantiiert sind.
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Das gilt insbesondere für die - von zwei Verfassungsbeschwerden vorgebrachte - Rüge zum Gesetzgebungsverfahren. Sie wenden sich dagegen, dass die Neuregelung des Tarifvertragsgesetzes Teil eines Artikelgesetzes ist, dessen Bezeichnung den Inhalt nicht zu erkennen gibt. Zudem ist die Regelung erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens von der Regierung gefertigt, aber von Fraktionen eingebracht worden; die Rügen insinuieren, dass damit gezielt das Verfahren und die Debatte verkürzt worden wären, führen das aber verfassungsrechtlich nicht weiter aus. Auch die Rüge, dass die Anhörung im Ausschuss offensichtlich - und erneut - einseitig besetzt wurde, was in der Fachliteratur teils - mit einer Analogie zu Anhörungen in Verwaltungsverfahren - als Willkür angegriffen wird, wird nicht weiter substantiiert. Ob all dies hinreicht, um an dem Grundsatz zu zweifeln, dass der Gesetzgeber im Regelfall ein Gesetz schuldet, nicht aber eine bestimmte vorgängige Auseinandersetzung, solange die Maßgaben der Art. 76 ff. GG eingehalten sind, wird nicht weiter ausgeführt (vgl. BVerfGE 132, 134 162 f. Rn. 70>; aber auch BVerfGE 139, 64 112 ff. Rn. 94 ff.>).
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Weiter argumentieren die Beschwerdeführenden, sie seien in ihrem Recht aus Art. 9 Abs. 3 GG auch verletzt, weil sie zwingend die Interessen von Nicht-Mitgliedern zu berücksichtigen hätten. Sie legen aber nicht dar, inwieweit tatsächlich ein Zwang bewirkt wird. Wenn Interessen der Minderheitsgewerkschaft nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden, sind nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG auch die Rechtsnormen dieses Tarifvertrages anwendbar. Inwieweit dies dazu zwingt, für andere mit zu verhandeln, erschließt sich so nicht. Zwar beinhaltet das Gesetz eine solidarische Erwartung, die über die Interessenvertretung der Mitglieder hinausgeht. Es ist aber nicht dargelegt, inwieweit damit die beschwerdeführenden Gewerkschaften in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt sind.
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3. Letztlich kann aber offenbleiben, ob den Begründungsanforderungen aus § 23 Abs. 1, § 92 BVerfGG genügt ist. Denn die Beschwerdeführenden sind jedenfalls zunächst auf den Rechtsweg zu den Fachgerichten zu verweisen.
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a) Auch wenn es unmittelbar gegen Parlamentsgesetze keinen fachgerichtlichen Rechtsschutz gibt, folgt aus dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, dass vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz die Fachgerichte befasst werden müssen. Grundsätzlich muss der Vollzug des Gesetzes abgewartet oder ein Vollzugsakt herbeigeführt werden, um hiergegen dann den fachgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten (vgl. z.B. BVerfGE 74, 69 74 f.>). Damit soll insbesondere erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen trifft (vgl. BVerfGE 79, 1 20>; 97, 157 165>; 102, 197 207>; 150, 309 326 Rn. 42>). Bei der Rechtsanwendung durch die sachnäheren Fachgerichte können aufgrund ihres besonderen Sachverstands und der Nähe zum konkreten Fall auch für die verfassungsrechtliche Prüfung erhebliche Tatsachen zutage gefördert werden (vgl. BVerfGE 56, 54 69>; 79, 1 20>).
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Diese Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte besteht ausnahmsweise nur dann nicht, wenn die angegriffene Regelung die Beschwerdeführenden zu Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können (vgl. BVerfGE 43, 291 387>; 60, 360 372>), oder wenn die Anrufung der Fachgerichte nicht zumutbar ist, etwa weil das offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 55, 154 157>; 65, 1 38>; 102, 197 208>), oder wenn ein Sachverhalt allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die das Bundesverfassungsgericht letztlich zu beantworten hat, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären (vgl. BVerfGE 123, 148 172 f.>; 150, 309 327 Rn. 44>).
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b) Hier wurden die Fachgerichte vorher nicht befasst und es liegt kein Ausnahmefall vor, der die Pflicht zu ihrer Anrufung ausnahmsweise entfallen lassen würde.
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Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass es von vornherein sinn- und aussichtlos wäre, zunächst den Rechtsweg zu beschreiten. Die Rechtslage unterscheidet sich mit der Neuregelung durchaus von der Situation, die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz zugrunde lag (oben Rn. 5). Insbesondere ist nicht dargelegt, dass die Beschwerdeführenden überhaupt keine Tarifverträge schließen und daher auch keinen Antrag über die Tarifkollision nach § 99 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) stellen könnten. Vielmehr haben sie die Verdrängungswirkung von § 4a TVG abbedungen. Verzichten sie aber selbst darauf, die Fachgerichte anzurufen, lässt das die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entfallen.
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Werden die Fachgerichte demgegenüber angerufen, müssen diese klären, ob eine Mehrheitsgewerkschaft die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, die erst zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können. Nach den Gesetzesmaterialien hat der Gesetzgeber einen "prozeduralen Ansatz" gewählt (vgl. BTDrucks 19/6146, S. 31) und die konkrete Ausgestaltung den Beteiligten überlassen; in der Literatur wird auf verschiedene Möglichkeiten der Interessenberücksichtigung hingewiesen, vom Mindestorganisationsgrad über Vorgaben der Satzung für die Willensbildung der Mehrheitsgewerkschaft bis zum Sitz in Tarif- und Verhandlungskommissionen oder einem Veto-Recht (vgl. Klein, DB 2019, S. 545 548 f.>; Sura, ZPR 2018, S. 171 172 f.>; von Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, S. 1149 1156>). Was hier den rechtlichen Anforderungen genügt, ist damit jeweils konkret und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG (dazu BVerfGE 146, 71 114 ff. Rn. 130 ff., 129 Rn. 168, 135 ff. Rn. 186 ff.>) zu klären. Dabei kann sich der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gerade nicht auf eine "Richtigkeitsvermutung" (BTDrucks 19/6146, S. 31; zum Grundsatz BVerfGE 146, 71 142 f. Rn. 204>) zugunsten aller unter seinen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten stützen, sondern die Gerichte haben gerade zu klären, ob alle Interessen berücksichtigt worden sind. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stößt (dazu Bepler, in: jurisPR-ArbR 51/2018 Anm. 1; Klein, DB 2019, S. 545 550 ff>; weitergehend Drescher, DÖD 2019, S. 109; Löwisch, RdA 2019, S. 169; zurückhaltend Giesen/Rixen, NZA 2019, S. 577 582>; Hromadka, NZA 2019, S. 215), muss sich zunächst "vor Ort" zeigen, bevor das Bundesverfassungsgerichts die Frage beantworten kann, ob das noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
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Ungeachtet der Frage, inwiefern der "Darlegungs- und Beweislast" aufgrund des (eingeschränkten) Untersuchungsgrundsatzes im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren überhaupt Bedeutung zukommen kann, wäre auch über ihre Verteilung zunächst durch die Fachgerichte zu befinden. Diesen kommt die Aufgabe zu, abgestuft im Lichte der konkreten Sachverhalte auch mit Blick auf die Zugänglichkeit von Informationen für die Beteiligten (vgl. Bepler, in: jurisPR-ArbR 51/2018 Anm. 1 unter B.I.; Giesen/Rixen, NZA 2019, S. 577 580>; Klein, DB 2019, S. 545 549>) und unter Beachtung der grundrechtlichen Wertungen zu bestimmen, welche Pflichten die Beteiligten in den maßgeblichen Verfahren treffen.
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III.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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