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BVerfG 09.04.2020 - 1 BvR 802/20
BVerfG 09.04.2020 - 1 BvR 802/20 - Erfolgloser Antrag auf Erlass einer eA gegen infektionsschutzrechtliche Ausgangsbeschränkungen gem § 4 Abs 2, Abs 3, § 5 Abs 9 BayIfSMV (juris: CoronaVV BY 2) - Folgenabwägung
Normen
§ 32 Abs 1 BVerfGG, § 4 Abs 2 CoronaVV BY 2, § 4 Abs 3 CoronaVV BY 2, § 5 Nr 9 CoronaVV BY 2, § 28 Abs 1 S 1 IfSG vom 27.03.2020, § 32 IfSG
Tenor
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
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I.
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Die Beschwerdeführer wenden sich gegen Regelungen einer infektionsschutzrechtlichen Rechtsverordnung des Freistaats Bayern.
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1. Der Freistaat Bayern erließ mit Bekanntmachung vom 20. März 2020 eine Allgemeinverfügung, nach der jeder zu einer weitgehenden Reduktion der Kontakte zu anderen Menschen angehalten und das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt ist (BayMBl. 2020 Nr. 152). Auf Antrag der Beschwerdeführerin zu 2 ordnete das Verwaltungsgericht München die aufschiebende Wirkung ihrer hiergegen gerichteten Anfechtungsklage an, während über einen entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers zu 1 noch nicht entschieden ist. Der Freistaat Bayern überführte die Vorgaben daraufhin in die Bayerische Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie (BayMBl. 2020 Nr. 130). Einen Antrag der Beschwerdeführer nach § 47 Abs. 6 VwGO auf vorläufige Außervollzugsetzung dieser Verordnung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ab (BayVGH, Beschluss vom 30. März 2020 - 20 NE 20.632 -, juris). Eine gegen die Entscheidung gerichtete Anhörungsrüge blieb erfolglos.
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2. Der Freistaat Bayern überführte diese Verordnung wiederum in die Bayerische Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 158, zuletzt geändert durch Verordnung vom 31. März 2020, BayMBl. Nr. 162). Die Verordnung wurde auf § 32 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl I S. 1045) gestützt, zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. März 2020 (BGBl I S. 587). Nach dem angegriffenen § 4 Abs. 2 BayIfSMV ist das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Der ebenfalls angegriffene § 4 Abs. 3 BayIfSMV sieht eine Reihe von Tätigkeiten vor, bei denen es sich insbesondere um triftige Gründe handele. Dazu gehören nach § 4 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV Sport oder Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung. Nach dem angegriffenen § 5 Nr. 9 BayIfSMV handelt ordnungswidrig im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 4 Abs. 2 BayIfSMV die Wohnung ohne triftigen Grund verlässt. Die Verordnung tritt nach ihrem § 7 Abs. 1 mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft.
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3. Mit ihrer am 8. April 2020 erhobenen, mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Der Eingriff sei nicht von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in der Fassung vom 27. März 2020 gedeckt. Selbst wenn man dies annähme, sei diese Vorschrift gemessen an Art. 104 Abs. 1 GG nicht hinreichend bestimmt und genüge nicht dem Wesentlichkeitsvorbehalt. Ferner würden die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG verfehlt. Darüber hinaus seien die angegriffenen Vorschriften nicht verhältnismäßig. Die Maßnahme sei unter anderem nicht erforderlich, da der Mehrwert von Ausgangsbeschränkungen gegenüber anderen, auf soziale Distanz zielenden Regelungen nicht dargelegt sei. Die Vorschriften seien auch nicht angemessen. Der Beschwerdeführer zu 1 sei außerhalb seiner Arbeitsstätte ohne physische reale Sozialkontakte und dürfe sich nicht einmal mit einem Freund zum Spazierengehen treffen. Nach über zwei Wochen sei jedenfalls das Verbot, mit einem anderen Menschen außerhalb der eigenen Wohnung spazieren zu gehen und sich auf einer Parkbank niederzulassen, für alleinwohnende Menschen unzumutbar. In Bezug auf fachgerichtlichen Rechtsschutz führen die Beschwerdeführer aus, im Falle ständiger Nachbesserungen sei eine erneute Beschreitung des Rechtswegs nicht veranlasst, was auch für den erst nachträglich eingefügten § 5 Nr. 9 BayIfSMV gelte.
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Bei Beurteilung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei eine Folgenabwägung nicht vorzunehmen, sondern auf die Erfolgsaussichten der Hauptsache abzustellen, da der Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund der Befristung der Maßnahme die Hauptsache vorwegnehme. Die Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile geboten, da die Opfergrenze der Beschwerdeführer überschritten sei. Die beispiellos intensiven und die gesamte bayerische Bevölkerung betreffenden Grundrechtsverletzungen könnten nicht rückgängig gemacht werden. Jeglicher Protest nach Art. 8 GG sei ausgeschlossen. Millionen Menschen seien massiv in ihrer Fortbewegungsfreiheit eingeschränkt und könnten sich im öffentlichen Raum nur mit triftigem Grund bewegen. Auch sei zu berücksichtigen, dass mit dem Erlass weiterer Maßnahmen zu rechnen sei. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei dringend geboten, da fachgerichtlicher Rechtsschutz nicht rechtzeitig zu erlangen und die Dringlichkeit durch die schweren Nachteile indiziert sei.
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Selbst bei einer Folgenabwägung würde diese im Sinne der Beschwerdeführer ausfallen. Stellte sich nachträglich die Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Verbots heraus, hätten die Normunterworfenen für weniger als zwei Wochen ihre Wohnung auch ohne triftigen Grund verlassen können, wobei es auch zu einer vermehrten Ansteckung kommen könne. Da die anderen Regelungen für ausreichend Schutz sorgten, sei dieses Risiko jedoch äußerst überschaubar. Stellte sich dagegen im Nachhinein die Verfassungswidrigkeit heraus, gäbe es womöglich reduzierte Fallzahlen, die Normadressaten hätten ihre Wohnung aber für mehr als zwei Wochen nur mit triftigem Grund verlassen können, was einen irreversiblen, massiven Grundrechtseingriff für ganz Bayern bedeute und etwa für psychisch Kranke und mit Blick auf häusliche Gewalt Gefahren berge.
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II.
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Die Voraussetzungen zum Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Den Beschwerdeführern kann insbesondere nicht entgegengehalten werden, nach der Überführung der zunächst geltenden Bayerischen Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie in eine neue Rechtsverordnung nicht erneut fachgerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch genommen zu haben.
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2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch unbegründet.
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a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang der Verfassungsbeschwerde sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 6 m.w.N.).
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b) aa) Die Verfassungsbeschwerde ist zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Sie bedarf eingehenderer Prüfung, was im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich ist. Auch insoweit ist den Beschwerdeführern derzeit nicht entgegenzuhalten, dass sie den Rechtsweg nicht erschöpft hätten. Vorherigen Rechtsschutz in der Hauptsache konnten sie wegen der Kürze der Zeit nicht erlangen.
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bb) Daher ist über den Antrag auf einstweilige Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist allerdings wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Bei der Folgenabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Beschwerdeführer (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 8 m.w.N.).
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Danach ist die begehrte einstweilige Anordnung nicht zu erlassen. Die Beschwerdeführer legen zwar nachvollziehbar dar, dass die angegriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ihre grundrechtlich geschützten Freiheiten verkürzen, weil jedes Verlassen der eigenen Wohnung Rechtfertigungsdruck auslöst und die persönliche soziale Interaktion mit Personen außerhalb des eigenen Hausstands stark eingeschränkt ist. Auch ist nicht zu verkennen, dass die angegriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie die Grundrechte der Menschen, die sich in Bayern aufhalten, erheblich beschränken. Dies gilt in besonderem Maße für alleinstehende Personen. Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg, wären diese Einschränkung mit ihren erheblichen und voraussichtlich teilweise auch irreversiblen Folgen zu Unrecht verfügt und etwaige Verstöße gegen sie auch zu Unrecht geahndet worden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die angegriffenen Regelungen von vornherein befristet sind und zahlreiche, nicht abschließend gefasste Ausnahmen vorsehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2020 - 1 BvR 755/20 -, Rn. 11 m.w.N.).
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Erginge demgegenüber die beantragte einstweilige Anordnung und hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, würden sich voraussichtlich sehr viele Menschen so verhalten, wie es mit den angegriffenen Regelungen unterbunden werden soll, obwohl diese Verhaltensbeschränkungen mit der Verfassung vereinbar wären. So dürften und würden dann Menschen ihre Wohnung auch ohne triftige Gründe wieder verlassen. Mit Blick darauf, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in der inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 4 Abs. 1 BayIfSMV zu einer weitgehenden Kontaktreduktion keine vollziehbare Regelung erblickt hat (BayVGH, Beschluss vom 30. März 2020 - 20 NE 20.632 -, juris, Rn. 49 ff.), würde auch der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen häufiger stattfinden. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach derzeitigen Erkenntnissen (ausführlich dazu BayVerfGH, Entscheidung vom 26. März 2020 - 6-VII-20 -, Rn. 16 f.) erheblich erhöhen.
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Bei Gegenüberstellung dieser Folgen muss das Interesse an der begehrten Außerkraftsetzung der angegriffenen Verordnung zurücktreten. Angesichts der von vornherein begrenzten Geltungsdauer der Verordnung erscheint nicht unzumutbar, die hier geltend gemachten schwerwiegenden Interessen einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG ebenfalls verpflichtet ist. Maßgeblich sind die Befristung der angegriffenen Regelungen und die zahlreichen, nicht abschließend gefassten Ausnahmen von den vorgesehenen Maßnahmen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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