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BVerfG 17.09.2012 - 1 BvR 1786/12
BVerfG 17.09.2012 - 1 BvR 1786/12 - Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung: Anforderungen an Darlegung eines schweren, irreparablen Nachteils bzgl fachgerichtlicher Entscheidungen in vermögensrechtlichen Streitigkeiten - hier: Verpflichtung einer Aktiengesellschaft zur Leistung einer baren Zuzahlung bzgl im Streubesitz befindlicher Aktien - Hoher Aufwand für eventuelle Rückforderung der Zuzahlung kein erheblicher Nachteil
Normen
§ 32 Abs 1 BVerfGG, § 90 BVerfGG, § 11 SpruchG, § 15 UmwG 1995
Vorinstanz
vorgehend OLG München, 26. Juli 2012, Az: 31 Wx 250/11, Beschluss
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Entscheidung in einem Spruchverfahren aus Anlass der Verschmelzung der H. AG auf die Beschwerdeführerin. Das Oberlandesgericht setzte eine bare Zuzahlung von 0,79 € je Aktie der H. AG fest. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen diesen Beschluss und beantragt den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der sie dessen Wirkung ausgesetzt wissen will. Sie macht geltend, ohne den Erlass der beantragten Anordnung entstünden ihr irreversible Nachteile. Der angegriffene Beschluss verpflichte sie, auf die 1.840.785 Aktien der H. AG insgesamt 1.454.220,15 € nebst Zinsen zu zahlen. Erweise sich die Verfassungsbeschwerde als zulässig und begründet, stehe ihr zwar ein Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Nachzahlungen zu. Während die Nachzahlung mehr oder weniger automatisch über die Depotbanken erfolge, müsse sie den Rückforderungsanspruch gegenüber jedem einzelnen Aktionär durchsetzen. Anzahl und Identität der H.-Aktionäre seien ihr nicht bekannt. Die Aktien hätten sich in Streubesitz befunden, so dass die Anzahl der Minderheitsaktionäre unüberschaubar sei. Selbst wenn ihr alle Aktionäre bekannt wären, würde allein das für die Versendung der Rückforderungsschreiben zu zahlende Porto einen Großteil der Rückforderungssumme aufzehren. Interessen Dritter stünden nicht entgegen. Sollte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben, erhielten die Aktionäre die Nachzahlung mit 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz verzinst; die Geltendmachung eines weiteren Schadens sei nicht ausgeschlossen.
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II.
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Der Antrag hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 111, 147 152 f.>; stRspr). Ist die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, sind vielmehr die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 96, 120 128 f.>; stRspr).
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Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 111>; 93, 181 186>; stRspr). Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts weittragende Folgen haben können (vgl. BVerfGE 3, 41 44>; stRspr), sondern auch im Hinblick auf die besondere Funktion und Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG ist - anders als der von Art. 19 Abs. 4 GG geprägte vorläufige Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren - nicht darauf angelegt, möglichst lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz zu bieten (vgl. BVerfGE 94, 166 216 f.>). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht kommt danach nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen in Betracht als die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Fachgerichte. Insbesondere sind, wenn eine einstweilige Anordnung zur Abwendung eines geltend gemachten schweren Nachteils erstrebt wird, erheblich strengere Anforderungen an die Schwere des Nachteils zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. August 2010 - 2 BvQ 56/10 -, juris, Rn. 2; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. September 2010 - 1 BvR 2297/10 -, juris, Rn. 4).
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2. Es kann dahingestellt bleiben, ob die bereits eingelegte Verfassungsbeschwerde zum derzeitigen Zeitpunkt, der für die Entscheidung über die einstweilige Anordnung maßgeblich ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2001 - 1 BvQ 35/01 -, NJW 2002, S. 356), unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung schon deshalb abzulehnen, weil die Beschwerdeführerin keine hinreichend schweren Nachteile dargelegt hat, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung dringend geboten erscheinen lassen würden. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf ihr entstehende irreversible Nachteile, die nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung vermieden werden könnten, während die Interessen der nachzahlungsberechtigten Aktionäre der H. AG hinreichend dadurch gesichert seien, dass die Nachzahlungssumme verzinst werde und sie die Möglichkeit hätten, einen weiteren Schaden geltend zu machen. Es kann damit davon ausgegangen werden, dass vornehmlich vermögensrechtliche Interessen der Beschwerdeführerin betroffen sind. Anhaltspunkte für ein über finanzielle Interessen hinausgehendes gewichtiges Anliegen hat die Beschwerdeführerin nicht vorgetragen.
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Es wird nicht verkannt, dass die etwaige Rückforderung barer Zuzahlungen von Aktionären, deren Aktien sich auch in Streubesitz befinden, mit erheblichem Aufwand für die Beschwerdeführerin verbunden ist. Indes entspricht ihre Lage derjenigen, in der sich jeder Beschwerdeführer befindet, der eine ihn - jedenfalls mittelbar - zu einer Leistung verpflichtende fachgerichtliche Entscheidung in einem vermögensrechtlichen Streit für verfassungswidrig hält und ihre Aufhebung im Wege der Verfassungsbeschwerde zu erreichen versucht. Zwar ist die Situation der Beschwerdeführerin hier durch die Vielzahl der Anspruchsberechtigten und die geringe Höhe des einzelnen Forderungsbetrags geprägt. Folgte man indes der Argumentation der Beschwerdeführerin, käme der mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz verbundenen Verfassungsbeschwerde gegen eine zu einer Nachzahlung verpflichtende Entscheidung in einem Spruchverfahren faktisch ohne weiteres eine aufschiebende Wirkung zu, die das Gesetz und das fachrechtliche Rechtsschutzsystem nicht vorsehen. Die von der Beschwerdeführerin angeführten Aspekte, die einen irreversiblen schweren Nachteil begründen sollen, treffen so oder ähnlich auf jede ein Spruchverfahren mit einem Nachzahlungsanspruch abschließende Entscheidung zu. Die Rechtskraft der fachgerichtlichen Entscheidung wäre im Ergebnis aufgeschoben. Daraus folgt, dass der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige fachgerichtliche Entscheidungen in vermögensrechtlichen Streitigkeiten nicht ohne weiteres über die Annahme eines schweren Nachteils dazu führen kann, den Spruch im Wege verfassungsrechtlichen Eilrechtsschutzes zu suspendieren. Das kann nur dann in Betracht kommen, wenn die strengen Anforderungen auch an die Annahme eines schweren Nachteils erfüllt sind. Das ist hier nicht der Fall. Der große Aufwand und die Mühen einer etwaigen Rückforderung der Zuzahlung in einer großen Zahl von Einzelfällen im Falle eines Erfolges der Verfassungsbeschwerde sowie einer für die Beschwerdeführerin günstigeren anschließenden erneuten Entscheidung des Oberlandesgerichts ist für eine Aktiengesellschaft für sich gesehen kein schwerer Nachteil, der Eilrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht rechtfertigen könnte. Diese Folge gründet letztlich im System der Rechtsschutzgewährung. Die Beschwerdeführerin ist wie andere Prozessbeteiligte auch gehalten, das Risiko ihres Prozessverhaltens auch insoweit abzuschätzen und die entsprechenden Konsequenzen zu tragen.
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Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführerin Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die von ihr besorgten Nachteile abzuschwächen oder ihren Eintritt hinauszuzögern. Die Nachzahlung ist im Anschluss an die angegriffene Entscheidung nicht zwingend - wie die Beschwerdeführerin meint - "mehr oder weniger automatisch über die Depotbanken" zu leisten. Wenn die Beschwerdeführerin die festgesetzte Nachzahlung nicht von sich aus leistet, bedarf es gemäß § 16 SpruchG einer Leistungsklage der nachzahlungsberechtigten Aktionäre. Die hier angegriffene gerichtliche Entscheidung ist kein Vollstreckungstitel (vgl. Drescher, in: Spindler/Stilz, Aktiengesetz, 2. Aufl. 2010, § 11 SpruchG Rn. 3; Emmerich, in: Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 6. Aufl. 2010, § 11 SpruchG Rn. 4; Klöcker, in: K. Schmidt/Lutter, AktG, 2. Aufl. 2010, § 16 SpruchG Rn. 2; Kubis, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Aufl. 2010, § 11 SpruchG Rn. 5; Vollhard, in: Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 3. Aufl. 2012, § 11 SpruchG Rn. 4; Weingärtner, in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2011, § 16 SpruchG Rn. 1). Wartete die Beschwerdeführerin eine Leistungsklage der nachzahlungsberechtigten Aktionäre ab, erhielte sie auf diesem Weg die notwendigen Informationen, um nach einem eventuellen Erfolg der Verfassungsbeschwerde die Rückforderung zu bewerkstelligen.
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Danach kommt es nicht mehr darauf an, dass die Behauptung der Beschwerdeführerin unzutreffend ist, den nachzahlungsberechtigten Aktionären entstünden auf der anderen Seite durch eine Verzögerung der Auszahlung des Erhöhungsbetrages keine Nachteile. Diese tragen das Risiko, dass ihre Forderungen notleidend werden oder die Beschwerdeführerin gar insolvent wird. Darüber hinaus haben sie Anspruch auf fachrechtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit; das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist nicht Teil des Instanzenzuges.
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Eine zu Gunsten der Beschwerdeführerin ausfallende Folgenabwägung kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht.
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