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BVerfG 28.09.2010 - 1 BvR 623/10
BVerfG 28.09.2010 - 1 BvR 623/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Beratungshilfe für Widerspruch in sozialrechtlichem Verfahren verletzt Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit <Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1, Abs 3 GG> - hier: Vorliegen eines wichtigen Grundes gem § 31 Abs 1 S 2 SGB 2 - Unzumutbarkeit der Selbsthilfe
Normen
Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 3 Abs 1 GG, § 2 Abs 2 S 1 Nr 4 BeratHiG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG, § 31 Abs 1 S 2 SGB 2
Vorinstanz
vorgehend AG Meldorf, 17. Februar 2010, Az: 46 II 392/10, Beschluss
vorgehend AG Meldorf, 3. Februar 2010, Az: 46 II 392/10, Beschluss
Tenor
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Die Beschlüsse des Amtsgerichts Meldorf vom 3. Februar 2010 - 46 II 392/10 - und vom 17. Februar 2010 - 46 II 392/10 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Meldorf zurückgewiesen.
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Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).
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I.
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1. Der Beschwerdeführer erhielt von der zuständigen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) einen Sanktionsbescheid, wonach der Anteil des Beschwerdeführers am Arbeitslosengeld II wegen wiederholter Pflichtverletzung für drei Monate vollständig entfalle. Dies wurde damit begründet, dass der Beschwerdeführer am letzten Tag einer Eingliederungsmaßnahme unentschuldigt ferngeblieben sei. Der zur Erklärung seines Verhaltens im Anhörungsverfahren angegebene Grund, dass er den Termin vergessen habe, weil seine Freundin wegen ihrer Schwangerschaft zum Frauenarzt habe gehen müssen, könne nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) anerkannt werden.
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In der Begründung des Beratungshilfeantrags beim zuständigen Amtsgericht wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer die Freundin zu einem dringenden Arzttermin habe begleiten müssen, da eine andere Person so kurzfristig nicht zur Verfügung gestanden habe. Der Beschwerdeführer benötige insbesondere Rechtsrat, ob er sich wenigstens gegen die von der Sanktionierung erfasste Abmeldung bei der Kranken- und Pflegeversicherung wehren könne. In der Widerspruchsbegründung seiner Rechtsanwältin vom selben Tag wurde das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II behauptet.
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Der Rechtspfleger des Amtsgerichts Meldorf wies den Antrag ab, da ein verständiger Selbstzahler den Rat eines Rechtsanwalts nicht eingeholt hätte.
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Mit der Erinnerung wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass er schon im Anhörungsverfahren erfolglos geblieben sei. Hier sei die Kenntnis und Würdigung rechtlicher Normen erforderlich.
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Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss zurückgewiesen. Die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe sei mutwillig, da der Rechtsuchende den Widerspruch zumutbar selbst einlegen könne. Seine Auffassung, die Begleitung seiner schwangeren Freundin sei wichtiger als die Einhaltung von Auflagen der Arbeitsverwaltung, könne er selbst vorbringen. Aus der Lektüre der Rechtsmittelbelehrung ergebe sich, dass er die Folgen des Bescheids durch Einlegung eines Widerspruchs abwehren könne.
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2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG. Ein Rechtsuchender könne nicht auf die Beratung der Behörde verwiesen werden, deren Entscheidung er angreifen wolle. Hier sei die Kenntnis und Würdigung rechtlicher Normen erforderlich, über die der Beschwerdeführer ohne Ausbildung und Arbeit nicht verfüge. Bei der Voraussetzung des wichtigen Grundes im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung der Beschwerdeführer ohne anwaltliche Hilfe nicht meistern könne.
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3. Das Ministerium für Justiz, Gleichstellung und Integration des Landes Schleswig-Holstein hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 122, 39 48 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 21 ff., NJW 2009, S. 3417 ff.).
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2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Das Amtsgericht hat bei der Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers auf weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Abs. 3 GG verkannt.
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a) Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1, Abs. 3 GG folgt das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 48 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 21). Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt zwar in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Entsprechend dem für die Prozesskostenhilfe geltenden Prüfungsmaßstab überschreiten die Fachgerichte jedoch dann den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung der Bestimmungen des Beratungshilfegesetzes zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einem unbemittelten Rechtsuchenden im Vergleich zum bemittelten Rechtsuchenden die Rechtswahrnehmung unverhältnismäßig eingeschränkt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 25).
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Dabei ist der Unbemittelte nur einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. BVerfGE 122, 39 49>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 22). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist. Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl. 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 34).
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Ob die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe zur Beratung notwendig ist oder der Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe zu verweisen ist, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und der Rechtsuchende über besondere Rechtskenntnisse verfügt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 35 f.). Die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der Behörde stellt keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit dar, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 38 ff.).
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b) Nach diesen Grundsätzen ist die Auffassung des Amtsgerichts, die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe für den Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid sei mutwillig, verfassungsrechtlich nicht haltbar. Soweit das Amtsgericht meint, der Beschwerdeführer könne die Umstände zum Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II hier zumutbar selbst vortragen, würdigt es nicht, dass der Beschwerdeführer dies bereits erfolglos in der Anhörung versucht hat. Der erfolglose Vortrag im Anhörungsverfahren durch den Beschwerdeführer belegt nicht, dass der Beschwerdeführer zur rechtlichen Auseinandersetzung mit den Ablehnungsgründen in der Lage ist. Ein Verweis auf die erneute Befassung der Behörde mit den vom Beschwerdeführer selbst vorzutragenden Einwänden wird dem berechtigten Anliegen des Rechtsuchenden nach aktiver Beteiligung am Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 28) nicht gerecht.
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Zudem hat das Amtsgericht nicht berücksichtigt, dass nicht nur das Vorliegen eines wichtigen Grundes eine juristische Wertung voraussetzt, sondern die Verhängung einer Sanktion auf der komplexen Norm des § 31 SGB II beruht, deren rechtliche Durchdringung von einem Laien nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. In seine Abwägung hätte es außerdem die einschneidende Rechtsfolge einer dreimonatigen vollständigen Kürzung einbeziehen müssen, die für den Beschwerdeführer besondere Bedeutung im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums hat.
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III.
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Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut unter Berücksichtigung der genannten Gesichtspunkte zu entscheiden hat.
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IV.
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Die Anordnung der Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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V.
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Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € festgesetzt. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG ist der Gegenstandswert unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der subjektiven und objektiven Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen (vgl. BVerfGE 79, 357 361 f.> und BVerfGE 79, 365 366 ff.>), jedoch nicht unter 4.000 €. Liegen keine Besonderheiten vor, ist bei stattgebenden Kammerentscheidungen in der Regel ein Gegenstandswert von 8.000 € angemessen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2007 - 1 BvR 66/07 -; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. September 2007 - 2 BvR 2151/06 -; stRspr).
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