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BFH 08.08.2023 - IX B 86/22
BFH 08.08.2023 - IX B 86/22 - Beweiserhebung durch Beteiligtenvernehmung; Verbot vorweggenommener Beweiswürdigung
Normen
§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 82 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 295 ZPO, § 450 ZPO, § 116 Abs 6 FGO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 18. Oktober 2022, Az: 5 K 2033/20, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die förmliche Vernehmung eines Beteiligten ist ein letztes Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts, das allerdings nicht dazu dient, dem Beteiligten Gelegenheit zu geben, seine eigenen Behauptungen zu bestätigen und gegebenenfalls zu beeiden. Die Vernehmung kann daher unterbleiben, wenn sich das Gericht mit Hilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung bilden kann oder wenn keine Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vorbringens spricht.
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2. NV: Die Erwägung des Gerichts, einer beantragten Beteiligtenvernehmung nicht nachzukommen, da dem Beteiligten infolge von in der Vergangenheit liegender Steuerverfehlungen die Glaubwürdigkeit fehle, stellt eine vorweggenommene Beweiswürdigung dar.
Tenor
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Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 18.10.2022 - 5 K 2033/20 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Finanzgericht Rheinland-Pfalz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet.
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1. Es liegt ein von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) gerügter Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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Das Finanzgericht (FG) hat seine Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt, indem es die beantragte Beteiligtenvernehmung der Kläger mit einer rechtsfehlerhaften Begründung abgelehnt hat.
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a) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es ist dabei zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO), darf aber auf die von einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zu Gunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (statt vieler Senatsbeschluss vom 08.04.2022 - IX B 10/21, Rz 5, m.w.N.).
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Aus der Bezugnahme in § 82 FGO unter anderem auf §§ 450 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) folgt, dass zur Beweisaufnahme im finanzgerichtlichen Verfahren auch die Vernehmung der Beteiligten zählt. Eine solche ist ein letztes Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts, das allerdings nicht dazu dient, dem Beteiligten Gelegenheit zu geben, seine eigenen Behauptungen zu bestätigen und gegebenenfalls zu beeiden (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17.08.2012 - III B 38/12, Rz 16; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 82 Rz 42). Die Beteiligtenvernehmung kann daher unterbleiben, wenn sich das Gericht mit Hilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung bilden kann oder wenn keine Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vorbringens spricht (BFH-Beschluss vom 19.07.2010 - X B 21/10, Rz 7; Krumm in Tipke/Kruse, § 82 FGO Rz 81). Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist grundsätzlich Sache des FG als Tatsacheninstanz. Ob das FG einen Beteiligten vernimmt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen (vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 82 FGO Rz 206). Der BFH kann als Revisionsgericht nur prüfen, ob das FG sein Ermessen unsachgemäß ausgeübt oder die ihm eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten hat oder dieses Ermessen, falls eine Beteiligtenvernehmung in Betracht kam, überhaupt nicht hat walten lassen (BFH-Beschluss vom 19.05.2008 - IV B 88/07, BFH/NV 2008, 1685, unter 1.b).
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b) Nach diesen Maßstäben hat die Vorinstanz die Beteiligtenvernehmung der Kläger rechtsfehlerhaft unterlassen.
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aa) Die Kläger haben mit Schreiben vom 17.10.2022 beantragt, zur streitigen Tatsache der Höhe des vereinbarten und gezahlten Grundstückskaufpreises als Beteiligte vernommen zu werden. Sie haben als Beweistatsache unter anderem angeführt, dass abweichend von der notariellen Beurkundung übereinstimmend nur ein Kaufpreis von 160.000 € vereinbart worden sei, die Klägerin diesen Preis fremdfinanziert bezahlt habe und die Differenz zum beurkundeten Kaufpreis von 240.000 € vereinbarungsgemäß nie erbracht worden sei.
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bb) Diesen ausdrücklich gestellten Beweisantrag auf Beteiligtenvernehmung hat das FG in der angegriffenen Entscheidung zumindest konkludent abgelehnt, ohne dass es hierfür tragfähige Gründe angeführt hat.
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Das FG konnte sich nicht mit Hilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung davon bilden, dass der im notariellen Kaufvertrag vom (…) festgelegte Kaufpreis von 240.000 € derjenige war, auf den sich die Vertragsbeteiligten verständigt hatten und den die Klägerin gezahlt beziehungsweise vom Kläger hatte gefordert werden können. Dies entspricht dem eigenen Verständnis des FG, wenn es ausführt, es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass die Kläger tatsächlich einen anderen Kaufpreis vereinbart hätten und auch nur dieser (niedrigere) Kaufpreis geflossen sei, die Kläger diese Behauptung aber nicht hätten nachweisen können.
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Es liegen auch keine klaren Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit des unter den Beweis der Beteiligtenvernehmung gestellten Vorbringens der Kläger vor. Hierbei verkennt der Senat nicht, dass die Kläger es bislang nicht vermochten, eine vollends schlüssige Begründung für die behauptete Divergenz zwischen dem beurkundeten und dem vereinbarten Kaufpreis für das Grundstück anzuführen. Andererseits ist es augenfällig, dass ein Anstieg des Grundstückswerts binnen zwei Jahren von etwa 146.000 € (2015) auf 240.000 € (2017) mit erheblichen Zweifeln belastet wäre, sofern zu unterstellen wäre, dass der Kläger während seiner kurzen Zeit als Eigentümer keine werterhöhenden Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen an dem Objekt durchgeführt hätte. Demnach erscheint eine Überverbriefung des Kaufpreises zumindest vorstellbar.
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Die Begründung des FG, den Behauptungen der Kläger keinen Glauben zu schenken und aus diesem Grund --zumindest konkludent-- der beantragten Beteiligtenvernehmung nicht nachzukommen, trägt nicht. Hiermit hat es unzulässigerweise eine vorweggenommene Beweiswürdigung vorgenommen (vgl. insoweit BFH-Beschluss vom 16.12.2016 - X B 41/16, Rz 17). Unbeschadet dessen wären die vom FG hervorgehobenen Steuerverfehlungen des Klägers für sich betrachtet nicht geeignet, dessen Glaubwürdigkeit zu bezweifeln. Die beiden vom FG benannten steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren sind jeweils gegen Zahlung einer --betragsmäßig geringfügigen-- Geldauflage eingestellt worden; eine vorsätzliche Steuerhinterziehung wurde somit nicht erwiesen. Die Geldbuße von 300 € wegen Verstößen gegen Buchführungs-/Aufzeichnungspflichten ist nicht wegen einer Steuerstraftat, sondern wegen einer Ordnungswidrigkeit verhängt worden. Das FG hat zudem nicht berücksichtigt, dass diese Einwendungen gegen eine Glaubwürdigkeit nicht die Klägerin, deren Beteiligtenvernehmung ebenfalls beantragt wurde, beträfen.
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cc) Der Umstand, dass beide Kläger nicht in der mündlichen Verhandlung erschienen waren, hätte das FG nicht berechtigt, die Beteiligtenvernehmung abzulehnen. Der Beweisantritt bei einer Beteiligtenvernehmung erfolgt nicht anders als bei anderen Beweisanträgen. Abweichend zur bloßen Beteiligtenanhörung setzt die Vernehmung eines Beteiligten aber immer einen förmlichen Beweisbeschluss voraus (§ 82 FGO, § 450 ZPO; vgl. BFH-Beschluss vom 09.02.2001 - II B 9/99, BFH/NV 2001, 933, unter IV.2.b ee). Hieran fehlte es im Streitfall.
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c) Das angefochtene Urteil kann --wie von den Klägern auch dargelegt-- auf dem vorgenannten Mangel beruhen. Es erscheint möglich, dass das FG bei der gebotenen weiteren Aufklärung des Sachverhalts die Überzeugung hätte gewinnen können, dass der für die Besteuerung eines privaten Veräußerungsgeschäfts gemäß § 22 Nr. 2, § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes maßgebliche Veräußerungspreis abweichend von der notariellen Beurkundung nur 160.000 € betrug.
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d) Prozessual unerheblich ist, dass die fachkundig vertretenen Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht die unterlassene weitere Sachaufklärung durch Beteiligtenvernehmung gerügt haben. Ihr Rügerecht haben sie hierdurch nicht verloren (§ 155 Satz 1 FGO, § 295 ZPO). Das FG hat in der angefochtenen Entscheidung selbst die Gründe angeführt, die es bewogen hat, der beantragten Beteiligtenvernehmung nicht nachzukommen. In einem solchen Fall bedarf es keiner vorsorglichen vorherigen Rüge (vgl. zuletzt BFH-Beschluss vom 16.05.2023 - VIII B 98/22, Rz 4, m.w.N.).
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2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufgrund des Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Die Vorinstanz wird hierbei neu zu erwägen haben, ob sie der beantragten Beteiligtenvernehmung zwecks Aufklärung des Sachverhalts nachkommt.
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3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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