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BFH 27.11.2017 - III B 179/16
BFH 27.11.2017 - III B 179/16 - Kindergeld für behindertes Kind
Normen
§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2009, § 76 Abs 1 FGO, § 81 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, EStG VZ 2014
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 19. Oktober 2016, Az: 12 K 4010/14, Urteil
Leitsatz
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NV: Folgt das FG einem Gutachten, in welchem einem Kind bescheinigt wird, dass es wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, obwohl das Gutachten ohne Mitwirkung des Kindes erstellt wurde, so ist nicht allein deshalb die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung, Divergenz oder Verfahrensfehlern zuzulassen .
Tenor
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Die Beschwerde der Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 19. Oktober 2016 12 K 4010/14 wird als unzulässig verworfen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist die Mutter des im November 1992 geborenen N, für den sie zunächst Kindergeld bezog. Die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) hob die Festsetzung ab Februar 2014 auf, weil sie der Ansicht war, dass für N kein Berücksichtigungstatbestand mehr vorliege. Dagegen wandte sich die Klägerin mit Einspruch. Sie war der Auffassung, dass N nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes als behindertes Kind zu berücksichtigen sei. Der Rechtsbehelf hatte keinen Erfolg. Im anschließenden Klageverfahren wurde ein Sachverständiger damit beauftragt, N zu begutachten. Allerdings gelang es ihm bei drei Hausbesuchen nicht, mit N ein Gespräch zu führen.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage dennoch statt. Es war davon überzeugt, dass N aufgrund seiner Behinderung im Streitzeitraum (Februar bis November 2014) nicht dazu imstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Das Landratsamt habe festgestellt, dass bei N eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit und ein Grad der Behinderung von 40 vorliege. Ab August 2015 sei ein Grad von 60 festgestellt worden. Im Gutachten vom 19. April 2016, das der Sachverständige auf der Grundlage fremdanamnestischer Angaben gemacht habe, sei er zu dem Schluss gekommen, dass bei N neben den körperlichen Beeinträchtigungen von einer schweren Zwangsstörung mit vorwiegenden Zwangshandlungen auszugehen sei; zusätzlich liege eine schwere Persönlichkeitsstörung vor. Der Sachverständige habe sich bei den Hausbesuchen ein persönliches Bild vom Verhalten des N machen können, auch wenn dieser sich einem Gespräch entzogen habe.
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Gegen das Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sowie Verfahrensmängel geltend macht (§ 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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Das FG habe die Beweislast für den Nachweis der behinderungsbedingten Unfähigkeit zum Selbstunterhalt dadurch umgangen, dass es fremdanamnestische Angaben bei der Erstellung eines Gutachtens akzeptiert habe. Es sei die Rechtsfrage zu klären, ob solche Angaben so zu behandeln seien, als ob das Kind selbst an der Begutachtung mitgewirkt habe, auch wenn die Feststellungslast bezüglich der Ursächlichkeit zu Lasten des Kindergeldberechtigten gehe. Nach der Dienstanweisung zum Kindergeld (DA-KG) führe eine Verweigerung der Begutachtung zur Ablehnung des Kindergeldantrags.
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Das angefochtene Urteil weiche auch von Rechtsprechung des BFH ab. Hiernach könne die Ursächlichkeit der Behinderung grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das Merkmal "H" eingetragen sei oder der Grad der Behinderung 50 oder mehr betrage und besondere Umstände hinzuträten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheine (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832, sowie vom 16. April 2002 VIII R 62/99, BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738). Das FG habe auf diese Rechtsprechung zwar Bezug genommen, es habe jedoch den Rechtssatz aufgestellt, dass es für die Annahme der Ursächlichkeit der Behinderung ausreiche, dass der Grad der Behinderung 40 betrage und aufgrund fremdanamnestischer Angaben festgestellt sei, dass eine Erwerbstätigkeit des Kindes unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes unwahrscheinlich sei. Der Sachverhalt des Streitfalls sei mit denen vergleichbar, die den genannten BFH-Urteilen zugrunde lägen.
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Außerdem sei die Revision wegen Verfahrensmängeln zuzulassen. Das FG habe seine Pflicht zur Sachaufklärung verletzt (§ 76 Abs. 1 FGO). Es habe sich auf das im Klageverfahren erstellte Gutachten gestützt, das auf fremdanamnestischen Angaben beruhe. Sie --die Familienkasse-- habe darauf hingewiesen, dass eine persönliche Begutachtung erforderlich sei. Enthalte ein Gutachten Unvollständigkeiten, Unklarheiten oder Zweifel, müsse das Gericht die Ergänzung oder Erläuterung veranlassen und bei schwerwiegenden Mängeln ein zweites Gutachten einholen. Der Verfahrensfehler sei zugleich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Beschwerde ist unzulässig und wird deshalb durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Die Beschwerdebegründung genügt nicht den Darlegungserfordernissen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.
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1. Zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO muss ein Beschwerdeführer schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen darlegen, weshalb eine für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. Dazu muss ausgeführt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchem Grunde die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 26. April 2017 III B 100/16, BFHE 257, 424, BStBl II 2017, 903).
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a) Die Familienkasse wendet sich in ihrer Beschwerdebegründung dagegen, dass das FG sich wegen der Frage, ob N wegen seiner Behinderung zum Selbstunterhalt nicht imstande war, auf ein Gutachten gestützt hat, das ohne aktive Beteiligung des N zustande kam, weil sich dieser einer Begutachtung verweigerte. Sie hat ihre Einwände als Rechtsfrage formuliert. Jedoch könnte die Frage, ob ein über ein behindertes Kind erstelltes Gutachten, das sich auf Fremdanamnese stützt, ebenso aussagekräftig ist wie ein Gutachten, das unter Mitwirkung des Kindes zustande gekommen ist, in dieser Allgemeinheit nicht in einem Revisionsverfahren geklärt werden. Denn jedes Gericht hat sich im konkreten Einzelfall eine eigene Überzeugung darüber zu bilden, ob ein Kind aufgrund einer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Das FG hat im Streitfall zu diesem Zweck einen Gutachter eingeschaltet, der aus seinem persönlichen Eindruck und aus den ihm vorliegenden Anamnesen und Unterlagen die Schlussfolgerung zog, dass N nicht imstande sei, sich selbst zu unterhalten. Es ist dem Gutachten trotz der fehlenden Mitwirkung des N gefolgt und hat dies im angefochtenen Urteil eingehend begründet. Das FG hat keinen allgemeinen Rechtssatz dahingehend aufgestellt, dass ein Gutachten über die Behinderung einer Person, das ohne deren Mitwirkung zustande gekommen ist, ebenso aussagekräftig ist wie ein Gutachten, an dem die Person mitgewirkt hat. Eine im Allgemeininteresse klärungsbedürftige und klärbare Rechtsfrage hat die Familienkasse in ihrer Revisionsbegründung nicht aufgeworfen. Die von ihr angesprochene Frage der Feststellungslast stellte sich nicht, weil das FG davon überzeugt war, dass N aufgrund seiner Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
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b) Mit ihrem Vorbringen rügt die Familienkasse letztlich die Beweiswürdigung durch das FG. Die Sachverhaltswürdigung und die Grundsätze der Beweiswürdigung sind jedoch revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen und deshalb der Prüfung des BFH im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde entzogen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 21. Januar 2013 III B 167/11, BFH/NV 2013, 754, m.w.N.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 246).
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2. Auch soweit die Familienkasse eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der BFH-Rechtsprechung rügt (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO), rechtfertigen ihre Darlegungen nicht die Zulassung der Revision.
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a) Zur schlüssigen Darlegung einer solchen Abweichungsrüge muss der Beschwerdeführer tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil einerseits und aus der genau bezeichneten Divergenzentscheidung andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so die behauptete Abweichung zu verdeutlichen (z.B. Senatsbeschluss in BFHE 257, 424, BStBl II 2017, 903). Außerdem muss sich aus der Beschwerdebegründung ergeben, dass dem Streitfall ein Sachverhalt zugrunde liegt, der mit der Divergenzentscheidung vergleichbar ist und dass es sich um eine identische Rechtsfrage handelt (z.B. Senatsbeschluss vom 30. September 2013 III B 20/12, BFH/NV 2014, 58).
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b) Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Familienkasse nicht. Sie hat zum einen auf das BFH-Urteil in BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832 hingewiesen, das ein Kind mit einem Grad der Behinderung von 80 betraf, zum anderen auf das Urteil in BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738, in dem es um ein Kind ging, für das es keine amtliche Feststellung zum Grad der Behinderung gab.
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c) Im Streitfall war das FG der Überzeugung, dass N aufgrund seiner Behinderung nicht imstande war, sich selbst zu unterhalten, obwohl für ihn ein Grad der Behinderung von (nur) 40 festgestellt worden war. Aus den beiden zitierten BFH-Urteilen geht nicht hervor, dass bei einem Grad der Behinderung von weniger als 50 die Ursächlichkeit der Behinderung für das Außerstandesein zum Selbstunterhalt von vornherein ausscheidet. Eine Divergenz wurde somit nicht dargelegt. Auch die Familienkassen gewähren in Einzelfällen bei einem Grad der Behinderung von weniger als 50 Kindergeld (s. A 19.2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 DA-KG 2017, BStBl I 2017, 1006).
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3. Schließlich ist dem FG auch kein Verfahrensfehler unterlaufen, insbesondere hat es nicht die Pflicht zur Sachaufklärung verletzt (§ 76 Abs. 1 FGO). Es hatte keinen Anlass, ein weiteres Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben, da kein Anhaltspunkt dafür bestand, dass N bei einem anderen Gutachter seine Mitwirkung nicht verweigern würde. Aus diesem Grund lag auch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.
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