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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
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BFH 27.09.2012 - III R 40/09
BFH 27.09.2012 - III R 40/09 - (EuGH-Vorlage zur Anrechnung belgischer Familienleistungen - Anwendung von Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 bei nicht gestelltem Antrag auf Leistungsgewährung im Wohnmitgliedstaat - Ermessen)
Normen
Art 267 AEUV, Art 76 Abs 1 EWGV 1408/71, Art 76 Abs 2 EWGV 1408/71, § 102 FGO, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 63 Abs 1 S 3 EStG 2002, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007
Vorinstanz
vorgehend FG Düsseldorf, 18. Mai 2009, Az: 14 K 1750/08 Kg, Urteil
nachgehend EuGH, 6. November 2014, Az: C-4/13, Urteil
Leitsatz
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Dem EuGH werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :
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1. Ist Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass es im Ermessen des zuständigen Trägers des Beschäftigungsmitgliedstaats steht, Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anzuwenden, wenn im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird?
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2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen gewährt würden?
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3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Inwieweit unterliegt die Ermessensentscheidung des zuständigen Trägers der gerichtlichen Kontrolle?
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter eines im Jahr 1995 geborenen Sohnes (S). Sie ist deutsche Staatsangehörige und übt in Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Das zuständige Finanzamt behandelte sie im Streitzeitraum gemäß § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.
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Der Ehemann der Klägerin und Kindsvater ist Belgier. Er arbeitete seit November 2006 bei einer belgischen Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos gewesen. Die Familie lebte zunächst in Deutschland, zog dann aber im Juni 2006 nach Belgien und hat seitdem dort ihren Wohnsitz.
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Für ihren Sohn bezog die Klägerin fortlaufend in Deutschland Kindergeld. Ihr Ehemann hatte in Belgien kein Kindergeld beantragt und deswegen auch kein Kindergeld erhalten. Als die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) vom Umzug der Familie nach Belgien erfuhr, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Juli 2006 auf und forderte das für den Zeitraum von Juli 2006 bis März 2007 gezahlte Kindergeld zurück.
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Der Einspruch der Klägerin war teilweise erfolgreich. Die Familienkasse war der Auffassung, dass der Klägerin für den Streitzeitraum von Juli 2006 bis März 2007 ein Kindergeldanspruch nach dem EStG zustehe. Zugleich bestehe aber auch ein Kindergeldanspruch in Belgien. Dieser betrage von Juli bis September 2006 monatlich 77,05 € und von Oktober 2006 bis März 2007 monatlich 78,59 €. Die Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen verschiedener Mitgliedstaaten werde durch die Art. 76 bis 79 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, und den Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72), in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, aufgelöst. Nach diesen Vorschriften werde der deutsche Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistung ausgesetzt und es könne nur der Differenzbetrag ausgezahlt werden. Dass die in Belgien vorgesehenen Familienleistungen nicht beantragt worden seien, sei nach Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 unschädlich. Diese Regelung solle gerade verhindern, dass das Zuständigkeitssystem der VO Nr. 1408/71 durch den Verzicht auf die Antragstellung umgangen werde.
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Das von der Klägerin angerufene Finanzgericht (FG) erachtete den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid als rechtswidrig. Zwar seien nach den maßgeblichen Regelungen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine nur anteilige Gewährung des deutschen Kindergeldes erfüllt. Doch habe die Familienkasse das ihr von Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Diese Vorschrift sei im Streitfall die einschlägige Antikumulierungsvorschrift, da es um Ansprüche wegen mehrfacher Erwerbstätigkeit gehe. Die Rechtsfolge der Anrechnung der --nicht beantragten-- belgischen Familienleistung auf das deutsche Kindergeld sei in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 im Unterschied zu Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 in das Ermessen der Behörde gestellt. Es handele sich entgegen der von der Familienkasse vertretenen Auffassung nicht um eine gebundene Entscheidung. Behördliche Ermessensentscheidungen seien nach § 102 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur eingeschränkt überprüfbar. Im Streitfall liege ein sog. Ermessensausfall vor. Die Behörde habe, da sie sich rechtsfehlerhaft zur Anrechnung der belgischen Familienleistung verpflichtet gefühlt habe, das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt und deswegen rechtswidrig gehandelt.
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Mit ihrer gegen das Urteil des FG gerichteten Revision macht die Familienkasse weiterhin geltend, dass Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 nicht als Ermessensvorschrift im Sinne des deutschen Steuer- und Sozialrechts zu verstehen sei. In Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 sei die Grundregel zur Auflösung der Konkurrenz von Ansprüchen auf Familienleistungen festgelegt. In Bezug auf den Streitfall sage diese Grundregel aus, dass der deutsche Anspruch bis zur Höhe des im Wohnland Belgien zustehenden Betrags der Familienleistung für den Fall ruhe, dass in Belgien Leistungen aufgrund einer Erwerbstätigkeit vorgesehen seien. Dies bedeute, dass zwar ein Anspruch auf Familienleistungen grundsätzlich bestehen, dieser aber tatsächlich nicht realisiert sein müsse. Die Rechtsfolge des Ruhens sei für den Fall eines nur grundsätzlich bestehenden Anspruchs eindeutig festgelegt. Nach diesem Verständnis gebe es für die Auslegung des Verbs "kann" in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 als Ermessensregelung keinen weiter gehenden Sinn. Denn in diesem Fall würde in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 erneut eine Regelung aufgestellt, die bereits von Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 erfasst werde, und zwar für den Fall, dass zwar ein theoretischer Anspruch auf Familienleistungen bestehe, aber kein Antrag gestellt worden sei. Das Verb "kann" sei daher nur so zu verstehen, dass der Mitgliedstaat, dessen Leistung ruhe, auch in dem Fall, in dem im Wohnland kein Antrag gestellt werde, nur den auf ihn entfallenden Teil der Familienleistung zu gewähren brauche. Die Regelung lasse sich auch davon leiten, dass es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit nicht sein könne, dass der Kindergeldberechtigte durch entsprechende Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne, welcher Mitgliedstaat mit Zahlungen belastet werden solle.
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Die Klägerin hält die Entscheidung des FG für zutreffend. Sie entnimmt dem Wortlaut des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71, dass die Anrechnung der ausländischen Familienleistung in das Ermessen der Behörde gestellt sei. Der von der Familienkasse angeführte Umstand, dass es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit und des Zuständigkeitssystems nicht sein könne, dass der Kindergeldberechtigte durch Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne, welcher Mitgliedstaat belastet werde, sei im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.
Entscheidungsgründe
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II. Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 i.V.m. § 74 FGO aus und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 Satz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor.
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1. Die Entscheidung des Streitfalles hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.
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a) Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht nach Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Art. 73 bzw. 74 der VO Nr. 1408/71 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag. Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden (Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71).
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b) Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht kein Streit darüber, dass vorliegend die in Art. 76 der VO Nr. 1408/71 niedergelegten Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen zur Anwendung kommen. Die VO Nr. 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit --VO Nr. 883/2004-- (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1). Letztere gilt jedoch nach ihrem Art. 91 Satz 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu ihrer Durchführung erlassenen Verordnung. Diese --die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 --VO Nr. 987/2009-- (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1)-- trat nach ihrem Art. 97 Satz 2 erst am 1. Mai 2010 in Kraft. Die VO Nr. 574/72 wurde nach Art. 96 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 erst mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die VO Nr. 1408/71 und die hierzu ergangene VO Nr. 574/72.
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aa) Die in der gesetzlichen Sozialversicherung pflichtversicherte Klägerin war in der fraglichen Zeit in Deutschland als Arbeitnehmerin abhängig beschäftigt. Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterlag sie damit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in Belgien, den deutschen Rechtsvorschriften. Deutschland als Beschäftigungsmitgliedstaat war damit für die Gewährung des Kindergeldes zuständig. Nach deutschem Recht hat auch ein Anspruch auf Kindergeld im Streitzeitraum bestanden.
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bb) Nach den den Bundesfinanzhof (BFH) bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) waren in Belgien als dem Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen aufgrund der Erwerbstätigkeit und der vorherigen Arbeitslosigkeit des Kindsvaters (zum Begriff der Erwerbstätigkeit i.S. des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 vgl. Beschluss Nr. 207 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 7. April 2006 zur Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 der VO Nr. 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 der VO Nr. 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen, ABlEU 2006 Nr. L 175, S. 83) Familienleistungen vorgesehen. Der Vater hatte allerdings keinen Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 gegeben sind.
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cc) Wenn es sich bei Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 um eine gemeinschaftsrechtliche Ermessensnorm handelt, dann hängt der Erfolg der Anfechtungsklage davon ab, ob dem zuständigen Träger im vorliegenden Fall ein vom nationalen Gericht kontrollierbarer Fehler bei der Anwendung dieser Norm unterlaufen ist.
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2. Zur ersten Vorlagefrage
Nach Auffassung des Senats wird dem zuständigen Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats durch Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 ein Ermessen eingeräumt, ob er bei unterbliebener Antragstellung im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anwendet und so den bei ihm bestehenden Anspruch ganz oder teilweise zum Ruhen bringt.
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a) Entgegen der Auffassung der Familienkasse bestimmt sich die Priorität bei unterbliebener Antragstellung nach der Regelung des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71. Mit dem Begriff der "vorgesehenen" Leistungen in Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 wird der Fall der nicht beantragten Leistungen nicht erfasst. Absatz 2 stellt gegenüber Absatz 1 des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 demnach keine überflüssige Bestimmung dar. Vielmehr handelt es sich um eine Sonderregelung für den speziellen Fall der fehlenden Antragstellung (gleicher Auffassung Trinkl, Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung deutscher Familienleistungen, 2001, S. 245; Fischer, Die Sozialgerichtsbarkeit --SGb-- 1991, 432, 437). Dies folgt nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Der Gemeinschaftsgesetzgeber reagierte mit der Anfügung des Absatzes 2 in Art. 76 der VO Nr. 1408/71 gezielt auf die frühere Rechtsprechung des EuGH (EuGH-Urteile vom 13. November 1984 C-191/83, Salzano, Slg. 1984, 3741; vom 23. April 1986 C-153/84, Ferraioli, Slg. 1986, 1401, und vom 4. Juli 1990 C-117/89, Kracht, Slg. 1990, I-2781), wonach bei fehlender Antragstellung im Wohnsitzstaat der Familie der Kindergeldanspruch im Beschäftigungsmitgliedstaat nicht ausgesetzt werden durfte (vgl. Igl in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 76 Rz 2).
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b) Dass Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 eine Ermessensnorm darstellt, hat der Senat bereits in seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Schwemmer ausgeführt (BFH-Beschluss vom 30. Oktober 2008 III R 92/07, BFHE 223, 358, BStBl II 2009, 923), ohne dass der EuGH in seinem Urteil noch auf die Rechtsfrage eingehen musste (EuGH-Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Slg. 2010, I-9717). Nach deutschem Rechtsverständnis wird mit der Verwendung des Wortes "kann" in einem Gesetzes- oder Verordnungstext zwar nicht zwingend zum Ausdruck gebracht, dass der Verwaltung ein Ermessensspielraum eingeräumt wird (zu "Kann"-Bestimmungen, die kein Ermessen einräumen, siehe z.B. BFH-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241; vgl. auch Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO Rz 26). So setzt der Gesetz- oder Verordnungsgeber das Wort "kann" bisweilen auch lediglich als ein Synonym für "ist befugt" oder "ist ermächtigt" ein und drückt damit etwa aus, dass die Exekutive zum Eingriff in Freiheitsgrundrechte berechtigt ist. Für ein solches Rechtsverständnis fehlen im Anwendungsbereich des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 als einer Prioritätsregelung für konkurrierende Ansprüche jedoch die Anhaltspunkte. Der Wortlaut der Regelung ("kann") deutet daher auf eine gemeinschaftsrechtliche Ermessensvorschrift hin (gleicher Auffassung Fischer, SGb 1991, 432, 437; Schulte, SGb 1991, 45, 49; Becker, SGb 1998, 553, 557; Trinkl, a.a.O., S. 246; Kummer in Schulte/Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 217; Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Stand 3/08, Art. 76 der VO Nr. 1408/71 Rz 21; Igl in Fuchs, a.a.O., Art. 76 Rz 8). Welche Kriterien für eine Ermessensausübung relevant sein können, ist zwar ebenfalls ungeklärt (s. zweite Vorlagefrage). Doch spricht die Tatsache, dass die Auslegung und Anwendung des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 mehrere denkbare Kriterien erkennen lässt (siehe Ausführungen zur zweiten Vorlagefrage), für eine Ermessenseinräumung zugunsten der Verwaltung. Ergibt umgekehrt die Auslegung einer Norm keinerlei Hinweise, wie ein etwaiges Ermessen auszuüben sein könnte, dann deutet dieser Befund auf eine gebundene Entscheidung hin (vgl. BFH-Urteil in BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241).
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3. Zur zweiten Vorlagefrage
Falls Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dem zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, ob er bei fehlender Antragstellung im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 zur Anwendung bringt, dann ist zu klären, welche Ermessenserwägungen der Träger anzustellen hat.
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a) So ist zum einen denkbar, dass dem zuständigen Träger bei der Prüfung der in dem anderen Mitgliedstaat geltenden Anspruchsvoraussetzungen ein Ermessen im Sinne eines Beurteilungsspielraumes zukommt (in diesem Sinne z.B. Trinkl, a.a.O., S. 246, m.w.N.; zum gemeinschaftsrechtlichen Ermessensbegriff und der Rechtsprechung des EuGH vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 280 ff.). So kann es beispielsweise für den zuständigen Träger nicht sicher aufklärbar sein, ob das Recht des anderen Mitgliedstaats im konkreten Fall überhaupt eine Familienleistung --und deren etwaige Höhe-- vorsieht. Eine solche Situation könnte etwa eintreten, wenn der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats die unter Verwendung des vorgesehenen Vordrucks E 411 gestellte Anfrage (vgl. Beschluss Nr. 147 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 10. Oktober 1990 zur Durchführung des Art. 76 der VO Nr. 1408/71, ABlEG 1991 Nr. L 235, S. 21) nicht oder nicht vollständig beantwortet.
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b) Zum anderen könnte Ermessen auch in denkbaren Härtefällen, wie z.B. bei aus unverschuldeter Rechtsunkenntnis unterbliebener Antragstellung oder bei in Schädigungsabsicht erfolgter Nichtbeantragung von Leistungen durch einen geschiedenen Elternteil (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 223, 358, BStBl II 2009, 923), auszuüben sein.
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c) Schließlich könnte bei der Ermessensausübung zu würdigen sein, dass ein vom Willen der Berechtigten abhängiges Wahlrecht, Leistungen des einen oder des anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen, nicht anzuerkennen ist und folglich der Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten das Ruhen des Kindergeldanspruchs im Beschäftigungsmitgliedstaat regelmäßig gebieten könnte. Wenn der objektive Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vorrangig die Ermessensausübung zu bestimmen hätte, dann wäre der individuelle Grund für die Nichtbeantragung der Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familie grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 223, 358, BStBl II 2009, 923).
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Der Senat erblickt in den Gesichtspunkten der gerechten Lastenverteilung und des Verbots eines Wahlrechts des Beschäftigten, die Leistungen des einen oder des anderen Mitgliedstaats nach Belieben in Anspruch zu nehmen, die wesentlichen Umstände, an denen sich die zuständigen Träger bei der Ausübung ihres Ermessens zu orientieren haben.
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4. Zur dritten Vorlagefrage
Falls Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dem zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, stellt sich schließlich die Frage nach der Reichweite der richterlichen Prüfungskompetenz. Der EuGH hat zur Ausübung des Ermessens durch Unionsorgane judiziert, dass die Ermessensbetätigung der Kontrolle des Gemeinschaftsrichters nicht entzogen ist. Der Richter hat im Rahmen dieser Kontrolle festzustellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch (Ermessensfehler) vorliegen (z.B. EuGH-Urteile vom 18. Juli 2007 C-326/05 P, Industrias Quimicas del Vallés, Slg. 2007, I-6557; vom 22. Oktober 1991 C-16/90, Nölle, Slg. 1991, I-5163). Es fragt sich, ob diese Grundsätze auch im europäischen Sozialrecht gelten und insbesondere auf die gerichtliche Überprüfung einer vom zuständigen Träger gemäß Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 getroffenen Ermessensentscheidung zu übertragen sind. Nach Auffassung des Senats verfügt der zuständige Träger zwar grundsätzlich über ein weites Ermessen (vgl. EuGH-Urteil vom 19. Juni 1980 C-41/79, Testa, Slg. 1980, 1979, zu Art. 69 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71), doch liegt ein vom nationalen Gericht zu beanstandender Ermessensfehler jedenfalls dann vor, wenn der Träger sein ihm vom Gemeinschaftsrecht eingeräumtes Ermessen gar nicht ausübt, weil er sich rechtsfehlerhaft zu einer gebundenen Entscheidung verpflichtet fühlt.
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