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BFH 22.12.2011 - III R 46/08
BFH 22.12.2011 - III R 46/08 - Kindergeld für ein arbeitsloses behindertes Kind
Normen
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 12. Juli 2007, Az: 1 K 316/04, Urteil
Leitsatz
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NV: Feststellungen in einem ärztlichen Gutachten zur Leistungsfähigkeit des Kindes für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts stellen nur ein Indiz dar, welches das FG als Tatsacheninstanz im Rahmen seiner Gesamtwürdigung zu berücksichtigen hat. Hiermit allein kann die (Mit-) Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt deshalb regelmäßig nicht verneint werden.
Tatbestand
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I. Die am 30. August 1977 geborene Tochter T der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist behindert. Laut amtlichem Schwerbehindertenausweis beträgt der Grad der Behinderung (GdB) 50. Für den Zeitraum vom 1. Juli 2004 bis zum 25. Mai 2005 bewilligte ihr die Agentur für Arbeit Übergangsgeld gemäß §§ 97 ff. des Dritten Buches Sozialgesetzbuch i.V.m. § 33, §§ 44 ff. des Neunten Buches Sozialgesetzbuch für einen geförderten Ausbildungslehrgang.
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Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) hob die Kindergeldfestsetzung für T im Hinblick auf deren Vollendung des 27. Lebensjahres ab September 2004 mit Bescheid vom 21. Juli 2004 auf. Der Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
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Während des Klageverfahrens setzte die Familienkasse mit Änderungsbescheid vom 30. Juni 2005 für die Monate September 2004 bis Mai 2005 Kindergeld fest. Den daraufhin von der Klägerin gestellten Antrag, ihr Kindergeld auch ab Juni 2005 zu bewilligen, lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 30. August 2006 ab.
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Im März 2007 wurde T durch den ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit untersucht. Der untersuchende Arzt kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, T sei --unter Berücksichtigung von Leistungseinschränkungen-- vollschichtig leistungsfähig für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes; ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sei die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Der Gutachter führte zudem aus, wegen ihres kleinen Kindes wolle T sich zur Zeit nur drei bis vier Stunden pro Tag zur Verfügung stellen. Dieses Ergebnis übernahm die Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit.
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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, da es nicht habe feststellen können, dass T wegen ihrer Behinderung zum Selbstunterhalt außerstande sei.
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Mit der Revision rügt die Klägerin die fehlerhafte Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG).
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Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Familienkasse unter Aufhebung des FG-Urteils und des Ablehnungsbescheids vom 30. August 2006 zu verpflichten, Kindergeld ab Juni 2005 festzusetzen.
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Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Die Klage ist als geänderte Klage (§ 67 FGO) -weiter- zulässig. Die vom Bundesfinanzhof von Amts wegen auch noch im Revisionsverfahren in jeder Verfahrenslage zu überprüfenden Sachentscheidungsvoraussetzungen im finanzgerichtlichen Verfahren (vgl. Senatsurteil vom 19. Mai 2004 III R 18/02, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980, m.w.N.) liegen vor.
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2. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein volljähriges Kind unter weiteren --hier nicht streitigen-- Voraussetzungen ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
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a) Nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.a, m.w.N.) ist ein behindertes Kind außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen gesamten notwendigen Lebensunterhalt nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln bestreiten kann.
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b) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen der Behinderung als auch wegen der allgemein ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ein Anspruch auf Kindergeld besteht nur dann, wenn die Behinderung nach den Gesamtumständen des Einzelfalles in erheblichem Umfang mitursächlich dafür ist, dass das Kind nicht seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit bestreiten kann (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.b und c).
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aa) Nicht ursächlich ist die Behinderung in der Regel bei einem GdB von weniger als 50. Bei einem GdB von 50 --wie im Streitfall-- oder mehr müssen besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.b).
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bb) Ein Indiz für die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die Feststellung in ärztlichen Gutachten --z.B. von der Reha/SB-Stelle der Agentur für Arbeit oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen-- sein, das Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für das Kind in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Selbst wenn nach den Gutachten eine "vollschichtige Tätigkeit" für möglich gehalten wird, ist die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, aber allein nicht geeignet, die (Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen. Entscheidend kann nur die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes sein (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.a).
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cc) Auch dem GdB kommt eine wichtige indizielle Bedeutung für die Prüfung der Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt zu. Je höher der GdB ist, desto stärker wird die Vermutung, dass die Behinderung der erhebliche Grund für die fehlende Erwerbstätigkeit ist. Dagegen spricht ein GdB unter 50 eher gegen eine Kausalität der Behinderung (vgl. Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.c).
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dd) Ein Indiz für eine Vermittelbarkeit des behinderten Kindes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kann z.B. auch eine --nicht behinderungsspezifische-- Berufsausbildung sein. Andererseits gilt auch hier, dass noch weitere Umstände hinzukommen müssen, bis eine Teilnahme am Erwerbsleben als möglich angesehen werden kann. Behinderungsspezifische Ausbildungen und Praktika sprechen eher gegen eine Vermittelbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt, da sie möglicherweise den Schluss auf nur bedingte Einsatzmöglichkeiten zulassen (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.d).
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ee) Steht das behinderte Kind der Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit zur Verfügung und kann die Agentur für Arbeit in einem mittelfristigen Zeitraum keine Stellenangebote benennen oder hat sich das behinderte Kind mittelfristig mehrfach erfolglos beworben, wird dies in der Regel gegen dessen Vermittelbarkeit sprechen und somit dafür, dass die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich war für die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.2.e).
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c) Ist keine erhebliche Mitursächlichkeit für die Arbeitslosigkeit anzunehmen, besteht ein Anspruch auf Kindergeld auch dann, wenn die Einkünfte, die das Kind aus einer --trotz der Behinderung möglichen-- Erwerbstätigkeit erzielen könnte, nicht ausreichen würden, seinen gesamten Lebensbedarf (existenziellen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) zu decken (Senatsurteil vom 22. Oktober 2009 III R 50/07, BFHE 228, 17, BStBl II 2011, 38).
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3. Die Entscheidung über die Mitursächlichkeit hat das FG als Tatsacheninstanz unter Berücksichtigung aller Umstände des einzelnen Falles und unter Abwägung der für und gegen eine Mitursächlichkeit sprechenden Indizien zu treffen. Das Urteil des FG, das vor den Grundsatzurteilen des Senats in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057 und in BFHE 228, 17, BStBl II 2011, 38 ergangen ist, war aufzuheben, weil das FG bei seiner Entscheidung nicht alle zu berücksichtigenden Umstände und Indizien in seine Würdigung einbezogen hat. Es hat daher nicht in der gebotenen Gesamtwürdigung geprüft, ob die Behinderung in erheblichem Umfang mitursächlich dafür war, dass T keinen Arbeitsplatz gefunden hat. Insbesondere reicht die pauschale Feststellung nicht, T sei unter Berücksichtigung der verschiedenen Leistungseinschränkungen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig leistungsfähig. Das FG hat insoweit ersichtlich weder geprüft noch bedacht, ob und ggf. inwieweit sich die offensichtlich vorhandenen Einschränkungen auf eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem von T erlernten Beruf bzw. auf ihre Vermittelbarkeit in eine entsprechende Arbeitsstelle auswirken.
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Im zweiten Rechtsgang wird das FG deshalb insbesondere auch zu berücksichtigen haben, warum sich T noch bis Mai 2005 in Ausbildung befand, um welche Ausbildung es sich handelte und wie ihr Abschluss ggf. im Hinblick auf den allgemeinen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt einzuordnen ist. In seine Entscheidung wird das FG weiter einzubeziehen haben, warum T trotz einer offenbar abgeschlossenen Ausbildung keinen Arbeitsplatz gefunden hat und ob es insoweit eine Rolle gespielt hat, dass sie nur zu einer Tätigkeit im Umfang von 15 bis 20 Wochenstunden bereit war. Dabei wird das FG auch Feststellungen dazu zu treffen haben, wie T sich um eine entsprechende Arbeit bemüht hat.
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Kommt das FG bei erneuter Würdigung des Sachverhalts nach den Kriterien des Senatsurteils in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057 zu dem Ergebnis, die Behinderung sei nicht in erheblichem Umfang mitursächlich dafür gewesen, dass T keine Arbeit gefunden hat, hat es zu ermitteln, wie hoch ihr tatsächlicher Lebensbedarf (Grundbedarf und behinderungsbedingter Mehrbedarf) gewesen ist und ob der in der Regel für eine von ihr ausübbare Tätigkeit gezahlte Arbeitslohn ausgereicht hätte, um ihren gesamten Lebensbedarf zu finanzieren.
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