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BFH 11.08.2011 - V R 54/10
BFH 11.08.2011 - V R 54/10 - (Widerstreitende Steuerfestsetzung bei umsatzsteuerrechtlicher Organschaft - Erkennbarkeit i.S. des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO - Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts - Kausalität)
Normen
§ 174 Abs 3 AO, § 2 Abs 2 Nr 2 UStG 1993
Vorinstanz
vorgehend Hessisches Finanzgericht, 20. April 2010, Az: 1 K 1727/05, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Hat das FA von einer Umsatztätigkeit keine Kenntnis, beruht die Nichtberücksichtigung dieses Sachverhalts in einem zu erlassenden Steuerbescheid nicht kausal auf der Annahme, dieser Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen .
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2. NV: Erlangt das FA später von einer Umsatztätigkeit Kenntnis, beruht die weiterhin unterbliebene Nichtberücksichtigung des Sachverhalts gleichfalls nicht kausal auf der Annahme, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen, wenn das FA bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung prüft, ob die Umsätze überhaupt steuerbar waren .
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3. NV: Aus dem BFH-Urteil in BFHE 228, 122, BStBl II 2010, 586 ergibt sich nicht abschließend, in welchen Fallgruppen die Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts nicht kausal auf der Annahme der Berücksichtigung dieses Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid beruht .
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, erbrachte im Streitjahr 1995 Leistungen gegen Entgelt und erteilte hierüber Rechnungen mit gesondertem Steuerausweis. Diese Leistungen wurden zunächst von B als Organträger der Klägerin versteuert. Im Rahmen einer bei B durchgeführten Außenprüfung wurde festgestellt, dass B nicht Organträger der Klägerin war, so dass die Umsatzsteuerfestsetzungen für B entsprechend geändert wurden.
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Im Hinblick auf die Außenprüfung bei der B teilte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) der Klägerin mit, dass die Frage ihrer Unternehmereigenschaft das Steuerrechtsverhältnis zu ihr selbst betreffe und geklärt werden müsse, ob überhaupt eine der Umsatzbesteuerung unterliegende Tätigkeit vorliege. Nach Eintritt der Festsetzungsverjährung erließ das FA für das Streitjahr nach § 174 Abs. 3 der Abgabenordnung (AO) den Umsatzsteuerbescheid 1995 vom 18. Dezember 2003. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg.
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Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Bei Erlass des angefochtenen Bescheides habe bereits Festsetzungsverjährung vorgelegen, so dass der Bescheid nur auf § 174 Abs. 3 AO gestützt werden könne, dessen Voraussetzungen aber nicht vorlägen. Die zunächst erfolgte Berücksichtigung der Umsatztätigkeit als Sachverhalt bei B sei für die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts bei der Klägerin nicht kausal gewesen. Das FA habe zunächst keine Kenntnis von diesem Sachverhalt gehabt. Es habe zwar vor Ablauf der Festsetzungsfrist von dem Sachverhalt Kenntnis erlangt, es dann aber trotzdem unterlassen, den Sachverhalt vor Eintritt der Festsetzungsverjährung der Besteuerung zu unterwerfen. Dies habe darauf beruht, dass das FA die Frage klären wollte, ob überhaupt eine der Umsatzbesteuerung zu unterwerfende Tätigkeit vorgelegen habe. Bestehe der Grund für die Nichtberücksichtigung des bekannten Sachverhalts aber nicht in der Berücksichtigung des Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid, sondern in der Unentschiedenheit, ob der Sachverhalt überhaupt der Umsatzbesteuerung zu unterwerfen sei, komme § 174 Abs. 3 AO als Rechtsgrundlage für eine Steuerfestsetzung nicht in Betracht.
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Mit der Revision macht das FA geltend, dass es nicht darauf ankomme, ob es sich vor Eintritt der Festsetzungsverjährung bereits entschieden habe, den bisher unberücksichtigten Sachverhalt doch zu berücksichtigen. Es habe die Änderungsabsicht nicht aufgegeben. Die Nichtberücksichtigung sei für die Klägerin auch erkennbar gewesen. Die Problematik sei noch vor Ablauf der Festsetzungsfrist ausdrücklich besprochen worden. Auf die Festsetzungsfrist für die noch zu erlassende Steuerfestsetzung komme es nicht an.
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Das FA beantragt,
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das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Revision zurückzuweisen.
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Für eine Änderung nach § 174 Abs. 3 AO fehle es an der hierfür notwendigen Kausalität.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision des FA ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FA war nicht berechtigt, den angefochtenen Bescheid nach § 174 Abs. 3 AO zu erlassen.
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1. Nach § 174 Abs. 3 AO kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung eines bestimmten Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden, als dieser Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Die Nachholung, Aufhebung oder Änderung ist nur zulässig bis zum Ablauf der für die andere Steuerfestsetzung geltenden Festsetzungsfrist.
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Die (erkennbare) Annahme, dass ein bestimmter Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, muss nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) --in sinnvoller Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 174 Abs. 3 AO-- für dessen Nichtberücksichtigung kausal geworden sein (BFH-Urteil vom 14. Januar 2010 IV R 33/07, BFHE 228, 122, BStBl II 2010, 586, unter II.1.a bb, m.w.N.). An dieser Kausalität fehlt es z.B. dann, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachverhalts darauf beruht, dass das FA von dem Sachverhalt keine Kenntnis hatte (BFH-Urteil vom 29. Mai 2001 VIII R 19/00, BFHE 195, 23, BStBl II 2001, 743, Leitsatz 2).
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2. Im Streitfall liegen die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 AO nicht vor.
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a) Maßgeblicher Sachverhalt ist im Streitfall die Umsatztätigkeit der Klägerin. Das FA hatte von dieser zunächst keine Kenntnis, so dass die Nichtberücksichtigung dieses Sachverhalts in einem gegenüber der Klägerin zu erlassenden Steuerbescheid zunächst nicht kausal auf der Annahme beruhte, dieser Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 195, 23, BStBl II 2001, 743, Leitsatz 2).
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b) Auch als das FA später von der Umsatztätigkeit der Klägerin Kenntnis erlangt hat, war die zunächst weiterhin unterbliebene Nichtberücksichtigung des Sachverhalts gleichfalls nicht kausal für die Annahme, der Sachverhalt sei in einem anderen Steuerbescheid zu erfassen. Denn die bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung unterbliebene Erfassung der Umsätze beruhte nicht darauf, dass das FA weiterhin davon ausging, diese seien bei B zu erfassen, sondern darauf, dass das FA bis zu diesem Zeitpunkt prüfte, ob die Umsätze überhaupt steuerbar waren. Dies rechtfertigt ebenfalls nicht die Anwendung von § 174 Abs. 3 AO.
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Ohne Erfolg wendet das FA demgegenüber ein, aus dem BFH-Urteil in BFHE 228, 122, BStBl II 2010, 586 (unter II.1.a bb) ergebe sich abschließend, in welchen Fallgruppen die Nichtberücksichtigung eines Sachverhalts nicht kausal auf der Annahme der Berücksichtigung dieses Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid beruhe. Denn der BFH hat in diesem Urteil die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO am Erfordernis der Sachverhaltsidentität scheitern lassen, so dass es sich bei den Ausführungen zur Kausalität nur um ein sog. obiter dictum ohne Bindungswirkung handelt.
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Darüber hinaus fehlt es insoweit auch an der erforderlichen Erkennbarkeit i.S. des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO, wenn sich das FA --wie im Streitfall-- bis zum Ablauf der regulären Festsetzungsverjährung nicht entschieden hat, ob es den Sachverhalt der Besteuerung unterwerfen will (BFH-Urteil vom 15. Januar 2009 III R 81/07, BFH/NV 2009, 1073, Leitsatz 2).
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