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EuGH 27.10.2022 - C-641/21
EuGH 27.10.2022 - C-641/21 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) - 27. Oktober 2022 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 44 – Ort der steuerlichen Anknüpfung – Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten – Empfänger, der im Rahmen einer Leistungskette an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt ist – Steuerpflichtiger, der von diesem Betrug wusste oder hätte wissen müssen“
Leitsatz
In der Rechtssache C-641/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 11. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Oktober 2021, in dem Verfahren
Climate Corporation Emissions Trading GmbH
gegen
Finanzamt Österreich
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Climate Corporation Emissions Trading GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt W. Standfest,
der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Climate Corporation Emissions Trading GmbH (im Folgenden: Climate Corporation) und dem Finanzamt Österreich (Österreich) über die Frage, ob Umsätze aus einer Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten der Mehrwertsteuer unterliegen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
…
Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
In Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes“) Kapitel 3 („Ort der Dienstleistung“) dieser Richtlinie bestimmt Art. 44:
„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“
Dieser Art. 44 geht auf die Richtlinie 2008/8 zurück, mit der die Richtlinie 2006/112 im Hinblick auf den Ort der Dienstleistung geändert wurde. Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 2008/8 lauten wie folgt:
Alle Dienstleistungen sollten grundsätzlich an dem Ort besteuert werden, an dem der tatsächliche Verbrauch erfolgt. Allerdings wären auch bei einer entsprechenden Änderung dieser Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung sowohl aus verwaltungstechnischen als auch aus politischen Gründen noch gewisse Ausnahmen davon erforderlich.
Bei Dienstleistungen an Steuerpflichtige sollte die Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung auf den Ort abstellen, an dem der Empfänger ansässig ist, und nicht auf den, an dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist. …“
In Titel IX („Steuerbefreiungen“) Kapitel 1 („Allgemeine Bestimmungen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht Art. 131 vor:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
Dieser Titel IX umfasst auch Kapitel 4 („Steuerbefreiungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“). Art. 138 Abs. 1 dieses Kapitels 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“
Art. 196 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige oder die nicht steuerpflichtige juristische Person mit einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, für den/die eine Dienstleistung nach Artikel 44 erbracht wird, wenn die Dienstleistung von einem nicht in diesem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird.“
Art. 273 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Österreichisches Recht
§ 3a Abs. 6 des Umsatzsteuergesetzes vom 23. August 1994 (BGBl. 663/1994) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (BGBl. I 52/2009) legt fest:
„Eine sonstige Leistung, die an einen Unternehmer im Sinne des Abs. 5 Z 1 und 2 ausgeführt wird, wird vorbehaltlich der Abs. 8 bis 16 und Art. 3a an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung an die Betriebsstätte eines Unternehmers ausgeführt, ist stattdessen der Ort der Betriebsstätte maßgebend.“
Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe „Unternehmer“ und „sonstige Leistungen“ den im Unionsrecht verwendeten Begriffen „Steuerpflichtiger“ bzw. „Dienstleistungen“ entsprechen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Zwischen dem 1. und dem 20. April 2010 übertrug Climate Corporation mit Sitz in Baden (Österreich) Treibhausgasemissionszertifikate gegen Entgelt an die Bauduin Handelsgesellschaft mbH (im Folgenden: Bauduin) mit Sitz in Hamburg (Deutschland).
Mit Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2010 vom 27. Jänner 2012 stufte das Finanzamt Baden Mödling (Österreich) diese Übertragungen der Treibhausgasemissionszertifikate als steuerpflichtige „Lieferungen von Gegenständen“ ein, die nicht unter die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen fielen. Bauduin sei als „Missing Trader“ an Mehrwertsteuerhinterziehungen in Form eines Mehrwertsteuerkarussells beteiligt gewesen, und Climate Corporation habe gewusst oder hätte wissen müssen, dass diese Zertifikate für Mehrwertsteuerhinterziehungen verwendet würden.
Am 27. Februar 2012 legte Climate Corporation gegen diesen Bescheid Beschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Bundesfinanzgericht (Österreich), ein.
Dieses Gericht führt aus, dass Übertragungen von Treibhausgasemissionszertifikaten als „Dienstleistungen“ und nicht als „Lieferungen von Gegenständen“ einzustufen seien, wie sich aus dem Urteil vom 8. Dezember 2016, A und B (C-453/15, EU:C:2016:933), ergebe.
Unter diesen Umständen liege der Ort der von Climate Corporation an Bauduin erbrachten Dienstleistungen gemäß den Bestimmungen von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie, § 3a Abs. 6 des Umsatzsteuergesetzes und des deutschen Rechts in Deutschland. Diese Dienstleistungen seien daher nicht in Österreich, sondern in Deutschland steuerbar, und Bauduin sei in Deutschland Mehrwertsteuerschuldnerin.
Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts hätte Climate Corporation aber wissen müssen, dass die an Bauduin verkauften Zertifikate zu betrügerischen Zwecken, nämlich zur Mehrwertsteuerhinterziehung, verwendet würden.
Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, dass der Gerichtshof im Zusammenhang mit Umsätzen aus innergemeinschaftlichen Lieferungen im Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a. (C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455), entschieden habe, dass einem Steuerpflichtigen, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch den Umsatz, auf den er sich zur Begründung des Rechts auf Befreiung einer solchen Lieferung von der Mehrwertsteuer, des Rechts auf Vorsteuerabzug und des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung beruft, an einer im Rahmen einer Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat, diese Rechte zu versagen sind.
Das vorlegende Gericht fragt sich, ob diese Rechtsprechung auf grenzüberschreitende Dienstleistungen entsprechend anwendbar ist. Eine solche Anwendung würde bedeuten, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits ungeachtet des gegenteiligen Wortlauts von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der entsprechenden nationalen Bestimmungen davon auszugehen wäre, dass der Ort der Dienstleistung in Österreich und nicht in Deutschland liege.
Die Antwort auf diese Frage sei nicht offensichtlich, da es sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen innergemeinschaftlichen Lieferungen und grenzüberschreitenden Dienstleistungen innerhalb der Union gebe.
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesfinanzgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist die Mehrwertsteuerrichtlinie so auszulegen, dass die nationalen Behörden und Gerichte den Ort einer Dienstleistung, der formal nach dem geschriebenen Recht in dem anderen Mitgliedstaat, in welchem sich der Sitz des Leistungsempfängers befindet, liegt, als im Inland liegend anzusehen haben, wenn der leistungserbringende inländische Steuerpflichtige hätte wissen müssen, dass er sich durch die erbrachte Dienstleistung an einer im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
Climate Corporation bestreitet die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens. Zum einen handele es sich um eine hypothetisch gestellte Vorlagefrage. Der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Umsatz sei nicht in Österreich, sondern in Deutschland steuerbar, und es sei nicht Aufgabe eines österreichischen Gerichts, den Gerichtshof anzurufen, um hypothetische Steuerpflichten eines Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat zu klären. Zum anderen beruhe diese Frage auf Erwägungen, die in Analogie zum Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a. (C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455), angestellt worden seien; aufgrund der Unterschiede zwischen den Umständen des Ausgangsrechtsstreits und denen der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, könne diesen Erwägungen aber nicht gefolgt werden.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt hat und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 18. Dezember 2014, SchoenimportItalmoda Mariano Previti u. a.,C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Februar 2018, Kreuzmayr,C-628/16, EU:C:2018:84, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass das vorlegende Gericht keine Erläuterungen zu den Verpflichtungen eines Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat des vorlegenden Gerichts haben möchte. Vielmehr möchte es im Wesentlichen klären, ob die Steuerbehörden seines Mitgliedstaats die Umsätze, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sind, nach dem Unionsrecht der Mehrwertsteuer unterwerfen können, obwohl sich der Ort dieser Umsätze in einem anderen Mitgliedstaat befindet. Folglich ist dieses Vorabentscheidungsersuchen nicht hypothetisch.
Soweit Climate Corporation im Übrigen bezweifelt, dass die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a. (C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455), auf einen Fall wie den des Ausgangsrechtsstreits entsprechend übertragen werden können, genügt die Feststellung, dass dieses Vorbringen von der Beantwortung der Vorlagefrage in der Sache abhängig ist.
Das Vorabentscheidungsersuchen ist folglich zulässig.
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats bei einer Dienstleistung, die ein in diesem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbringt, davon ausgehen, dass der Ort dieser Leistung, der gemäß Art. 44 dieser Richtlinie in diesem anderen Mitgliedstaat liegt, dennoch als im ersten Mitgliedstaat liegend anzusehen ist, wenn der betreffende Dienstleistungserbringer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch diese Dienstleistung an einer durch den Empfänger dieser Dienstleistung im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat.
Zunächst ist klarzustellen, dass – wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat – Umsätze aus der entgeltlichen Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten für die Zwecke der Mehrwertsteuerrichtlinie als Dienstleistungen einzustufen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2016, A und B, C-453/15, EU:C:2016:933, Rn. 30).
Der Ort einer Dienstleistung ist nach den Vorschriften von Titel V Kapitel 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu bestimmen. Die Abschnitte 2 und 3 dieses Kapitels enthalten die allgemeinen Regeln für die Bestimmung des Ortes der Besteuerung der Dienstleistung sowie besondere Bestimmungen für spezielle Dienstleistungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 37).
Mit diesen Regeln über die Bestimmung des Ortes, an den bei Dienstleistungen steuerlich anzuknüpfen ist, sollen einerseits Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, und andererseits die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindert werden (Urteile vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 7. Mai 2020, Dong Yang Electronics, C-547/18, EU:C:2020:350, Rn. 25).
Indem in einheitlicher Art und Weise der Ort der Besteuerung von Dienstleistungen bestimmt wird, begrenzen diese Bestimmungen die Befugnisse der Mitgliedstaaten und nehmen eine steuerlich sinnvolle Abgrenzung der jeweiligen Anwendungsbereiche der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer vor (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 50 und 51).
In diesem Zusammenhang stellt Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine allgemeine Regel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung auf.
Gemäß dieser allgemeinen Regel gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.
Nach der Systematik von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie stellt somit der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit den vorrangigen Anknüpfungspunkt zur Bestimmung des Orts einer Dienstleistung dar, während die beiden anderen angeführten Anknüpfungspunkte eine Ausnahme bilden bzw. subsidiär sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 53 bis 56).
Außerdem sieht keine Bestimmung dieser Richtlinie eine besondere Regel zur Bestimmung des Ortes der Besteuerung eines Umsatzes vor, der in der entgeltlichen Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten besteht.
Daraus folgt, dass gemäß Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Ort eines Umsatzes, der in einer entgeltlichen Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten durch einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen an einen anderen, in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen besteht, in diesem anderen Mitgliedstaat liegt.
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dass gemäß Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie und den entsprechenden Bestimmungen des betreffenden nationalen Rechts der Ort der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsätze im Mitgliedstaat des Leistungsempfängers, nämlich in Deutschland, liegt und dass gemäß Art. 196 dieser Richtlinie sowie den entsprechenden Bestimmungen dieses nationalen Rechts der Empfänger der Staatskasse die Mehrwertsteuer schuldet. Dieser Empfänger habe aber eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen, und der betreffende Dienstleistungserbringer hätte dies wissen müssen.
Unter Berücksichtigung dieser Vorbemerkungen ist zu klären, ob trotz des eindeutigen Wortlauts von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Ort eines Umsatzes, der in einer entgeltlichen Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten durch einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen besteht, als im Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers liegend angesehen werden kann, wenn dieser Umsatz Teil einer Mehrwertsteuerhinterziehung ist.
Hierzu geht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist (Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 54, vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a.,C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 43, sowie vom 15. September 2022, HA.EN., C-227/21, EU:C:2022:687, Rn. 27).
So hat der Gerichtshof entschieden, dass die nationalen Behörden und Gerichte in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Rechte wie das Recht auf Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung, die betrügerisch oder missbräuchlich geltend gemacht werden, grundsätzlich versagen können oder sogar müssen. Dies gilt nicht nur dann, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einer Steuerhinterziehung beteiligte, die vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Stufe der Leistungskette begangen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Dezember 2010, R., C-285/09, EU:C:2010:742, Rn. 51 und 52, vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C-273/11, EU:C:2012:547, Rn. 54, vom 9. Oktober 2014, Traum, C-492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 42, sowie vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a.,C-131/13, C-163/13 und C-164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 49 und 50).
Erstens betrifft die vorliegende Rechtssache aber im Unterschied zu den Rechtssachen, in denen die in der vorstehenden Randnummer angeführte Rechtsprechung ergangen ist, nicht die Geltendmachung eines Rechts wie des Rechts auf Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung, sondern die Bestimmung des Ortes eines steuerbaren Umsatzes.
Eine Auslegung, nach der im Fall von Mehrwertsteuerhinterziehung der Ort einer Dienstleistung als in einem anderen Mitgliedstaat als dem nach den Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie über die Bestimmung des Orts der Dienstleistung vorgesehenen Mitgliedstaat liegend angesehen werden kann, stünde aber im Widerspruch zu den – in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils wiedergegeben – Zielen und der allgemeinen Systematik dieser Vorschriften.
Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten, wie sie sich aus diesen Bestimmungen ergibt, anzupassen. In einem Fall wie in der vorliegenden Rechtssache hätte eine solche Auslegung konkret zur Folge, dass die Besteuerungsbefugnis des Mitgliedstaats, in dem der Empfänger der betreffenden Dienstleistung ansässig ist, ohne jegliche Rechtsgrundlage auf den Mitgliedstaat übertragen würde, in dem der Erbringer dieser Dienstleistung ansässig ist.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Erhebung nach den Überlegungen, die den Vorschriften über die Bestimmung des Orts der Dienstleistung zugrunde liegen und die auch in den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2008/8 sowie in Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie zum Ausdruck kommen, nach Möglichkeit an dem Ort erfolgen soll, an dem die betreffenden Dienstleistungen in Anspruch genommen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Dezember 2016, A und B, C-453/15, EU:C:2016:933, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine Auslegung wie die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführte liefe aber im Ergebnis darauf hinaus, dass Steuereinnahmen an einen anderen Mitgliedstaat übertragen würden als demjenigen, in dem diese Dienstleistungen letztlich in Anspruch genommen werden.
Zweitens weist eine Dienstleistung, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbringt, zwar in tatsächlicher Hinsicht Ähnlichkeiten mit einer innergemeinschaftlichen Lieferung auf, da an beiden Personen in zwei Mitgliedstaaten beteiligt sind. Gleichwohl sind beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts innergemeinschaftliche Lieferungen und grenzüberschreitende Dienstleistungen innerhalb der Union rechtlich unterschiedlich geregelt.
Was die Regelung innergemeinschaftlicher Lieferungen betrifft, geht nämlich jede derartige Lieferung eines Gegenstands im Sinne von Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie mit einem innergemeinschaftlichen Erwerb dieses Gegenstands im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie einher. Die innergemeinschaftliche Lieferung und der innergemeinschaftliche Erwerb, der einen zweiten Steuertatbestand bildet, sind ein und derselbe wirtschaftliche Vorgang, hinsichtlich dessen die Besteuerungsbefugnis zwischen dem Mitgliedstaat des Beginns der Versendung eines Gegenstands und dem Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung aufgeteilt ist, die jeweils für die Ausübung der ihnen zukommenden Befugnisse verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2007, Teleos u. a., C-409/04, EU:C:2007:548, Rn. 22 bis 24).
So ist die innergemeinschaftliche Lieferung eines Gegenstands im Mitgliedstaat des Beginns der Versendung dieses Gegenstands unbeschadet des Rechts auf Vorsteuerabzug oder auf Erstattung der in diesem Mitgliedstaat im Voraus entrichteten Mehrwertsteuer steuerbefreit, während der innergemeinschaftliche Erwerb im Eingangsmitgliedstaat der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2010, R., C-285/09, EU:C:2010:742, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Mitgliedstaat des Beginns der Versendung dieses Gegenstands kann daher gegebenenfalls die Gewährung einer Steuerbefreiung gestützt auf die Befugnisse versagen, die ihm gemäß Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbrauch eingeräumt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2010, R., C-285/09, EU:C:2010:742, Rn. 51).
Diese Regelung für innergemeinschaftliche Umsätze ist hingegen nicht auf grenzüberschreitende Dienstleistungen innerhalb der Union anwendbar, hinsichtlich der nur einem Mitgliedstaat, der anhand der Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt wird, die Besteuerungsbefugnis zukommt.
Im Gegensatz zu den in den Rn. 46 bis 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Befugnissen des Mitgliedstaats des Beginns der Versendung eines Gegenstands im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung wird dem Mitgliedstaat, in dem der Erbringer einer Dienstleistung ansässig ist, die an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird und deren Ort sich gemäß Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie in diesem anderen Mitgliedstaat befindet, somit durch diese Richtlinie keine Befugnis eingeräumt, Mehrwertsteuer auf eine solche Dienstleistung zu erheben.
Folglich kann die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung nicht entsprechend auf die Bestimmung des Orts einer Dienstleistung angewandt werden.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Ort einer Dienstleistung nicht unter Verstoß gegen den eindeutigen Wortlaut von Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie geändert werden kann, weil bei dem betreffenden Umsatz Mehrwertsteuer hinterzogen wurde.
Allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie Maßnahmen ergreifen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern. Diese Maßnahmen dürfen jedoch nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen. Es ist grundsätzlich Sache der Steuerbehörden, bei den Steuerpflichtigen die erforderlichen Kontrollen durchzuführen, um Unregelmäßigkeiten und Mehrwertsteuerhinterziehung aufzudecken und gegen den Steuerpflichtigen, der diese Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung begangen hat, Sanktionen zu verhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2007, Collée, C-146/05, EU:C:2007:549, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 57 und 62, sowie vom 1. Juli 2021, Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C-521/19, EU:C:2021:527, Rn. 38).
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats bei einer Dienstleistung, die ein in diesem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbringt, davon ausgehen, dass der Ort dieser Leistung, der gemäß Art. 44 dieser Richtlinie in diesem anderen Mitgliedstaat liegt, dennoch als im ersten Mitgliedstaat liegend anzusehen ist, wenn der Dienstleistungserbringer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch diese Dienstleistung an einer durch den Empfänger dieser Dienstleistung im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung
sind dahinauszulegen, dass
sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats bei einer Dienstleistung, die ein in diesem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbringt, davon ausgehen, dass der Ort dieser Leistung, der gemäß Art. 44 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2008/8 geänderten Fassung in diesem anderen Mitgliedstaat liegt, dennoch als im ersten Mitgliedstaat liegend anzusehen ist, wenn der Dienstleistungserbringer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch diese Dienstleistung an einer durch den Empfänger dieser Dienstleistung im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat.
Jürimäe
Jääskinen
Gavalec
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Oktober 2022.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
In Wahrnehmung der Aufgaben der Kammerpräsidentin
K. Jürimäe
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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