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BSG 24.06.2021 - B 7 AY 4/20 R
BSG 24.06.2021 - B 7 AY 4/20 R - Asylbewerberleistungen - Analogleistungen - rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer - offenes Kirchenasyl
Normen
§ 2 Abs 1 AsylbLG vom 31.07.2016
Vorinstanz
vorgehend SG Bayreuth, 7. November 2018, Az: S 4 AY 61/18, Gerichtsbescheid
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 28. Mai 2020, Az: L 19 AY 38/18, Urteil
Leitsatz
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Verzichtet der Staat in Folge einer politischen Grundentscheidung in Fällen eines offenen Kirchenasyls auf die Durchsetzung der Abschiebung, liegt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts vor.
Tenor
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Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Mai 2020 und der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 7. November 2018 aufgehoben sowie der Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2018 geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. bis zum 30. Juni 2018 höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu zahlen.
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Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
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Im Streit ist im Revisionsverfahren noch ein Anspruch der Klägerin auf höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für Juni 2018.
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Die 1995 geborene, einkommens- und vermögenslose Klägerin ist äthiopische Staatsangehörige. Sie reiste am 2.5.2016 in Italien und anschließend im Juli 2016 in Deutschland ein und beantragte hier Asyl. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellte im September 2016 ein Übernahmeersuchen an Italien und wies in der Folge den Asylantrag als unzulässig ab (Bescheid vom 4.1.2017). Um nicht innerhalb der bis zum 7.9.2017 laufenden Überstellungsfrist abgeschoben zu werden, begab sich die Klägerin in der Zeit vom 26.2.2017 bis zum 22.9.2017 in die Räumlichkeiten einer Kirchengemeinde, wovon der Pfarrer der Zentralen Ausländerbehörde Mittelfranken am 26.2.2017 Mitteilung machte (sog offenes Kirchenasyl). Nach Ablauf der Überstellungsfrist hat das BAMF den Bescheid vom 4.1.2017 aufgehoben und das innerstaatliche Asylverfahren aufgenommen. Nach Verlassen des Kirchenasyls meldete sich die Klägerin am selben Tag bei der Zentralen Ausländerbehörde; ihr wurde eine Aufenthaltsgestattung erteilt und eine Gemeinschaftsunterkunft im Stadtgebiet der Beklagten zugewiesen (Bescheid der Regierung von Oberfranken vom 9.10.2017). In der Folgezeit lehnte das BAMF die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Asylanerkennung sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab. Über die dagegen gerichtete Klage war jedenfalls bis Juni 2018 noch nicht rechtskräftig entschieden.
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Die Beklagte bewilligte der Klägerin Grundleistungen (monatliche Geldleistungen in Höhe von 320,14 Euro sowie Sachleistungen in Form von Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung) für die Monate Oktober bis Dezember 2017 (Bescheid vom 13.10.2017). Ab Januar 2018 zahlte sie der Klägerin Leistungen in unveränderter Höhe monatlich bar aus (ua am 30.5.2018 für Juni 2018). Den Antrag der Klägerin (vom 28.5.2018) auf Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG (sog Analogleistungen) lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 8.6.2018; Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberfranken vom 16.7.2018). In der Folge hat sie für Januar bis Dezember 2018 die Leistungen in bereits ausgezahlter Höhe (monatliche Geldleistungen in Höhe von 320,14 Euro sowie Sachleistungen in Form von Gewährung von Unterkunft und Wohnungsausstattung) festgesetzt (Bescheid vom 22.10.2018).
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Klage und Berufung (zunächst gerichtet auf höhere Leistungen zukunftsoffen für die Zeit ab 1.11.2017 <Erfüllung der Wartefrist nach § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG>, zuletzt im Berufungsverfahren noch für die Zeit vom 25.5.2018 bis zum 31.12.2018) haben keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Bayreuth vom 7.11.2018; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts <LSG> vom 28.5.2020). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, indem die Klägerin sich in das Kirchenasyl begeben habe, habe sie die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich iS des § 2 Abs 1 AsylbLG selbst beeinflusst. An der bisherigen Auslegung des Merkmals der Rechtsmissbräuchlichkeit in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei seit den umfassenden begünstigenden Änderungen des § 3 AsylbLG zum 1.3.2015 nicht mehr festzuhalten. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten verlange kein gleichsam unentschuldbares Verhalten mehr.
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Mit ihrer Revision, die nach Abschluss eines Vergleichs im Übrigen nur noch auf höhere Leistungen im Juni 2018 gerichtet ist, rügt die Klägerin eine Verletzung des § 2 Abs 1 AsylbLG. Das LSG sei von der Rechtsprechung des BSG dazu, wann eine rechtsmissbräuchliche Aufenthaltsverlängerung vorliege, zu Unrecht abgewichen. Bei Zugrundelegung der vom BSG entwickelten Maßstäbe sei nicht von einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer auszugehen.
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Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Mai 2020 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 7. November 2018 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2018 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. Juni 2018 bis zum 30. Juni 2018 höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Klägerin hat für Juni 2018 Anspruch auf höhere Leistungen. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Analogleistungen sind erfüllt. Insbesondere eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt nicht vor.
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Gegenstand des Verfahrens ist nur noch der Bescheid vom 22.10.2018, und zwar nach Abschluss eines sog Überprüfungsvergleichs im Revisionsverfahren wegen der übrigen Zeiten nur, soweit er die Zeit vom 1.6.2018 bis zum 30.6.2018 betrifft. Bei Klageerhebung war Gegenstand des Verfahrens zunächst der Bescheid vom 8.6.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.7.2018, der bezogen auf die Höhe der Leistungen für Juni 2018 eine Bescheideinheit mit dem konkludent erlassenen Verwaltungsakt bildete, der in der am 30.5.2018 erfolgten Auszahlung von Leistungen für Juni 2018 lag (zur bescheidlosen Auszahlung als konkludenter Verwaltungsakt vgl BSG vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R - BSGE 114, 302 = SozR 4-3520 § 1a Nr 1, RdNr 14 mwN). Bereits mit dieser konkludenten Gewährung von Leistungen hat die Beklagte zugleich die Bewilligung höherer Leistungen abgelehnt. Anders als es die Vorinstanzen angenommen haben, ist demgegenüber nicht erst mit dem Bescheid vom 8.6.2018 isoliert und mit Dauerwirkung ein Anspruch auf Analogleistungen abgelehnt worden. Es handelt sich nach der Rechtsprechung des BSG vielmehr um eine Entscheidung wegen der Höhe eines dem Grunde nach zugestandenen Anspruchs (BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, RdNr 14; anders noch BSG vom 8.2.2007 - B 9b AY 1/06 R - BSGE 98, 116 = SozR 4-3520 § 2 Nr 1, RdNr 14). Aus Sicht des verständigen Empfängers der Erklärungen liegt dabei mit der bloßen Auszahlung von Grundleistungen einerseits und der unmittelbar folgenden ausdrücklichen Ablehnung höherer Leistungen andererseits eine einheitliche Entscheidung über die Höhe der Leistungen für Juni 2018 vor.
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Die ursprünglich streitgegenständlichen Verwaltungsakte sind durch den Bescheid vom 22.10.2018 ersetzt worden (Art 43 Abs 2 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz <BayVwVfG>). Dieser Bescheid ist damit alleiniger Gegenstand des Rechtsstreits geworden (§ 96 Abs 1 SGG), ua soweit er die Zeit vom 1.6.2018 bis zum 30.6.2018 betrifft. Bei dem Bescheid vom 22.10.2018 handelt es sich um einen Zweitbescheid (vgl BSG vom 25.4.2018 - B 8 SO 24/16 R - SozR 4-3500 § 82 Nr 12 RdNr 11), der die Regelung der ursprünglich streitgegenständlichen Verwaltungsakte wiederholt, ohne auf sie Bezug zu nehmen (vgl BSG vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 19). Die Klägerin verfolgt ihr Begehren auf höhere Leistungen zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1, Abs 4, § 56 SGG), die auch im Höhenstreit zulässigerweise auf ein Grundurteil (§ 130 Abs 1 SGG) gerichtet ist.
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Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere hat die auf eine Geldleistung gerichtete Berufung im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungseinlegung (Dezember 2018) den Wert des Beschwerdegegenstands von 750 Euro überstiegen (§ 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG). Der Wert des Beschwerdegegenstands iS von § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG richtet sich danach, was das SG dem Rechtsmittelkläger versagt hat und was er davon mit seinen Berufungsanträgen weiter verfolgt (vgl nur BSG vom 23.7.2015 - B 8 SO 58/14 B - RdNr 6 mwN). Mit der Klage hat die Klägerin höhere Leistungen ab dem 1.11.2017 (nämlich ab Erfüllung der Wartefrist nach § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG) geltend gemacht und zwar den Differenzbetrag zwischen den ihr ab diesem Zeitpunkt monatlich ausgezahlten Geldleistungen in Höhe von 320,14 Euro und dem in den Jahren 2017 und 2018 maßgeblichen monatlichen Regelsatz für eine allein stehende Person (409 Euro bzw 416 Euro). Die Gewährung dieser Leistungen hat sie mit der Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG weiterverfolgt. Für 14 Monate ergibt sich damit ein Betrag von über 750 Euro.
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Rechtsgrundlage für einen höheren Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach dem AsylbLG für Juni 2018 ist § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG (hier in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31.7.2016, BGBl I 1939) iVm § 23 Abs 1 Satz 1, § 19 Abs 1, § 27 Abs 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Die formellen Voraussetzungen dieser Normen liegen vor. Die Beklagte ist als örtlicher Träger sachlich zuständig (§ 12 Abs 2 Nr 2, § 18 Satz 1 Asyldurchführungsverordnung <DVAsyl>). Sie ist auch örtlich zuständig, weil die Klägerin in den Bereich des Stadtgebiets der Beklagten zugewiesen worden ist (§ 10a Abs 1 Satz 1 AsylbLG).
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Nach § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3, 4, 6 und 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach § 19 Abs 1, § 27 Abs 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen - gemäß § 23 Abs 1 Satz 1 SGB XII auch Ausländern - zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie konnte im streitgegenständlichen Zeitraum ihren Lebensunterhalt nicht aus Einkommen oder Vermögen bestreiten und war als Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs 1 Satz 1 Asylgesetz <AsylG>) Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG (§ 1 Abs 1 Nr 1 AsylbLG). Sie hielt sich seit Juli 2016 und damit mehr als 15 Monate ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf. Soweit sie sich 2017 zeitweise im offenen Kirchenasyl befand, um eine Überstellung nach Italien abzuwenden, führt dies nicht zu einer rechtsmissbräuchlichen Verlängerung der Dauer ihres Aufenthalts.
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Der Begriff des Rechtsmissbrauchs iS von § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG wird im AsylbLG auch nach dessen umfassender Neugestaltung mit Wirkung vom 1.3.2015 mit dem Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10.12.2014 (BGBl I 2187) und den folgenden Änderungen an keiner Stelle definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 2 AsylbLG in der bis zum 28.2.2015 geltenden Fassung (vgl § 2 Abs 1 in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970) beinhaltet er als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive - den Missbrauchstatbestand - und eine subjektive Komponente - das Verschulden. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen im Anwendungsbereich des § 2 Abs 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes vom 19.8.2007 für den Ausländer (und nach der damaligen Fassung auch für seine Kinder) so schwer, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (vgl BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2, RdNr 32 f).
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An dieser Rechtsprechung zu den Anforderungen an den objektiven Missbrauchstatbestand hält der Senat auch für § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG in den seit dem 1.3.2015 geltenden, insoweit unverändert gebliebenen Fassungen fest. Die Folgen einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer sind vom Gesetzgeber zwar zum 1.3.2015 erheblich vermindert worden, indem die Leistungssätze der Grundleistungen nach dem AsylbLG angepasst worden sind und dabei methodisch auf die nach § 28 SGB XII vorgesehene Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zurückgegriffen worden ist. Damit wird im Grundsatz dieselbe Datengrundlage wie für Leistungen nach dem SGB XII verwandt (zum Ganzen BT-Drucks 18/2592 S 20 ff). Zudem hat das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Eltern für die Ansprüche minderjähriger Kinder keine Auswirkungen mehr (vgl § 2 Abs 3 AsylbLG), was vorliegend allerdings ohne Belang ist. Die im Hinblick auf diese Änderungen im Gesamtkonzept des AsylbLG abweichende Auslegung eines "Rechtsmissbrauchs" durch das LSG wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber nicht gerecht (anders Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 2 AsylbLG RdNr 39c, Stand 1.5.2021; anders wohl auch Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl 2019, § 2 RdNr 37 f).
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Nach dem (auch insoweit unveränderten) Wortlaut des Gesetzes kann (weiterhin) weder durch Zeitablauf noch durch späteres Wohlverhalten des Ausländers bewirkt werden, dass Analogleistungen zu gewähren sind (vgl auch BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - RdNr 14; zu Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsfolge Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG RdNr 118, Stand: 5.1.2021; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl 2020, § 2 AsylbLG RdNr 31). Damit ist der Ausländer durch die Beschränkung auf Grundleistungen im Grundsatz dauerhaft von einer mit der Zahlung von Analogleistungen beabsichtigten, stärkeren Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse im Inland und besseren sozialen Integration ausgeschlossen (zu Sinn und Zweck von § 2 AsylbLG im Einzelnen BSG vom 24.6.2021 - B 7 AY 1/20 R - RdNr 15, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Weitreichende Konsequenzen hat der dauerhafte Verweis auf Grundleistungen vor allem wegen der Absicherung im Krankheitsfall, die im Grundsatz auf die Behandlungen von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen beschränkt ist (vgl § 4 Abs 1 AsylbLG). Im Fall eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ist die betroffene Personengruppe trotz eines langfristigen Aufenthalts dauerhaft von einer mit der durch die Gewährung von Analogleistungen verbundenen Einbeziehung in die Quasiversicherung (vgl § 264 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Krankenversicherung - <SGB V>) ausgeschlossen. Das wiegt insbesondere für Personen schwer, die - wie es die Klägerin geltend macht - an einer chronischen Erkrankung leiden. Belässt es der Gesetzgeber bei Unterschieden im Leistungsniveau gekoppelt an ein vorwerfbares Fehlverhalten, wäre zu erwarten gewesen, dass im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eine Abkehr von dem in der Rechtsprechung zum Begriff und den Folgen des Rechtsmissbrauchs entwickelten Maßstab deutlich wird, wenn dies zugleich beabsichtigt gewesen wäre. Dies wird aber an keiner Stelle im Gesetzgebungsverfahren erkennbar.
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Ausgehend von dem damit zugrunde zu legenden Maßstab ist die Inanspruchnahme offenen Kirchenasyls nicht rechtsmissbräuchlich (im Ergebnis ebenso Hessisches LSG vom 4.6.2020 - L 4 AY 5/20 B ER - ZFSH/SGB 2020, 468; LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 13.9.2020 - L 9 AY 9/20 B ER - ZFSH/SGB 2021, 34; differenzierend LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.4.2020 - L 8 AY 20/19 B ER - RdNr 16 ff; anders Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl 2019, § 2 RdNr 41; Heusch in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl 2021, RdNr 709; Deibel in Hohm, Gemeinschaftskommentar AsylbLG, § 2 RdNr 111 f, Stand 12/2020; Deibel, ZFSH/SGB 2017, 583, 590; Birk in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Aufl 2020, § 2 AsylbLG RdNr 4). Zwar war die Klägerin vollziehbar ausreisepflichtig und ist ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen, der Staat akzeptiert aber faktisch und generalisierend während eines offenen Kirchenasyls auf Grundlage der mit den Kirchen getroffenen Absprachen den weiteren Aufenthalt im Inland. Die Klägerin hat sich durch ihren Aufenthalt nicht etwa der Überstellung entzogen und sie so vereitelt. Der Staat ist durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet aufgrund einer rechtlich nicht verbindlichen Verfahrensabsprache mit den Kirchen in Einzelfällen (in Abhängigkeit von Entscheidungen der jeweiligen Kirchengemeinden) darauf, das Recht durchzusetzen, die betroffenen Personen zu überstellen (vgl dazu BT-Drucks 19/2349 S 1; BT-Drucks 18/9894 S 2). Die staatliche Respektierung des Kirchenasyls begründet also kein Vollstreckungshindernis, das die Behörden an der Überstellung hindert, weshalb eine im offenen Kirchenasyl befindliche Person auch nicht "flüchtig" iS des Art 29 Abs 2 Satz 2 2. Alt nach der Verordnung (EU) Nr 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) ist (vgl Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 26.1.2021 - 1 C 42/20 - NVwZ 2021, 875 = Asylmagazin 2021, 290, RdNr 26).
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Verzichtet der Staat aber in Folge einer politischen Grundentscheidung - in Bayern einer Entscheidung des Innenministers - aus Respekt vor den Kirchen auf die Durchsetzung der Überstellung bei Aufenthalt im Kirchenasyl, stellt die Wahrnehmung eines solchen Angebots kein unredliches, sozialwidriges Verhalten der betroffenen Person dar. Es wäre vielmehr widersprüchlich, wenn der Staat einerseits das Tätigwerden der Kirchen respektiert und dazu Verfahrensabsprachen trifft, den Betroffenen im Anschluss an das Kirchenasyl aber andererseits dauerhaft von höheren Leistungen ausschließt. Der Fall stellt sich wertungsmäßig deshalb so dar wie die Konstellation eines ausreisepflichtigen Ausländers, dem die Ausreise möglich und zumutbar ist, der aber geduldet wird (dazu BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2). Zwar geschieht dies beim Kirchenasyl nur faktisch und nicht wie bei der förmlichen Duldung durch Verwaltungsakt. Entscheidend ist aber, dass der Staat trotz und gerade wegen des Verhaltens des Ausländers bewusst keine Überstellungsmaßnahmen einleitet (ähnlich Schleswig-Holsteinisches LSG vom 15.7.2020 - L 9 AY 79/20 B ER - RdNr 34). Unerheblich ist dabei, ob das BAMF im vorliegenden Einzelfall ein Härtefalldossier erhalten und daraufhin zugesagt hatte, eine Härtefallprüfung tatsächlich durchzuführen (vgl BT-Drucks 18/9894 S 2 ff zu den Vereinbarungen über das Verfahren zwischen BAMF und den Kirchen, die bis 2018 Anwendung fanden). Welche Gründe das BAMF hier ggf in Abkehr von den Vereinbarungen bewogen haben, von der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht abzusehen, ist aus Sicht des Betroffenen unerheblich. Erst wenn im Einzelfall deutlich gemacht würde, dass die Aufnahme in einer Kirchengemeinde abweichend von der allgemeinen Vorgehensweise nicht (mehr) respektiert wird, kann anderes gelten. Das war hier nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt aber nicht der Fall.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin die ursprünglich erhobene Klage teilweise zurückgenommen hat.
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