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BSG 14.05.2020 - B 14 AS 73/19 B
BSG 14.05.2020 - B 14 AS 73/19 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - Klagerücknahmefiktion - Untätigkeit des Klägers - Betreibensaufforderung - Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 1 SGG, § 102 Abs 2 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 3 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Düsseldorf, 28. November 2017, Az: S 40 AS 1639/13, Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 24. Januar 2019, Az: L 2 AS 199/18, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Januar 2019 - L 2 AS 199/18 - aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Kläger wenden sich gegen eine vom LSG bestätigte Feststellung des SG, dass ihre Klagen gegen abschließende Bescheide zu Leistungen nach dem SGB II von Oktober 2010 bis September 2012 und Erstattungsbescheide mit einem Gesamtbetrag von 8256,83 Euro nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelten.
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Grundlage der Entscheidung war eine Betreibensaufforderung vom 4.2.2016, nach der das Verfahren durch "Stellungnahme zu dem Protokoll vom 21.07.2015" betrieben werden sollte und die Klage als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate ab Zustellung des Schreibens nicht betrieben sein sollte. Nach dem in Bezug genommenen Protokoll erörterte der Kammervorsitzende im Rahmen eines Termins die Bescheidlage für den streitbefangenen Zweijahreszeitraum und divergierende Rechtsansichten der Beteiligten dazu und verkündete anschließend einen Aufklärungsbeschluss wie folgt:
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"Der Klägerseite wird aufgegeben, für die einzelnen streitgegenständlichen Sechsmonatszeiträume darzulegen, was aus ihrer Sicht an Einnahmen und Ausgaben angefallen ist. Dabei soll auch dargestellt werden, was in den Anlagen zu den Widerspruchsbescheiden falsch sein soll.
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Der Vorsitzende regt an, diesen Vortrag erst einmal nur auf den Widerspruchsbescheid zu beziehen, der zwischen den Beteiligten unstreitig hier in der Sache ergangen ist und wo nicht die Problematik besteht, ob hier die Klage mangels Widerspruchsbescheid überhaupt zulässig ist."
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Auf die ihnen am 10.2.2016 zugestellte Betreibensaufforderung legten die Kläger mit am Folgetag beim SG eingegangen Schreiben vom 9.5.2016 Kontoauszüge für den Zeitraum von Ende Januar bis Anfang April 2012 sowie betriebswirtschaftliche Auswertungen einer selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 2 für März, Juni, September bis Dezember 2011 sowie Januar bis März 2012 unter Ausweis jeweils der Gesamtumsatzerlöse und der geltend gemachten Gesamtaufwendungen vor. Zudem machten sie Einwendungen gegen die Einkommensermittlung des Beklagten geltend, unter anderem unter Hinweis auf die nach ihrer Auffassung unzureichend berücksichtigte Beendung der Beschäftigung der Klägerin zu 1 im letzten streitbefangenen Quartal.
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Das SG forderte hierauf unter mehrfacher Erinnerung eine Stellungnahme des Beklagten an, gab den Beteiligten Gelegenheit zu weiteren Erklärungen und zur Vorlage zusätzlicher Unterlagen, unterbreitete einen übereinstimmend abgelehnten Vergleichsvorschlag und entschied sodann, dass die Klage "zurückgenommen ist". Dem innerhalb der gesetzten Frist eingegangenen Schriftsatz sei wieder kein "konkreter Vortrag" bezüglich der Einnahmen und Ausgaben in den jeweiligen Sechs-Monatszeiträumen zu entnehmen; die vorgelegten betriebswirtschaftlichen Auswertungen böten keine Übersicht für den Zeitraum von Oktober 2010 bis September 2012 (Urteil vom 28.11.2017).
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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 24.1.2019 rügen die Kläger einen Verstoß gegen § 102 Abs 2 Satz 1 SGG, der im Berufungsverfahren durch die Zurückweisung ihrer Berufung gegen das Urteil des SG fortgewirkt habe.
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II. Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 24.1.2019 sind zulässig, denn sie haben mit ihnen eine Verletzung von § 102 Abs 2 Satz 1 SGG hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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Die Beschwerden sind auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, weil das LSG zu Unrecht die Klagen aufgrund fingierter Klagerücknahme als erledigt und deshalb unzulässig angesehen hat und das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des eigentlich angezeigten Sachurteils ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist (vgl zum Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" bei Feststellung der Erledigung durch Berufungsrücknahme nur BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B - RdNr 4; bei Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG; BSG vom 5.8.2018 - B 8 SO 50/17 B - RdNr 4). Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).
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Nach § 102 Abs 2 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. In der sog Betreibensaufforderung ist der Kläger (ua) auf die sich aus Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs 2 Satz 3 SGG). Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 SGG).
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Hiernach ist bereits offen, ob der Entscheidung des SG eine wirksame Mitwirkungsaufforderung als Voraussetzung für die Fiktion der Klagerücknahme zugrunde liegt. Schon formal gelten im Hinblick auf die einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung hohe Anforderungen (vgl nur BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R - BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr 1, RdNr 49 mwN). Auch inhaltlich darf kein Zweifel darüber bestehen, was von dem Beteiligten erwartet wird (vgl zur Präklusionsvorschrift des § 296 Abs 1 ZPO nur BVerfG vom 9.2.1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 f; zu § 102 Abs 2 SGG vgl nur Leopold, SGb 2009, 458, 460 mwN; zu § 92 Abs 2 VwGO Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 RdNr 7 - Stand Oktober 2014). Das ist hier bereits zeitlich fraglich, weil dem Aufklärungsbeschluss vom 21.7.2015 nicht ohne Weiteres zu entnehmen ist, für welchen Bewilligungszeitraum nach Ansicht des SG ein Widerspruchsbescheid "unstreitig hier in der Sache ergangen ist" und Angaben der Kläger deshalb "erst einmal" nur dazu gefordert waren. Nicht zweifelsfrei ist ebenso, ob die angeforderte Aufstellung der Kläger dazu, "was aus ihrer Sicht an Einnahmen und Ausgaben angefallen ist", Nachweise zu den Einzelbeträge enthalten oder ob für die zum Zeitpunkt des Aufklärungsbeschlusses offenkundig noch nicht als abschließend aufgefasste Erhebung zunächst eine Zusammenstellung der monatlichen Gesamterlöse und -aufwendungen des Klägers zu 2. wie für einzelne Monate vorgelegt ausreichen sollte.
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Das kann indes dahinstehen, weil jedenfalls die Anforderungen an den Nachweis des fortbestehenden Rechtsschutzinteresses überspannt sind. Selbst wenn unterstellt wird, dass die Kläger im Anschluss an den Erörterungstermin vom 21.7.2015 Zweifel an ihrem Interesse an der Fortführung des Klageverfahrens geweckt haben (vgl zu den Voraussetzungen dafür nur BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 27 ff mwN) - was der Senat offen lässt -, bietet ihr Schriftsatz vom 9.5.2016 unter der gebotenen Berücksichtigung aller Umstände des Falls (vgl nur BVerfG <Kammer> vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - NVwZ 2013, 136 RdNr 34) keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass ein Rechtsschutzinteresse an der Fortführung des Verfahrens nicht mehr bestand.
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Dagegen spricht seitens der Klägerin zu 1 schon der ausdrückliche Einwand, dass der Beklagte bei der abschließenden Bewilligung von Leistungen Einkommen berücksichtigt hat, das sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bezogen habe. Im Hinblick auf den Kläger zu 2 stand zwischen den Beteiligten im Kern die Frage im Streit, ob Aufwendungen für die von ihm behauptete und dem Beklagten in Zweifel gezogene Anschaffung eines Gabelstaplers in Höhe von geltend gemachten 10 000 Euro erlösmindernd zu berücksichtigen sind oder nicht; dazu war weiterer Vortrag offenkundig nicht erforderlich. Dass im Übrigen die vorgelegten betriebswirtschaftlichen Auswertungen vom Beklagten ihrer Art nach als ungeeignet zur Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens des Klägers zu 2 angesehen worden wären, ist den Akten nicht zu entnehmen. Soweit sie teilweise verspätet vorgelegt worden sind, ist dies demgegenüber nicht ausschlaggebend. Der Zweck des § 102 Abs 2 Satz 1 SGG besteht nicht darin, den Kläger zu einer weiteren Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses (vgl nur BVerfG <Kammer> vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - NVwZ 2013, 136 RdNr 32). Alleine die verzögerte Vorlage von Einkommensnachweisen rechtfertigt solche Zweifel angesichts der substantiierten Auseinandersetzung mit den streitbefangenen Bescheiden im Übrigen hier nicht.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
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