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BSG 30.08.2017 - B 14 AS 12/17 B
BSG 30.08.2017 - B 14 AS 12/17 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung - Anspruch auf rechtliches Gehör - Berücksichtigung eines über vier Jahre zurückliegenden Schreibens ohne Gelegenheit zur Stellungnahme - Verweigerung einer Eingliederungsvereinbarung
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 62 SGG, § 103 Abs 1 GG, § 15 SGB 2
Vorinstanz
vorgehend SG Frankfurt, 24. September 2015, Az: S 26 AS 1101/13, Urteil
vorgehend Hessisches Landessozialgericht, 9. Dezember 2016, Az: L 7 AS 879/15, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. Dezember 2016 - L 7 AS 879/15 - aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Klägerin bezieht seit April 2011 Leistungen des beklagten Jobcenters. Umstritten ist der Bescheid des Beklagten vom 28.3.2013 an die Klägerin, in dem eine Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II durch einen Verwaltungsakt ersetzt worden ist. Ihr Widerspruch wurde zurückgewiesen; ihre Klage wurde abgewiesen; ihre Berufung hat das LSG nach § 153 Abs 4 SGG durch Beschluss zurückgewiesen.
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II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 160a Abs 5 SGG). Der Beschluss des LSG beruht auf einem Verfahrensfehler nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, der von der Klägerin entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet worden ist. Zu Recht beanstandet sie, dass das LSG ihre Berufung im vereinfachten Beschlussverfahren nach § 153 Abs 4 SGG unter Verwertung ua ihres Schreibens vom April 2012 zurückgewiesen hat, ohne sie vorher zur Verwertung dieses Schreibens anzuhören.
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Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG, außer wenn das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Dieses Anhörungserfordernis ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten der Beteiligten weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten kompensieren und der Wahrung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) dienen soll (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig ua, SGG, 12. Aufl 2017, § 153 RdNr 19).
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Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG, die bei einem Vorgehen im Beschlusswege diesen Anspruch sichern soll, liegt vor, wenn die Entscheidung auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten (sog Überraschungsentscheidung, BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190; BVerfG vom 8.2.1994 - 1 BvR 765/89 ua - BVerfGE 89, 381, 392; vgl BSG vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BSG vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26), oder wenn das LSG seine Pflicht verletzt hat, das Vorbringen der Beteiligten in seine Erwägungen miteinzubeziehen (BVerfG vom 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205, 216 f). Daraus folgt jedoch weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage im Rahmen der mündlichen Verhandlung oder einer sie ersetzenden Anhörung die endgültige Beweiswürdigung bereits darzulegen. Geboten ist vielmehr lediglich dann ein Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen brauchte (BSG vom 16.3.2016 - B 9 V 6/15 R - SozR 4-3100 § 60 Nr 7 RdNr 26 mwN).
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Die Voraussetzungen einer solchen Überraschungsentscheidung und damit eines Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind vorliegend durch die Verwertung des Schreibens der Klägerin vom April 2012 in dem angefochtenen Beschluss erfüllt.
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In diesem Beschluss hat das LSG die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 28.3.2013 bestätigt und zur Begründung ausgeführt, der Erlass eines eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts setze eine atypische Situation voraus, wie etwa die Weigerung der leistungsberechtigten Person eine entsprechende Vereinbarung abzuschließen. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall "eindeutig erfüllt", denn schon im Schreiben vom 12.4.2012 habe die Klägerin ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, keine neue Eingliederungsvereinbarung abschließen zu wollen, bevor nicht der Beklagte ihre verschiedenen Forderungen erfüllt habe. Nach dem Beratungsgespräch vom 26.10.2012 und dem anschließend übersandten Entwurf einer Eingliederungsvereinbarung, in dem der Beklagte nicht schematisch an den früheren Eingliederungsvereinbarungen festgehalten habe, habe die Klägerin schließlich in ihrem Schreiben vom 9.11.2012 unmissverständlich den Abschluss einer neuen Eingliederungsvereinbarung aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt.
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Wie diesem Gang der Begründung zu entnehmen ist, war das Schreiben der Klägerin vom 16.4.2012 (nicht wie das LSG anführt vom "12.4.2012") für die Entscheidung des LSG neben dem weiteren Schreiben vom November 2012 ein tragender Gesichtspunkt. Weder in dem Verwaltungsverfahren noch in den beiden gerichtlichen Instanzen - abgesehen von dem angefochtenen Beschluss - wurde das Schreiben der Klägerin vom April 2012 jedoch erwähnt.
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Einer Überraschungsentscheidung steht nicht entgegen, dass es sich bei dem April-Schreiben um ein eigenes Schreiben der Klägerin im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung mit dem Beklagten handelt, dessen Existenz und Inhalt ihr bekannt gewesen sein müssen. Denn selbst wenn das Schreiben im Sinne des LSG - kein Abschluss einer neuen Eingliederungsvereinbarung - auszulegen sein sollte, hat der Beklagte trotz dieses Schreibens gut ein halbes Jahr später im Rahmen des Beratungsgesprächs vom 26.10.2012 wieder Verhandlungen mit der Klägerin über eine solche Vereinbarung geführt, so dass er anscheinend davon ausging, das Schreiben vom April 2012 sei - aus welchen Gründen auch immer - überholt. Der ersetzende Verwaltungsakt vom 28.3.2013 erging nochmals fünf Monate später, nachdem die Klägerin ihre Position erneut im Schreiben vom 9.11.2012 dargelegt hatte. Weder in diesem Bescheid noch im weiteren Verfahren hat sich ein Beteiligter und auch nicht das SG in seinem klageabweisenden Urteil auf das Schreiben vom April 2012 bezogen, so dass es für die Klägerin überraschend war, wenn das LSG dann seine Entscheidung vom 9.12.2016 auf dieses Schreiben stützt, ohne ihr Gelegenheit zu geben, zu diesem nunmehr über vier Jahre zurückliegenden Schreiben Stellung zu nehmen. Dies folgt nicht nur aus den zeitlichen Abläufen, sondern trotz des durchgehenden Sozialrechtsverhältnisses zwischen den Beteiligten aus den konkreten Abläufen, die zu dem vorliegend umstrittenen Bescheid vom 28.3.2013 geführt haben, weil der Beklagte im Oktober 2012 ein neues Verfahren zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung mit der Klägerin begonnen hat.
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Dass die Entscheidung des LSG auf dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör beruhen kann, hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nachvollziehbar dargelegt. Denn im Rahmen einer möglichen Stellungnahme hätte sie die näheren Umstände und Hintergründe für dieses Schreiben sowie dessen Bedeutung für das Verwaltungsverfahren und den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung im Oktober 2012 erläutern können, zumal an die Rechtmäßigkeit eines eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakts erhebliche Anforderungen bestehen (vgl nur BSG vom 23.6.2016 - B 14 AS 42/15 R - BSGE <vorgesehen> = SozR 4-4200 § 15 Nr 6).
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Angesichts dieser Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör kann eine Entscheidung über die von ihr erhobenen weiteren Rügen und die Erörterung der Frage, ob Fehler bei der ordnungsgemäßen Durchführung der Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG als absoluter Revisionsgrund zu behandeln sind (verneinend: BSG vom 12.2.2009 - B 5 R 386/07 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 7; BSG vom 8.1.2013 - B 13 R 300/11 B - juris), dahingestellt bleiben.
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Der Senat macht von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil für eine abschließende Entscheidung in der Sache Tatsachenfeststellungen und eine Würdigung der genannten Schreiben notwendig sind.
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Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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