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BSG 06.10.2011 - B 14 AS 66/11 B
BSG 06.10.2011 - B 14 AS 66/11 B
Vorinstanz
vorgehend SG Hamburg, 11. Februar 2009, Az: S 59 AS 789/07, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Hamburg, 11. November 2010, Az: L 5 AS 80/09, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. November 2010 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Klägerin wendet sich gegen die Verwerfung einer Berufung als unzulässig.
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Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung eines Bewilligungsbescheides und die Erstattung von 1544,32 Euro. Das Sozialgericht hat ihrer Klage mit Urteil vom 11.2.2009 teilweise stattgegeben. Das Urteil ist der Klägerin am 14.7.2009 zugestellt worden. Mit einem elektronischen Telefax vom 31.7.2009, aufgegeben über den Faxdienst FaxNow.de legte die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Hamburg Berufung gegen das Urteil ein (Eingang beim LSG am selben Tag). Der Schriftsatz trägt Namen und Anschrift und die E-Mail-Adresse der Klägerin. Er endet mit dem Namen der Klägerin, enthält jedoch keine eingescannte Unterschrift.
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Mit Beschluss vom 11.11.2010 verwarf das LSG die Berufung als unzulässig. Es fehle an der rechtzeitigen schriftlichen Einlegung der Berufung (§ 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Auch bei einer elektronischen Übertragung einer Textdatei auf ein Telefaxgerät des Gerichts bedürfe es der Übertragung einer eingescannten Unterschrift. Die von der Klägerin gewählte Übertragungsart sei mit den von der Rechtsprechung anerkannten neuen Formen der Telekommunikation (Hinweis auf Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes <GmSOGB> vom 5.4.2000, SozR 3-1750 § 130 Nr 1) nicht vergleichbar, weil das im sog Mail-to-Fax-Verfahren erstellte Dokument im Ergebnis keine höhere rechtliche Wertigkeit gewinnen könne als der zugrunde liegende Ursprungstext. Dieses Ergebnis folge auch aus der Vorschrift des § 65a SGG, wonach lediglich bestimmte elektronische Dokumente fristwahrend seien, von denen die E-Mail ohne Signatur aber nicht erfasst werde.
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Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne der Klägerin nicht gewährt werden, weil die Jahresfrist des § 67 Abs 3 SGG abgelaufen und die Klägerin nicht durch höhere Gewalt gehindert gewesen sei, rechtzeitig wirksam Berufung einzulegen. Daran ändere nichts, dass die Klägerin nicht rechtzeitig auf den Mangel der Form hingewiesen worden sei, denn eine solche Verpflichtung des Gerichts ergebe sich (insbesondere aus § 65a Abs 2 Satz 3 SGG) nicht. Der Senat verkenne nicht, dass er das gesetzliche Erfordernis der Schriftform im Falle der Klägerin bisher nicht genügend beachtet habe und eine Abweichung von der bisherigen Praxis für die Klägerin unerwartet und überraschend erscheinen müsse. An den gesetzlichen Formerfordernissen vermöge dies jedoch nichts zu ändern.
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Am 30.11.2010 hat die Klägerin Anhörungsrüge erhoben und geltend gemacht, sie sei im vorliegenden Verfahren nicht angehört worden. Sie hat zugleich den Berufungsantrag wiederholt und das Schreiben handschriftlich unterzeichnet. Die Anhörungsrüge hat das LSG verworfen (Beschluss vom 1.12.2010).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss vom 11.11.2011 wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde zum Bundessozialgericht (BSG). Sie macht grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG), hilfsweise eine Abweichung von der Entscheidung des BSG (BSG Beschluss vom 15.10.1996 SozR 3-1500 § 151 Nr 2) und der Entscheidung des GmSOGB (Beschluss vom 5.4.2000, SozR 3-1750 § 130 Nr 1) geltend (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) sowie einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
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II. Auf die zulässige und begründete Beschwerde war gemäß § 160a Abs 5 SGG der angefochtene Beschluss des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Die Klägerin hat zutreffend einen Verstoß gegen § 67 SGG gerügt, auf dem der Beschluss beruhen kann. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte - ausgehend von seiner Rechtsauffassung, die Berufung sei nicht schriftlich innerhalb der Berufungsfrist eingelegt worden (§ 151 Abs 1 SGG) - Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist auch nach Ablauf der Jahresfrist des § 67 Abs 3 SGG gewähren müssen.
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Die Klägerin war ohne eigenes Verschulden verhindert, die Berufungsfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist (vgl zB BSGE 1, 227, 232; BSGE 61, 213 = SozR 1500 § 67 Nr 18; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN). Unter Berücksichtigung des aus Art 2 Abs 1 Grundgesetz iVm dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht dabei aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB BVerfGE 60, 1, 6; 75, 183, 190) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123, 126 f; 79, 372, 376 f). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99, 115; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN).
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So liegt es hier. Da die Klägerin die Schriftsätze weit vor Ablauf der Berufungsfrist übersandt hat, wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, sie auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der Übermittlung unter dem Gesichtspunkt des Schriftformerfordernisses hinzuweisen. Das LSG hat nicht nur die entsprechende Prüfung und anschließende Hinweise über mehr als ein Jahr unterlassen, sondern - was sich bereits aus der angefochtenen Entscheidung selbst ergibt - in der Zeit vor Einlegung der Berufung bis zum Erlass der angegriffenen Entscheidung eine Vielzahl von Verfahren, die von der Klägerin im Mail-to-Fax-Verfahren eingelegt waren, uneingeschränkt als zulässig angesehen. Selbst wenn der Klägerin also bekannt war oder bekannt sein konnte, dass die fristwahrende Einlegung von Schriftsätzen mittels Computerfax und Mail-to-Fax in der Rechtsprechung nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz <JKomG> vom 22.3.2005 - BGBl I 837) umstritten ist, durfte sie davon ausgehen, dass das LSG solche Bedenken nicht teilt. Die Klägerin hat schließlich innerhalb eines Monats nach vollständiger Kenntnisnahme der geänderten Rechtsauffassung des LSG die versäumte Rechtshandlung nachgeholt.
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Der Wiedereinsetzung steht der Ablauf der Frist des § 67 Abs 3 SGG nicht entgegen. Unter höherer Gewalt iS des § 67 Abs 3 SGG wird nicht nur wie im Haftungsrecht ein von außen kommendes nicht beeinflussbares Ereignis (Krieg, Naturkatastrophe, Reaktorunfall, Epidemie oÄ), sondern jedes Geschehen verstanden, das auch durch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Damit können sich etwa objektiv falsche oder irreführende Auskünfte einer Behörde nach der Rechtsprechung des BSG als höhere Gewalt iS des § 67 Abs 3 SGG darstellen (vgl BSGE 91, 39 = SozR 4-1500 § 67 Nr 1, RdNr 12; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, VII, RdNr 27; kritisch Littmann in Lüdtke, SGG, 3. Aufl 2008, § 67 RdNr 13 ).Gleiches gilt im Hinblick auf irreführendes, fehlerhaftes Verhalten durch ein Gericht (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 67 RdNr 14a; Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 67 RdNr 58; Ć urkovi ć in Hennig, SGG, § 67 RdNr 70). Die Jahresfrist des § 67 Abs 3 SGG verfolgt den Zweck, eine unangemessene Verzögerung von Prozessen zu verhindern und den Eintritt der Rechtskraft zu gewährleisten. Im Hinblick auf diesen Zweck ist sie ausnahmsweise dann nicht anwendbar, wenn die Überschreitung der Frist nicht in der Sphäre des Beteiligten lag, sondern allein dem Gericht zuzurechnen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn das Gericht innerhalb der Jahresfrist Handlungen vorgenommen hat, die aus Sicht der Beteiligten auf eine sachlich-rechtliche Behandlung des Rechtsbehelfs hindeuten (vgl Bundesgerichtshof Versäumnisurteil vom 15.12.2010 - XII ZR 27/09 - NJW 2011, 522, RdNr 37 mwN). Durch seine vorangegangenen Sachentscheidungen in anderen Verfahren hat das LSG ein entsprechendes Vertrauen der Klägerin auf die Rechtzeitigkeit ihrer Rechtsmittel begründet. Allein eine mögliche Überlastung des Gerichts, die dazu geführt hat, dass eine Entscheidung über die Frage der Schriftlichkeit der Berufung vorliegend nicht innerhalb der Jahresfrist getroffen worden ist, kann deshalb nicht zu einem Verlust des Rechts auf Wiedereinsetzung führen (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 69. Aufl 2011, § 234 RdNr 6).
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Der Senat hat von der in § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Beschluss des LSG wegen des Verfahrensfehlers aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Ob nach Inkrafttreten des JKomG an der Rechtsprechung des BSG zur Wahrung der Schriftform durch ein Computerfax ohne eingescannte Unterschrift (BSG Beschluss vom 15.10.1996, SozR 3-1500 § 151 Nr 2) festzuhalten ist und ob auch ein Versand einer Berufungsschrift im sog Mail-to-Fax-Verfahren als schriftlich iS des § 151 SGG anzusehen ist, weil das Einscannen einer Unterschrift technisch nicht möglich ist (vgl zum Computerfax BSG aaO S 3) und es im Übrigen ausreichend ist, wenn keine Zweifel an der Urheberschaft bestehen und das Gericht als Empfänger keinen Einfluss darauf hat, wann der Ausdruck eines Schriftstücks erfolgt, braucht nicht entschieden zu werden (ablehnend etwa Finanzgericht <FG> Köln Zwischenurteil vom 5.11.2009 - 6 K 3931/08 - DStRE 2010, 378 = EFG 2010, 618; FG München Urteil vom 7.7.2010 - 9 K 3838/09 - DStRE 2011, 914 = EFG 2010, 2108; FG Sachsen-Anhalt Urteil vom 1.12.2010 - 3 K 1160/06 - EFG 2011, 895). Nach Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist kommt es hierauf im weiteren Verfahren vor dem Berufungsgericht nicht mehr an. Von daher bestand kein Anlass, die Revision vorliegend wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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