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BSG 27.04.2010 - B 2 U 340/09 B
BSG 27.04.2010 - B 2 U 340/09 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Verletzung des rechtlichen Gehörs - Überraschungsentscheidung - abweichende Auslegung - fachtypisches Verständnis eines Rechtsbegriffs
Normen
§ 62 SGG, Art 103 GG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Dessau, 1. Juni 2005, Az: S 3 U 30/04
vorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, 8. Oktober 2009, Az: L 6 U 90/05, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 8. Oktober 2009 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
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Der Streitwert wird auf 55.775,34 Euro festgesetzt.
Gründe
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I. Der bei der Klägerin beschäftigte G. G. (Versicherter) erlitt am 26.4.2001 einen Arbeitsunfall. Deswegen setzte die Beklagte im Rahmen des Beitragsausgleichsverfahrens für das Umlagejahr 2002 auf der Grundlage von 20 Belastungseinheiten einen Beitragszuschlag von 55.775,34 Euro fest (Beitragsbescheid vom 17.4.2003, Widerspruchsbescheid vom 8.3.2004). Das Sozialgericht Dessau hat diese Beitragsfestsetzung aufgehoben, weil nicht zum Unternehmen der Klägerin gehörende Personen den Unfall allein verschuldet hätten (Urteil vom 1.6.2005). Das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 8.10.2009). Es könne dahingestellt bleiben, ob der Versicherte den Arbeitsunfall (mit)verschuldet habe. Der Arbeitsunfall hätte nur im Falle der späteren "Zahlung" der Verletztenrente erneut berücksichtigt werden dürfen. Mit "Zahlung" sei aber nicht die tatsächliche Erfüllung des Leistungsanspruchs, sondern die Leistungsbewilligung gemeint. Die Verletztenrente sei mit Bescheid vom 12.4.2002 bewilligt, die Beitragsumlage für das Jahr 2001 aber erst mit Bescheid vom 25.4.2002 erhoben worden.
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Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Beklagte die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne zuvor auf die Entscheidungserheblichkeit des Begriffs der "Zahlung" und darauf hinzuweisen, dass es insoweit abweichend vom Wortlaut ihrer Satzung auf die "Bewilligung" ankomme. Damit sei eine Überraschungsentscheidung getroffen worden.
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Grundgesetz <GG>, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
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Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und das angegriffene Urteil des LSG vom 8.10.2009 kann auf diesem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG beruhen.
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190). Er soll sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in seine Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). Art 103 Abs 1 GG gebietet zwar nicht, dass das Gericht vor seiner Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist (BVerfG vom 27.11.2008 - 2 BvR 1012/08 - Juris RdNr 6; BVerfGE 86, 133, 144, jeweils mwN). Auch aus § 62 SGG ergibt sich keine Pflicht des Prozessgerichts, vor einer Entscheidung die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte mit den Beteiligten zu erörtern, soweit sie bereits aus dem Verfahrensstand ersichtlich sind (vgl BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2). Eine Überraschungsentscheidung liegt dann vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bislang nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht rechnen musste (BSG vom 2.9.2009 - B 6 KA 44/08 R - Juris RdNr 17 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Das ist hier der Fall.
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Während das SG auf die Frage des Verschuldens abgestellt hat, ist die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass die Voraussetzungen der Ziffer 5 Satz 7 des Anhangs zu § 30 der Satzung der Beklagten nicht erfüllt seien, weil es an einer späteren "Zahlung" der Verletztenrente fehle. Die Beklagte musste zwar davon ausgehen, dass das LSG die rechtlichen Grundlagen für die Erhebung des Beitragszuschlags umfassend prüft. Sie konnte aber ohne vorherigen Hinweis nicht damit rechnen, dass der Begriff der "Zahlung" der Verletztenrente mit der "Bewilligung" dieser Leistung gleichgesetzt wird. Unter einer "Zahlung" ist typischerweise die Auszahlung einer geschuldeten Leistung und damit deren tatsächliche Erbringung zu verstehen. Mit der "Bewilligung" einer Leistung ist hingegen regelmäßig der den Leistungsanspruch feststellende Verwaltungsakt gemeint. Der Verwaltungsakt der "Bewilligung" ist die Rechtsgrundlage der Auszahlung der Sozialleistung. Will das Gericht - wie hier geschehen - vom fachtypischen Verständnis eines Rechtsbegriffs abweichen, dessen Auslegung noch nicht Gegenstand von Äußerungen des Gerichts oder der Beteiligten, auch nicht anderer Gerichte oder von Stimmen im Fachschrifttum war, muss es sicherstellen, dass sich die Beteiligten sachgemäß zu den bisher nicht erörterten entscheidungserheblichen Gesichtspunkten äußern können. Andernfalls trifft es eine Überraschungsentscheidung.
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Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass das LSG wegen eines weiteren Sachvortrags im wieder eröffneten Berufungsverfahren zu einer für die Beklagte günstigen Entscheidung gelangt.
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Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 und 3 Gerichtskostengesetz.
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