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BVerfG 07.05.2020 - 2 BvR 554/20
BVerfG 07.05.2020 - 2 BvR 554/20 - Teilweise erfolgreicher Eilantrag: Aussetzung der Vollstreckung einer Geldstrafe aufgrund einer Folgenabwägung - keine Wiedereinsetzung in Einspruchsfrist des § 410 StPO sowie keine Beiordnung eines Anwalts für fachgerichtliches Einspruchsverfahren, da grds kein statthaftes Ziel einer Verfassungsbeschwerde
Normen
Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 407 StPO, § 410 Abs 1 StPO
Vorinstanz
vorgehend LG Augsburg, 25. Februar 2020, Az: 3 Qs 72/20, Beschluss
vorgehend AG Augsburg, 22. Januar 2020, Az: 04 Cs 306 Js 132363/19, Beschluss
Tenor
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Die Vollstreckung der Geldstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 19. September 2019 - 4 Cs 306 Js 132363/19 - wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt.
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Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
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Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Hälfte zu erstatten. Insoweit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe. Im Übrigen wird der Antrag auf Prozesskosten-hilfe für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Gründe
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I.
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Der Beschwerdeführer leidet an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis, wegen der er sich in geschlossener Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet und unter Betreuung gestellt wurde. Er verfügt weder über eine eigene Wohnung noch nennenswerte Einkünfte. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers gegen die Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl, mit dem dieser zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt wurde, und gegen die Versagung einer Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist sowie die Ablehnung der Beiordnung seines Bevollmächtigten als Pflichtverteidiger.
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Mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Bevollmächtigte die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist und die rückwirkende Beiordnung als notwendigen Verteidiger sowie die vorläufige Unzulässigerklärung der Vollstreckung aus dem Strafbefehl.
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II.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG hat teilweise Erfolg.
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a) Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen insoweit vor, als die vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der gegen den Beschwerdeführer verhängten Geldstrafe begehrt wird.
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aa) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.
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Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die der Beschwerdeführer für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 255>; 99, 57 66>; stRspr).
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bb) Die Verfassungsbeschwerde erscheint nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts Augsburg und des Landgerichts Augsburg den Beschwerdeführer in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen. Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten des Beschwerdeführers aus.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, droht dem Beschwerdeführer in der Zwischenzeit die Vollstreckung der Geldstrafe und im Falle ihrer Nichteinbringung die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe. Dies stellt angesichts der besonderen persönlichen Einschränkungen des untergebrachten Beschwerdeführers und seiner erheblich beschränkten Möglichkeiten zur effektiven Wahrnehmung seiner prozessualen Rechte einen erheblichen Nachteil dar. Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde jedoch später als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte die Geldstrafe vorübergehend nicht vollstreckt werden. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung der Geldstrafe ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.
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b) Soweit mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist und die rückwirkende Beiordnung des Bevollmächtigten begehrt wird, ist der Antrag unzulässig, da er auf einen Inhalt gerichtet ist, den selbst die Entscheidung in der Hauptsache nicht haben könnte.
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aa) Dies gilt nicht nur im Hinblick darauf, dass einstweilige Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts weittragende Folgen haben können, sondern auch im Hinblick auf die besondere Funktion und Organisation des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG ist - anders als der vorläufige Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren - nicht darauf angelegt, möglichst lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz zu bieten (vgl. BVerfGE 94, 166 216 f.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2013 - 2 BvR 2541/13 -, Rn. 5; vom 13. Juli 2016 - 2 BvQ 26/16 -, Rn. 5; vom 12. Dezember 2016 - 2 BvR 2377/16 -, Rn. 13; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. August 2016 - 2 BvQ 38/16 -, Rn. 5; vom 22. September 2016 - 2 BvQ 52/16 -, Rn. 4; jeweils m.w.N.).
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bb) Hiernach kann der Antrag, dem Beschwerdeführer einstweilen Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gegen den Strafbefehl zu gewähren und ihm seinen Bevollmächtigten als notwendigen Verteidiger beizuordnen, keinen Erfolg haben, da insoweit mit dem Antrag ein prinzipiell unzulässiger Regelungsinhalt verfolgt wird.
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Der Antrag verlässt den Rahmen des § 32 BVerfGG, weil das Bundesverfassungsgericht entsprechende Rechtsfolgen im Verfahren der Hauptsache nicht bewirken könnte. Im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde könnte das Bundesverfassungsgericht im Fall der Stattgabe lediglich feststellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes durch welche Entscheidung verletzt wurde (§ 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), eine solche Entscheidung aufheben und an das zuständige Gericht zurückverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
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Ein Selbsteintrittsrecht steht dem Bundesverfassungsgericht nicht zu (vgl. hierzu Nettersheim, in: Barczak, BVerfGG, Erstausgabe 2018, § 95 Rn. 43). Ungeachtet der nicht unerheblichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Beschlüsse können die vom Beschwerdeführer im Eilrechtsweg begehrten Rechtsfolgen der Wiedereinsetzung und der Beiordnung eines notwendigen Verteidigers auch im Fall einer stattgebenden Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht nicht bewirkt werden. Eine Konstellation, in der dies ausnahmsweise anders liegen könnte, ist hier nicht gegeben.
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2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer nach § 34a Abs. 3 BVerfGG die notwendigen Auslagen für das einstweilige Anordnungsverfahren zu erstatten. Dadurch erledigt sich insoweit der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfGE 105, 239 252> m.w.N.).
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Im Übrigen ist der Antrag, dem Beschwerdeführer für das Verfahren nach § 32 BVerfGG Prozesskostenhilfe zu bewilligen, in entsprechender Anwendung von § 114 Satz 1 ZPO (vgl. BVerfGE 1, 109 112>; stRspr) abzulehnen, da insoweit die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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