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BVerfG 01.10.2019 - 1 BvR 552/18
BVerfG 01.10.2019 - 1 BvR 552/18 - Stattgebender Kammerbeschluss: Übergehen einer per Telefax eingereichten Klageerwiderung im vereinfachten Verfahren (§ 495a ZPO) unter Verletzung der Amtsaufklärungspflicht hinsichtlich des Zugangszeitpunktes verletzt Anspruch der betroffenen Prozesspartei auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 296a S 1 ZPO, § 495a S 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend AG Euskirchen, 16. Februar 2018, Az: 33 C 207/17, Beschluss
vorgehend AG Euskirchen, 13. Februar 2018, Az: 33 C 207/17, Urteil
Tenor
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Der Beschluss des Amtsgerichts Euskirchen vom 16. Februar 2018 - 33 C 207/17 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Euskirchen zurückverwiesen.
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Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten.
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Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 12.500 € (in Worten: zwölftausendfünfhundert Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtberücksichtigung eines Schriftsatzes in einem zivilgerichtlichen Verfahren.
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Die Beschwerdeführerin war Mieterin einer Wohnung und wurde nach Beendigung des Mietverhältnisses von ihrer Vermieterin auf Zahlung noch offener Betriebskosten in Anspruch genommen. Das Amtsgericht beschloss, über den Rechtsstreit im Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a Satz 1 ZPO zu entscheiden und gab der Beschwerdeführerin Gelegenheit, auf den Klageanspruch innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses zu erwidern.
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Einen Tag vor Ablauf der gesetzten Frist erließ das Amtsgericht das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil, mit dem es der Klage stattgab. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin die Anhörungsrüge nach § 321a Abs. 1 Satz 1 ZPO. Sie beanstandete die Entscheidung des Amtsgerichts vor Fristablauf und trug unter Vorlage des entsprechenden Sendeberichts vor, dass sie innerhalb der gesetzten Frist eine Klageerwiderung per Telefax beim Amtsgericht eingereicht habe, die bei der Entscheidung unberücksichtigt geblieben sei. Unter Berücksichtigung ihres Vorbringens hätte das Amtsgericht die Klage abweisen müssen.
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Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge durch mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 16. Februar 2018 zurück. Zwar habe es sein Urteil vor Fristablauf erlassen, dadurch aber das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin nicht verletzt. Diese habe innerhalb der laufenden Frist nicht Stellung genommen, sondern sich erstmalig mit ihrer Anhörungsrüge zum Klage-anspruch geäußert. Ihr Vorbringen habe, da nach Fristablauf eingegangen, bei der Entscheidung des Rechtsstreits nicht berücksichtigt werden müssen.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht habe das Vorbringen in der Klageerwiderung im angegriffenen Urteil nicht zur Kenntnis genommen. Die Klageerwiderung sei dem Amtsgericht rechtzeitig zugegangen, was durch den entsprechenden Telefax-Sendebericht belegt werde. Obwohl die Beschwerdeführerin dies in ihrer Anhörungsrüge dargelegt habe, sei das Amtsgericht im angegriffenen Beschluss auf die entsprechende Rüge nicht eingegangen. Angesichts der Ausführungen in der Anhörungsrüge seien jedenfalls Ausführungen dazu zu erwarten gewesen, dass und aus welchen Gründen die Klageerwiderung nicht zugegangen und auch nicht zu berücksichtigen gewesen sei.
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3. Die Kläger des Ausgangsverfahrens und das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie haben von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben vorgelegen.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des angegriffenen Beschlusses zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Insoweit liegen auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
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a) Der Beschluss verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Garantie des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 70, 288 293>; 96, 205 216>). Dementsprechend verletzt es das rechtliche Gehör, wenn ein Gericht einen ordnungsgemäß eingereichten Schriftsatz unberücksichtigt lässt (vgl. BVerfGE 67, 199 201 f.>; 72, 119 121>). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt jedoch keinen Schutz dagegen, dass ein Gericht Sachvortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lässt (vgl. BVerfGE 70, 288 294>; 96, 205 216>).
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b) Diesen Anforderungen genügt der angegriffene Beschluss nicht.
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aa) Gemäß § 296a Satz 1 ZPO können im Zivilprozess Angriffs- und Verteidigungsmittel nach Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, nicht mehr vorgebracht werden. Nach dieser Vorschrift ist verspätetes Vorbringen auch dann ausgeschlossen, wenn - wie im Ausgangsfall - keine mündliche Verhandlung stattgefunden, sondern das Gericht nach § 128 Abs. 2 Satz 2 ZPO einen dem Schluss der mündlichen Verhandlung entsprechenden Zeitpunkt bestimmt hat, bis zu dem die Parteien Schriftsätze einreichen können (vgl. etwa MüKo-ZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, § 296a Rn. 3).
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bb) § 296a Satz 1 ZPO selbst begegnet im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 55, 72 95>; 69, 126 136>; 69, 248 253>). Die Anwendung der Vorschrift durch das Amtsgericht im angegriffenen Beschluss verletzt jedoch das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin.
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Präklusionsvorschriften wie § 296a Satz 1 ZPO haben strengen Ausnahmecharakter, weil sie einschneidende Folgen für die nicht rechtzeitig vortragende Partei nach sich ziehen (vgl. BVerfGE 59, 330 334>; 62, 249 254>; 75, 302 312>). Ihre Anwendung ist deshalb einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht (vgl. BVerfGE 75, 302 312>). Es ist einer Partei nur zumutbar, dass ihr Vorbringen nicht berücksichtigt wird, wenn feststeht, dass sie gegen ihre Pflicht zur Prozessförderung verstoßen hat (vgl. BVerfGE 62, 249 254>).
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Diesen Anforderungen trägt die Annahme des Amtsgerichts, es habe das Vorbringen aus der Klageerwiderung deswegen nicht berücksichtigen müssen, weil die Klageerwiderung das Gericht erstmals gemeinsam mit der Anhörungsrüge erreicht habe, nicht ausreichend Rechnung. Das Amtsgericht hat nicht im gebotenen Umfang aufgeklärt, ob die Beschwerdeführerin gegen ihre Pflicht zur Prozessförderung verstoßen hat.
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Für den rechtzeitigen Zugang eines gefaxten Schriftsatzes bei Gericht genügt dessen Zwischenspeicherung im Empfangsgerät (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2006 - IV ZB 20/05 -, BGHZ 167, 214 219 Rn. 15 ff.>; vom 8. Mai 2007 - VI ZB 74/06 -, NJW 2007, S. 2045 2046 Rn. 12>). Den rechtzeitigen Zugang ihres Schriftsatzes bei Gericht muss grundsätzlich die Partei eines Rechtsstreits beweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 - VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 10). Es entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass ein Sendebericht den Zugang des Telefaxschreibens nicht beweist, sondern lediglich ein Indiz für dessen Zugang darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 - VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 12; Urteil vom 19. Februar 2014 - IV ZR 163/13 -, juris, Rn. 27).
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Das Gericht bleibt aber verpflichtet, die einer Kenntnis der Partei typischerweise nicht zugänglichen gerichtsinternen Vorgänge des Faxempfangs durch die im Einzelfall nötigen Maßnahmen von Amts wegen aufzuklären (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Juli 2008 - IX ZB 169/07 -, NJW 2008, S. 3501 Rn. 11; vom 8. Oktober 2013 - VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 13 f.). Dieser Aufklärungspflicht ist das Amtsgericht vor Erlass des Beschlusses nicht ausreichend nachgekommen. Weder dem angegriffenen Beschluss noch den Akten des Ausgangsverfahrens ist zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht mit dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Sendebericht betreffend die rechtzeitige Faxübersendung der Klageerwiderung an das Gericht auseinandergesetzt und entsprechende Aufklärungsbemühungen vorgenommen hat.
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c) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Das ist der Fall, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens das Amtsgericht zu einer anderen, der Beschwerdeführerin günstigen Entscheidung geführt hätte (vgl. dazu BVerfGE 7, 95 99>; 112, 185 206>). Hier ist nicht ausgeschlossen, dass das Amtsgericht nach Prüfung der Umstände der Faxübersendung zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass die Klageerwiderung rechtzeitig vor dem bestimmten Zeitpunkt vom Faxgerät des Gerichts empfangen und gespeichert worden und das Verfahren nach § 321a Abs. 5 ZPO fortzusetzen ist. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin bei Fortsetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung des Inhalts der Klageerwiderung obsiegt hätte.
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d) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist trotz des geringen Gegenstandswerts gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der Beschwerdeführerin angezeigt. Die Nichtberücksichtigung des Vorbringens in der Klageerwiderung deutet auf eine Verkennung des durch das rechtliche Gehör gewährten Schutzes und einen leichtfertigen Umgang mit der Rechtsposition der Beschwerdeführerin (vgl. dazu BVerfGE 90, 22 25>) durch das Amtsgericht hin, nachdem es sich trotz entsprechenden Vorbringens in der Anhörungsrüge nicht veranlasst gesehen hat, den etwaig rechtzeitigen Eingang der Klageerwiderung bei Gericht zu prüfen.
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2. Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts gerichtet ist, bedarf es keiner Entscheidung der Kammer, weil infolge der Aufhebung des angegriffenen Beschlusses des Amtsgerichts der Rechtsweg vor den Fachgerichten wieder eröffnet ist (vgl. BVerfGE 129, 1 37>; 134, 106 121>). Das Amtsgericht kann den rechtzeitigen Zugang des Faxschreibens prüfen und im Anschluss über einer Fortführung seines Verfahrens nach § 321a Abs. 5 ZPO entscheiden. Damit kann zugleich die Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin durch Erlass des Urteils vor Ablauf der gesetzten Frist geheilt werden.
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III.
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Danach war festzustellen, dass der Beschluss des Amtsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der Beschluss war aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Anhörungsrüge an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
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Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Dadurch erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin (vgl. BVerfGE 105, 239 252>). Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin beruht auf § 14 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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