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BVerfG 09.09.2016 - 1 BvR 2022/16
BVerfG 09.09.2016 - 1 BvR 2022/16 - Erlass einer einstweiligen Anordnung: Teilweise Aussetzung einer sitzungspolizeilichen Anordnung über die Beschränkung der Bildberichterstattung in einem Strafverfahren - Verletzung der Pressefreiheit (Art 5 Abs 1 S 2 GG) - Ablehnung des eA-Erlasses, soweit die Anonymisierungsverfügung angegriffen wird
Normen
Art 2 Abs 1 GG, Art 5 Abs 1 S 2 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 169 S 2 GVG, § 176 GVG
Vorinstanz
vorgehend OLG München, 28. Juli 2016, Az: 7 St 1/16, Entscheidung
nachgehend BVerfG, 27. Juni 2018, Az: 1 BvR 2022/16, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
nachgehend BVerfG, 25. August 2020, Az: 1 BvR 2022/16, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
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1. Die Ziffern I. und II. der Anordnung des Vorsitzenden Richters des 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts München vom 28. Juli 2016 - 7 St 1/16 - verletzen das Grundrecht der Antragstellerinnen auf Pressefreiheit gemäß Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 GG. Sie werden bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, in ihrer Wirksamkeit ausgesetzt.
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2. Im Übrigen wird die beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt.
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3. Der Freistaat Bayern hat den Antragstellerinnen die notwendigen Auslagen im Verfahren der einstweiligen Anordnung im Umfang ihres Obsiegens zu erstatten.
Gründe
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Im Eilrechtsschutzverfahren können die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde berücksichtigt werden, wenn absehbar ist, dass über eine Verfassungsbeschwerde nicht rechtzeitig entschieden werden kann (vgl. BVerfGE 111, 147 153>).
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Soweit sich die Antragstellerinnen gegen die Beschränkungen der Bildberichterstattung wenden, die über die Anonymisierungsanordnung in Ziffer III. der angefochtenen Anordnung hinausgehen, wäre die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
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1. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit denen die Anfertigung von Bildaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung untersagt oder Beschränkungen unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125 134 f.>; 119, 309 320 f.>). Beim Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende der Bedeutung dieser Grundrechte Rechnung zu tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 91, 125 138 f.>; 119, 309 321>). Bei der Ermessensausübung sind einerseits die Pressefreiheit und andererseits der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beteiligten, namentlich der Angeklagten und der Zeugen, aber auch der Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung zu beachten (vgl. BVerfGE 103, 44 64>; 119, 309 322>). Damit liegt es vom Grundsatz her nicht allein in der freien Entscheidung der Beteiligten, darüber zu entscheiden, ob Presse- und Rundfunk über sie berichten und sie dabei ablichten.
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2. Diesen Maßstäben wird die angegriffene Anordnung hinsichtlich der Ziffern I. und II. offensichtlich nicht gerecht.
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a) Soweit die Anordnung des Vorsitzenden in Ziffer I. verfügt, dass Bildaufnahmen abzubrechen sind, wenn eine Person mit Ausnahme von Richtern, Verteidigern und Vertretern des Generalbundesanwalts die Aufnahme erkennbar abwehrt, legt sie die Entscheidung über eine Bildberichterstattung ohne dies rechtfertigende Gründe allein in die Hand der Beteiligten und verletzt damit das Grundrecht der Antragstellerinnen auf Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.
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Ein vollständiges Verbot von Ton- und Rundfunkaufnahmen ist zudem nicht erforderlich, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch eine beschränkende Anordnung Rechnung getragen werden kann, insbesondere durch das Erfordernis einer mittels geeigneter technischer Maßnahmen erfolgenden Anonymisierung der Bildaufnahme solcher Personen, die Anspruch auf besonderen Schutz haben. Wird die Gefahr einer Identifizierung der abgebildeten Person durch die breite Öffentlichkeit insoweit ausgeschlossen, so kann das Risiko einer etwa verbleibenden Erkennbarkeit für den engeren Bekanntenkreis der Betroffenen hingenommen werden, soweit dem gewichtige Informationsinteressen der Öffentlichkeit gegenüberstehen und den Betroffenen nicht gerade aus der Erkennbarkeit für sein engeres Umfeld erhebliche Nachteile drohen (vgl. BVerfGE 119, 309 326>). Da derartige Nachteile weder aus der angegriffenen Anordnung noch sonst ersichtlich sind und weil angesichts des Tatvorwurfs sowie der politischen Geschehnisse in der Türkei auch von einem gewichtigen Informationsinteresse der Öffentlichkeit auszugehen ist, war es unverhältnismäßig, Bildaufnahmen von vornherein davon abhängig zu machen, dass die betreffende Person die Aufnahme nicht erkennbar abwehrt. Dies gilt entsprechend für die Aufnahme sonstiger Verfahrensbeteiligter wie Zeugen, Sachverständigen und Justizbediensteten. Auch ihrem Persönlichkeitsrecht kann in verhältnismäßiger Weise durch eine Anonymisierungsanordnung Rechnung getragen werden.
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b) Soweit sich die beantragte einstweilige Anordnung dagegen richtet, dass Film- und Bildaufnahmen der Mitglieder des Senats lediglich zu Beginn der Sitzung am 17. Juni 2016 und am 5. August 2016 sowie zur Urteilsverkündung, jeweils vor Aufruf der Sache, gestattet werden (Ziffer II. der angefochtenen Anordnung), wäre die Verfassungsbeschwerde ebenfalls offensichtlich begründet.
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Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist regelmäßig nicht allein auf die Angeklagten und die ihnen zur Last gelegten Taten gerichtet, sondern auch auf die Personen, die als Mitglieder des Spruchkörpers an der Rechtsfindung im Namen des Volkes mitwirken (vgl. BVerfGE 119, 309 322>). Dabei haben Personen, die im Gerichtsverfahren infolge ihres öffentlichen Amtes oder in anderer Position als Organ der Rechtspflege im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, nicht in gleichem Ausmaße einen Anspruch auf Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte wie eine von dem Verfahren betroffene Privatperson oder wie anwesende Zuhörer. Auch ihnen kann freilich Anspruch auf Schutz zustehen, etwa wenn Veröffentlichungen der von Abbildungen eine erhebliche Belästigung oder eine Gefährdung ihrer Sicherheit durch Übergriffe Dritter bewirken können (vgl. BVerfGE 119, 309 323 f.>). Die bloße Lästigkeit der Anwesenheit von Presse und Rundfunk als solche und damit notwendig verbundene untergeordnete Auswirkungen auf die Flüssigkeit des Verfahrensablaufs rechtfertigen demgegenüber das Verbot der Erstellung von Bildaufnahmen nicht. Soweit der Vorsitzende zur Begründung der Anordnung hier maßgeblich darauf verweist, dass es den Sitzungsablauf erheblich beeinträchtigen würde, wenn an jedem Sitzungstag erst abgewartet werden müsse, bis Fotografen und Kameraleute ihre Aufnahmen beenden, um mit der Sitzung beginnen zu können, begründet dies keine verhältnismäßige Einschränkung der Presse- und Rundfunkfreiheit der Antragstellerinnen. Sofern die Beeinträchtigungen des äußeren Ablaufs der Sitzung angesichts einer störenden Anzahl von Medienvertretern eine erhebliche Dimension erlangen, kann dem dadurch entgegengewirkt werden, dass nicht mehrere Kamerateams zugelassen werden, sondern eine sogenannte Pool-Lösung gewählt wird (vgl. BVerfGE 87, 334 340>; 91, 125 138>; 119, 309 327>).
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3. Soweit sich die beantragte einstweilige Anordnung gegen die Anonymisierungsverfügung in Ziffer III. der angefochtenen sitzungspolizeilichen Anordnung richtet, ist sie demgegenüber nach Maßgabe einer Folgenabwägung abzulehnen. Die abschließende Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Verfügung in der Sache verlangt insoweit eine Berücksichtigung zahlreicher Einzelumstände wie etwa der Frage, ob es sich bei den Angeklagten um Personen handelt, deren Bildnis nach den § 23 Abs. 1 Nr. 1 KunstUrhG zugrunde liegenden Wertungen ausnahmsweise ohne Einwilligung verbreitet werden darf, oder ob und wieweit sie sich im Rahmen des Strafverfahrens selbst in die Öffentlichkeit gestellt haben oder in zurechenbarer Weise gestellt wurden, sodass hierüber nicht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren entschieden werden kann. Bei demnach offenem Ausgang in der Hauptsache muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 108, 238 246>; 125, 385 393>; 126, 158 168>; 129, 284 298>; 132, 195 232 f. Rn. 87>; stRspr). Danach ist eine einstweilige Anordnung nicht zu erlassen.
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a) Würde die beantragte Anordnung ergehen und sich im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde dann aber erweisen, dass sie zu Unrecht ergangen ist, wären die Nachteile für die Angeklagten erheblich. Sie würden damit weiter in die Öffentlichkeit gezogen, als sie es aufgrund der Presse- und Rundfunkfreiheit hinzunehmen hätten, ohne dass sich dies wirksam rückgängig machen lässt. Müssen Angeklagte, für die die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Unschuldsvermutung streitet, im Falle einer Fernsehberichterstattung ihr nicht anonymisiertes Bildnis zeigen, kann hierin eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Persönlichkeitsrechts liegen, die im Einzelfall trotz späteren Freispruchs schwerwiegende und nachhaltige Folgen haben kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. April 2009 - 1 BvR 654/09 -, NJW 2009, S. 2117 2119>). Zugleich kann aufgrund dessen bei der Durchführung des Strafverfahrens ein Druck auf ihnen lasten, der im Ergebnis nicht gerechtfertigt war.
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b) Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, wenn die einstweilige Anordnung zu diesem Teil der Verfügung nicht ergeht, sich im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens aber erweisen sollte, dass die Anonymisierungsanordnung mit der Presse- und Rundfunkfreiheit nicht vereinbar ist. Die sitzungspolizeiliche Anordnung untersagt die bebilderte Berichterstattung aus dem Sitzungssaal nicht generell, sondern beschränkt sie lediglich im Hinblick darauf, dass die betreffenden Angeklagten zu anonymisieren sind. Damit wird dem öffentlichen Informationsinteresse und den Belangen der Pressefreiheit jedenfalls weitgehend Rechnung getragen. Die in dem Anonymisierungsgebot liegende Beschränkung der Berichterstattung wiegt nicht so schwer, als dass sie es rechtfertigte, dass das Gericht eventuell mögliche Verletzungen der aufgezeigten schutzwürdigen Belange der Angeklagten und der Rechtspflege zuzulassen hätte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2011 - 1 BvR 3048/11 -, juris, Rn. 10). Hinzu kommt, dass sich von den Angeklagten zahlreiche Bilder im Umlauf befinden, auf die die Presse möglicherweise zurückgreifen kann.
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4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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