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BVerfG 19.10.2011 - 2 BvR 754/10
BVerfG 19.10.2011 - 2 BvR 754/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz durch Nichtzulassung der verwaltungsprozessualen Revision trotz grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs 2 Nr 1 VwGO) - Berücksichtigung einer konventionswidrig überlangen Verfahrensdauer bei der Entscheidung in einem beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren
Normen
Art 20 Abs 3 GG, Art 2 Abs 1 GG, § 11 BDO, § 12 BDO, § 5 BDO, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, Art 6 Abs 1 MRK, § 132 Abs 2 Nr 1 VwGO
Vorinstanz
vorgehend BVerwG, 16. Februar 2010, Az: 2 B 62/09, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Februar 2010 - BVerwG 2 B 62.09 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
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Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
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...
Gründe
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A.
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Der Beschwerdeführer, dem von den Disziplinargerichten das Ruhegehalt aberkannt wurde, wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung seiner Nichtzulassungsbeschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht.
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I.
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Der Beschwerdeführer war seit 1975 - seit 1993 als verbeamteter Professor - an einer Musikhochschule in Thüringen tätig. Im Juni 2003 erhob der Freistaat Thüringen nach Durchführung eines disziplinarrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer Disziplinarklage zum Verwaltungsgericht wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung und beantragte seine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.
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1. Nachdem der Beschwerdeführer während des anhängigen gerichtlichen Verfahrens mit Ablauf des April 2006 in den Ruhestand getreten war, änderte der Freistaat im Mai 2006 seine Klage und beantragte nunmehr die Aberkennung des Ruhegehaltes. Diesem Antrag entsprach das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 14. Mai 2007. Die gegenüber dem Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe der sexuellen Belästigung seien durch die Zeugenvernehmungen erwiesen. Das Dienstvergehen wiege so schwer, dass es die Verhängung der disziplinarrechtlichen Höchstmaßnahme erforderlich mache.
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2. Die Berufung des Beschwerdeführers wies das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 6. November 2008 zurück. Der Ausspruch einer milderen Disziplinarmaßnahme sei auch nicht durch die Dauer des Disziplinarverfahrens gerechtfertigt; die Entfernung aus dem Dienst beziehungsweise die Aberkennung des Ruhegehaltes knüpfe an die Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu dem Beamten an. Für die Berücksichtigung der Dauer des Disziplinarverfahrens bestehe insoweit kein Raum. Die Revision wurde nicht zugelassen.
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3. Gegen die Nichtzulassung der Revision erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht, zu deren Begründung er die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie einen Verfahrensmangel geltend machte. Die annähernd vierjährige Dauer des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens könne in keinem Fall mehr als angemessen angesehen werden und verstoße gegen das in Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - garantierte Recht auf ein faires Verfahren.
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Das Bundesverwaltungsgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluss vom 16. Februar 2010 als unbegründet zurück (veröffentlicht u.a. bei Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 9). Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sei nicht im Hinblick auf die Dauer des Disziplinarverfahrens wegen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet. Es sei in der Rechtsprechung geklärt, dass eine überlange Verfahrensdauer nicht entlastend berücksichtigt werden könne, wenn der Beamte - wie hier - durch sein Fehlverhalten das Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn endgültig zerstört habe. Auch in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK habe die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, weil diese Vorschrift nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane und der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf disziplinarische Maßnahmen gegen Beamte keine Anwendung finde.
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II.
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Mit seiner gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz. Entgegen der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts sei die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf die Verletzung seines in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf die Erlangung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist zuzulassen gewesen.
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III.
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Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung und dem Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
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B.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt im Sinne des § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG. Der Verfassungsbeschwerde ist von der Kammer stattzugeben, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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Der angegriffene Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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I.
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Für das Disziplinarverfahren ergibt sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, soweit die Disziplinarbefugnis nicht durch die Disziplinarbehörden, sondern - dem Strafprozess vergleichbar - durch die als Disziplinargerichtsbarkeit fungierenden Verwaltungsgerichte ausgeübt wird (vgl. zur strafprozessualen Situation BVerfGE 112, 185 207 f.>).
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Die Rechtsschutzgarantie gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges (vgl. BVerfGE 92, 365 410>; 104, 220 231>; stRspr). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 284>; 78, 88 99>; 84, 366 369 f.>; 104, 220 232>; 112, 185 207 f.>). Dies ist insbesondere der Fall bei einer den Zugang zur nächsten Instanz erschwerende Auslegung und Anwendung des einschlägigen Verfahrensrechts, die schlechterdings nicht mehr vertretbar ist und sich danach als objektiv willkürlich erweist (vgl. BVerfGK 12, 341 343 f.>).
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II.
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Das Bundesverwaltungsgericht hat § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung) in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise falsch angewendet und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.
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1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Sache zu, wenn sie eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche, noch ungeklärte Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Klärungsbedürftig sind solche entscheidungserheblichen Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind. Hat das Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsfrage bereits geklärt, kann sich weiterer Klärungsbedarf ergeben, wenn neue Argumente ins Feld geführt werden, die das Bundesverwaltungsgericht zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. September 2010 - 1 BvR 2649/06 -, juris, Rn. 29 m.w.N.).
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2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage, ob und wenn ja inwiefern eine konventionswidrig überlange Verfahrensdauer im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Disziplinarverfahrens zugunsten des Beamten berücksichtigt werden kann, obwohl ohne Berücksichtigung der Verfahrensdauer ein endgültiger Vertrauensverlust festzustellen wäre und der Beamte aus dem Dienst entfernt werden müsste, wurde vom Bundesverwaltungsgericht in schlechterdings nicht mehr vertretbarer Weise verneint.
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a) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge, die innerhalb der deutschen Rechtsordnung - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - im Range eines Bundesgesetzes stehen (vgl. BVerfGE 111, 307 315 ff.>; BVerfGK 10, 234 239 f.>). Deutsche Gerichte haben die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Auch die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss zumindest zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts einfließen (vgl. BVerfGE 111, 307 324>).
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In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist seit der Entscheidung der Großen Kammer in der Rechtssache Eskelinen u.a. ./. Finnland (Urteil vom 19. April 2007 - 63235/00 -) geklärt, dass beamtenrechtliche Streitigkeiten dem Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt unterliegen, soweit der Staat nicht ausnahmsweise jeglichen gerichtlichen Rechtsschutz für solche Streitigkeiten ausgeschlossen hat und ausschließen durfte (vgl. a.a.O., Rn. 50 ff., 62). Wie durch die folgende Kammerrechtsprechung klargestellt wurde, gilt dies auch für beamtenrechtliche Disziplinarverfahren (vgl. EGMR, Urteil vom 30. September 2008 - 37829/05 -, Yilmaz ./. Türkei, Rn. 4, 19; Urteil vom 5. Februar 2009 - 22330/05 -, Olujic ./. Kroatien, Rn. 5, 34 ff., 44). Zuletzt stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer in einer beamtenrechtlichen Disziplinarstreitigkeit durch die Bundesrepublik Deutschland fest (Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04 -, Bayer ./. Deutschland, Rn. 37 ff.; veröffentlicht in nichtamtlicher deutscher Übersetzung in NVwZ 2010, S. 1015).
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b) Angesichts dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durfte das Bundesverwaltungsgericht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf eine etwaige Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht ohne Auseinandersetzung mit der genannten Rechtsprechung mit der Behauptung verneinen, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei im deutschen Disziplinarverfahren schon nicht anwendbar. Der angegriffene Beschluss lässt eine Befassung mit der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vollständig vermissen und bezieht sich ausschließlich auf ältere, mittlerweile überholte Entscheidungen und Literaturnachweise. Die Verneinung der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO durch das Bundesverwaltungsgericht war danach unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und damit willkürlich.
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