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BVerfG 06.09.2010 - 1 BvR 440/10
BVerfG 06.09.2010 - 1 BvR 440/10 - Stattgebender Kammerbeschluss: Verweigerung von Beratungshilfe für Widerspruch in sozialrechtlichem Verfahren verletzt Gewährleistung der Rechtswahrnehmungsgleichheit <Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1, Abs 3 GG> - hier: Widerspruch gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid bzgl Leistungen für Unterkunftskosten - unzutreffende fachgerichtliche Annahme, dass der Widerspruch allein einfach Tatsachenfragen betreffe
Normen
Art 20 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 3 Abs 1 GG, § 2 Abs 2 S 1 Nr 4 BeratHiG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10, § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10, § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10, § 20 SGB 2, § 22 SGB 2
Vorinstanz
vorgehend AG Bitterfeld-Wolfen, 22. Dezember 2009, Az: 3 II 1277/09, Beschluss
Tenor
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Der Beschluss des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 22. Dezember 2009 - 3 II 1277/09 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
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Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € festgesetzt.
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Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).
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I.
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1. Die Beschwerdeführerin, deren Lebensgefährte und die gemeinsame Tochter beziehen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
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Mit Antrag vom 22. Juli 2009 beantragte die Beschwerdeführerin Beratungshilfe für ein Widerspruchsverfahren. Im Antragsformular heißt es zum Gegenstand der beantragten Beratungshilfe: "Widerspruchsverfahren gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid d. ARGE v. 2.7.2009 über 1357,68 EUR; Mand. hat alle Belege zu Unterkunftskosten eingereicht; dennoch erfolgte rückwirkend Aufhebung d. Unterkunftskosten, Anhörungsverfahren ohne Erfolg".
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Die Rechtspflegerin wies den Beratungshilfeantrag zurück. Es lägen keine konkreten Umstände zur Notwendigkeit einer anwaltlichen Inanspruchnahme vor. Der Antragstellerin sei Selbsthilfe zumutbar. Eine Klärung des Sachverhalts hätte die Antragstellerin selbst führen können. Das Beratungshilfeanliegen habe bloß einfach gelagerte Tatsachenfragen aufgeworfen, so dass die anwaltliche Inanspruchnahme abzulehnen sei.
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Mit der Erinnerung erklärte die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin, dass es um die Klärung der Unterkunftskosten für den Zeitraum Mai/2008 bis Oktober/2008 gehe. Die ARGE fordere einen Betrag in Höhe von 1357,68 € zurück, weil sie rückwirkend den geschlossenen Mietvertrag als nicht wirksam ansehe. Es gehe daher um die rechtliche Problematik, ob ein Mietverhältnis bestanden habe oder nicht, nicht um einfach gelagerte Tatsachenfragen.
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Die Rechtspflegerin half der Erinnerung nicht ab. Das Amtsgericht wies die Erinnerung sodann durch richterlichen Beschluss zurück. Unter Bezugnahme auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 - führte es aus, dass Beratungshilfe auch im Widerspruchsverfahren gewährt werden könne, wenn es sich um konkrete rechtliche Probleme handele, die der Antragsteller nicht mit eigenen Rechtskenntnissen lösen könne. Die Gewährung von Beratungshilfe scheide dagegen unter dem Gesichtspunkt der Rechtswahrnehmungsgleichheit aus, wenn ein Bemittelter die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht zöge, etwa weil es sich um einfach gelagerte Tatsachenfragen oder um allgemeine Lebenshilfe handele, also etwa die Richtigstellung eines auch ohne Rechtskenntnisse durchschaubaren Sachverhalts. An diesen Grundsätzen gemessen scheide die Gewährung von Beratungshilfe vorliegend aus, weil die im Widerspruch geltend gemachten Einwendungen einfache Tatsachenfragen darstellten, nämlich die Frage des Abschlusses eines Mietvertrags, die selbst mit der Behörde geklärt hätte werden können. Hierüber sei gegebenenfalls Beweis zu erheben. Dass diese Thematik gegen den Regelfall schwierige Rechtsfragen aufwerfe, sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
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2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG. Das Amtsgericht gehe fälschlich davon aus, dass es sich bei dem dem Beratungshilfeanliegen zugrundeliegenden Sachverhalt um einen einfachen Sachverhalt handele, den die Beschwerdeführerin selbst mit der Behörde klären könne. Es sei vielmehr problematisch gewesen, ob der Mietvertrag rechtlich wirksam sei. Über besondere Rechtskenntnisse verfüge sie nicht. Im Übrigen sei die Sicherstellung des menschenwürdigen Lebens betroffen.
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3. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 122, 39 48 ff.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 21 ff.; NJW 2009, S. 3417 ff.).
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2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Das Amtsgericht hat bei der Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG verkannt.
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a) Aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG folgt das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 48 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 21). Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt zwar in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Entsprechend dem für die Prozesskostenhilfe geltenden Prüfungsmaßstab überschreiten die Fachgerichte jedoch dann den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung der Bestimmungen des Beratungshilfegesetzes zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einem unbemittelten Rechtsuchenden im Vergleich zum bemittelten Rechtsuchenden die Rechtswahrnehmung unverhältnismäßig eingeschränkt wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 25).
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Dabei ist der Unbemittelte nur einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. BVerfGE 122, 39 49>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 22). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist. Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl. 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 34).
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Ob die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe zur Beratung notwendig ist oder der Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe zu verweisen ist, hat das Fachgericht unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Insbesondere kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und der Rechtsuchende über besondere Rechtskenntnisse verfügt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 35 f.). Die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der Behörde stellt keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit dar, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris, Rn. 38 ff.).
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b) Auch wenn das Amtsgericht im Wesentlichen von diesen Grundsätzen ausgegangen ist, genügt seine Entscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Bereits die im letzten Satz der angefochtenen Entscheidung zum Ausdruck kommende Grundannahme, wonach im Regelfall keine schwierigen Rechtsfragen zu klären seien, steht im Widerspruch zu anderen gesetzlichen Wertungen, wonach das Sozialrecht eine Spezialmaterie ist, die besondere Kenntnisse und Erfahrungen erfordert (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, juris Rn. 31, 32).
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In jedem Fall ist die richterliche Auffassung, dass die im Widerspruch geltend gemachten Einwendungen einfache Tatsachenfragen darstellten, die die Beschwerdeführerin selbst mit der Behörde klären könne, offensichtlich unzutreffend und damit verfassungsrechtlich nicht haltbar. In der Erinnerung hat die Beschwerdeführerin darauf hingewiesen, dass es vorliegend um die Wirksamkeit eines Mietvertrags und somit um eine rechtliche Problematik gehe, nicht um einfach gelagerte Tatsachenfragen. Dieser Einwand trifft auch zu. So geht aus der Begründung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids hervor, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Mietzahlungen deshalb nicht als Kosten der Unterkunft anerkannt werden, weil die Beschwerdeführerin Miteigentümerin des von ihr bewohnten Hauses und eine Vermietung an sich selbst nicht möglich sei. Vor allem stellt sich bei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden, wie auch hier, stets die sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht häufig schwierige Frage, ob die strengen Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung eines begünstigenden Verwaltungsaktes (vgl. z.B. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis 3, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 SGB X) vorliegen.
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III.
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Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut über die Erinnerung zu entscheiden hat.
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IV.
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Der Gegenstandswert wird auf 8.000 € festgesetzt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. April 2007 - 1 BvR 66/07 -; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. September 2007 - 2 BvR 2151/06 -; stRspr).
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V.
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Die Anordnung der Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
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