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BFH 03.09.2018 - VIII B 15/18
BFH 03.09.2018 - VIII B 15/18 - AdV eines Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen für den Zeitraum ab 2012
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 100 Abs 1 S 1 GG, § 233a AO, § 237 Abs 1 S 1 AO, § 238 Abs 1 S 1 AO, § 69 Abs 2 S 2 FGO, § 69 Abs 3 S 1 FGO, § 128 Abs 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 16. Januar 2018, Az: 2 V 3389/16, Beschluss
Leitsatz
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1. NV: Auf der Grundlage der im Beschluss des BFH vom 25. April 2018 IX B 21/18 (BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415) bezeichneten erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 AO für ab 2015 festgesetzte Nachzahlungszinsen ist dem Antrag auf AdV von Bescheiden auch für Festsetzungen von Zinsen für vorangegangene Streitzeiträume ab 2012 zu entsprechen .
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2. NV: Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsfestsetzungen gemäß § 233a AO beziehen sich auf den in § 238 Abs. 1 AO festgelegten Zinssatz und damit auch auf die nach dieser Vorschrift vorzunehmende Festsetzung von Aussetzungszinsen .
Tenor
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Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Finanzgerichts Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 16. Januar 2018 2 V 3389/16 aufgehoben und die Vollziehung des Bescheids des Antragsgegners über Aussetzungszinsen vom 23. September 2016 bis zum Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheids ausgesetzt.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) begehren die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des gegen sie ergangenen Bescheids des Antragsgegners und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 23. September 2016 im Zusammenhang mit der AdV angefochtener Einkommensteueränderungsbescheide für die Jahre 2007, 2008 und 2010, nachdem das FA den Antrag auf Aussetzung des Zinsfestsetzungsbescheids abgelehnt und den dagegen eingelegten Einspruch zurückgewiesen hat. Die Zinsfestsetzung betrifft den Zeitraum November 2012 bis September 2016.
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Das Finanzgericht (FG) hat den Antrag der Antragsteller auf AdV des Zinsfestsetzungsbescheids durch Beschluss vom 16. Januar 2018 2 V 3389/16 abgelehnt. Mit der dagegen eingelegten --vom FG zugelassenen-- Beschwerde begehren die Antragsteller, unter Aufhebung des FG-Beschlusses die Vollziehung des Bescheids des FA über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 23. September 2016 wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsfestsetzung insbesondere mit Blick auf die gesetzliche Zinshöhe von monatlich 0,5 % auszusetzen.
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Das FA beantragt unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 9. November 2017 III R 10/16 (BFHE 260, 9, BStBl II 2018, 255) zur (bejahten) Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe bei der Festsetzung von Nachzahlungszinsen für Zeiträume bis 2013, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die gemäß § 128 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde der Antragsteller ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Vollziehungsaussetzung des angefochtenen Bescheids im beantragten Umfang.
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1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
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a) Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, und vom 28. Mai 2015 V B 15/15, BFH/NV 2015, 1117, Rz 11, m.w.N.). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (BFH-Beschluss in BFH/NV 2015, 1117, Rz 11, m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom 20. Juli 2012 V B 82/11, BFHE 237, 545, BStBl II 2012, 809, Rz 9, m.w.N., und in BFH/NV 2015, 1117, Rz 11; vom 27. Januar 2016 V B 87/15, BFHE 252, 187 m.w.N.).
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b) Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z.B. Bundesverfassungsgericht --BVerfG--, Urteil vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, BStBl I 1961, 63, unter B.II.; BFH-Beschlüsse vom 5. März 2001 IX B 90/00, BFHE 195, 205, BStBl II 2001, 405; vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367; vom 25. April 2018 IX B 21/18, BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415).
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aa) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Wirksamkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so hat es allerdings gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zur Folge, dass das Fachgericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf.
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bb) Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG-Beschluss vom 24. Juni 1992 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382, unter B.II.2.b; BFH-Beschluss in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367).
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cc) Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Zinshöhe betreffen die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung und sind damit verfahrensrechtlich gegen diese geltend zu machen (z.B. BFH-Beschluss vom 31. Mai 2017 I R 77/15, BFH/NV 2017, 1409, unter II.2.b, m.w.N.).
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2. Nach diesen Maßstäben sind im Streitfall entgegen der Auffassung des FG und des FA die Voraussetzungen für eine AdV des angefochtenen Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen nach Maßgabe des § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO als gegeben anzusehen.
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a) Die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Festsetzung von Aussetzungszinsen nach § 237 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) gründen sich auf die Höhe des hierfür in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gesetzlich festgelegten Zinssatzes von monatlich 0,5 %.
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Gegen diesen Zinssatz bestehen nach dem --zur Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO ergangenen-- BFH-Beschluss in BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415 "jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015" erhebliche verfassungsrechtliche und deshalb eine Aussetzung nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO rechtfertigende Bedenken, weil
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der gesetzlich festgelegte Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße überschreite und damit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei,
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die Typisierung des Zinssatzes für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 nicht mehr mit dem Interesse an Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung angesichts des gänzlich veränderten technischen Umfelds und des Einsatzes moderner Datenverarbeitungstechnik bei einer Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gerechtfertigt werden könne,
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es für die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO an einer nachvollziehbaren Begründung fehle,
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der Telos der Verzinsung --Abschöpfung des Nutzungsvorteils-- die gesetzliche Zinshöhe nicht rechtfertige, weil für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die zu zahlenden Zinsen durch Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge oder durch die Ersparnis von Aufwendungen auch tatsächlich zu erzielen, wegen der strukturellen Niedrigzinsphase im typischen Fall für den in Rede stehenden Zeitraum nahezu ausgeschlossen gewesen sei,
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ein potentieller Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen könne, angesichts des sehr niedrigen und teilweise sogar negative Zinssätze ausweisenden Refinanzierungsniveaus am Kapitalmarkt nahezu ausgeschlossen sei,
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•
die Kammerentscheidung des BVerfG (Beschluss vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115) keine abweichende Beurteilung rechtfertige, weil sie Zinszahlungszeiträume von 2003 bis 2006 ohne ein strukturell verfestigtes Niedrigzinsniveau betreffe,
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schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel bestünden, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Übermaßverbot entspreche, zumal die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung wirke.
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b) Diese Zweifel des BFH zur Verfassungsmäßigkeit der Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO beziehen sich ausschließlich auf den in § 238 Abs. 1 AO festgelegten Zinssatz und können folglich nicht anders für die Festsetzung von hier streitigen Aussetzungszinsen beurteilt werden, weil diese gleichermaßen nach Maßgabe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 AO festzusetzen sind (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 238 AO Rz 2).
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c) Auf der Grundlage der in der BFH-Entscheidung in BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415 bezeichneten erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 AO ist die begehrte AdV nicht nur auf die von dem angefochtenen Bescheid erfassten Zinsen im Streitzeitraum ab 2015, sondern auch auf die vorangegangenen Streitzeiträume ab 2012 zu erstrecken, weil
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die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für frühere Zeiträume bereits Gegenstand zweier Verfassungsbeschwerdeverfahren (Az. 1 BvR 2237/14 --betreffend Zeiträume nach 2009-- und 1 BvR 2422/17 --betreffend Zeiträume nach 2011--) vor dem BVerfG ist und
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die gegenteilige Auffassung des III. Senats des BFH in seinem Urteil in BFHE 260, 9, BStBl II 2018, 255 zur Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 AO für jene früheren Zeiträume mithin ebenfalls zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung ansteht.
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d) Aus den Gründen der BFH-Entscheidung in BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415 ist auch das berechtigte Interesse der Antragsteller an der AdV des angefochtenen Zinsbescheids bei Abwägung ihrer Interessen einerseits und derjenigen des Fiskus zu bejahen.
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Zum einen gehen die schwerwiegenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Regelung in § 238 Abs. 1 AO über das Maß an Zweifeln hinaus, welches üblicherweise von der Rechtsprechung für die Gewährung der AdV für erforderlich angesehen wird. Zum anderen ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass eine AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte; vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die Notwendigkeit einer Anpassung der Zinshöhe bekannt ist. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe jener Entscheidung verwiesen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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