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BFH 11.07.2013 - VI R 67/11
BFH 11.07.2013 - VI R 67/11 - Kindergeldanspruch bei gleichzeitig bestehendem Anspruch auf Familienleistungen nach irischem Recht
Normen
§ 70 Abs 2 EStG 2002, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 1 Nr 3 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, EWGV 1408/71, EWGV 574/72, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007, EStG VZ 2008
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 25. Mai 2011, Az: 12 K 3538/10, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Die Familienkasse setzt hinsichtlich der Gewährung von Kindergeld nur dann einen Vertrauenstatbestand, wenn ihrem Verhalten die konkludente Zusage zu entnehmen ist, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht.
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2. NV: Eine sog. Tatbestandswirkung, derentwegen die Familienkasse die Entscheidung über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs nach ausländischem Recht zu übernehmen hätte, setzt jedenfalls die Mitteilung einer Entscheidung der für kindergeldähnliche Leistungen zuständigen Behörde voraus, dass für das Kind ein anderweitiger Anspruch besteht.
Tatbestand
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I. Streitig ist, ob die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist und ob für ein im Inland wohnhaftes Kind ein Kindergeldanspruch auch dann besteht, wenn für das Kind zugleich nach irischem Recht Familienleistungen gewährt werden.
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Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und wohnt im Inland. In ihrem Haushalt wohnt seit September 2004 ihr während des Streitzeitraums Dezember 2006 bis August 2008 minderjähriges Enkelkind, für das ihr das Sorgerecht zusteht.
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Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gewährte der Klägerin für das Enkelkind seit September 2004 Kindergeld. Auch die in Irland wohnende Kindesmutter erhielt für das Kind von dem für die Zahlung irischer Familienleistungen zuständigen Träger Familienleistungen in der Zeit von Dezember 2006 bis August 2008. Nachdem dieser Träger die Familienkasse über die Gewährung der irischen Familienleistungen informiert hatte, hob diese die bisherige Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum auf. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, der Kindesmutter stehe im Streitzeitraum aufgrund einer Erwerbstätigkeit in Irland ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach irischem Recht zu, sodass der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld ruhe. Das daher zu Unrecht gewährte Kindergeld sei zurückzuzahlen.
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Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 25. Mai 2011 12 K 3538/10 --veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 627-- stattgegeben. Zwar gelte zugunsten der Klägerin keine gemeinschaftsrechtliche Prioritätsregel. Die Familienkasse sei jedoch nach Treu und Glauben an einer Aufhebung der Kindergeldfestsetzung gehindert.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Rechtsausführungen des FG, wonach der Rückforderung des Kindergeldes der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehe, halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die finanzgerichtlichen Feststellungen erlauben keine abschließende Prüfung, ob der Klägerin für den Streitzeitraum ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld zusteht.
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1. Eine Aufhebung oder Änderung der Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist vorliegend nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.
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Ob im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG unter bestimmten Voraussetzungen Vertrauensschutz gewährt werden kann, lässt der Senat dahinstehen (ebenso etwa Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 11. März 2003 VIII R 108/01, BFH/NV 2004, 16; Senatsbeschluss vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98, BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231). Denn die Familienkasse hat vorliegend keinen Vertrauenstatbestand gesetzt.
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a) Dazu bedarf es eines Verhaltens der Familienkasse, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen kann, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle (vgl. BFH-Urteile vom 14. Oktober 2003 VIII R 56/01, BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123; vom 3. März 2011 III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722; vom 22. September 2011 III R 82/08, BFHE 235, 336, BStBl II 2012, 734). Insoweit ist ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falles von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 2004 VIII R 23/04, BFH/NV 2005, 499, m.w.N.).
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b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Es ist schon nicht erkennbar, durch welches Verhalten die Familienkasse einen Vertrauenstatbestand gegenüber der Klägerin geschaffen haben soll. Die Familienkasse hat lediglich das Kindergeld auf das ihr von der Klägerin benannte Konto geleistet. Außerdem reicht die Weiterzahlung des Kindergeldes --selbst bei Kenntnis der Behörde von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldes führen-- allein nicht zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes aus (vgl. BFH-Beschluss vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486). Die übrigen vom FG angeführten (vermeintlich) besonderen Umstände stellen keine Gesichtspunkte dar, die ein Vertrauen hätten begründen können. Denn sie haben ihren Ursprung nicht in einem Verhalten der Familienkasse gegenüber der Klägerin und betreffen damit das zwischen diesen Beteiligten bestehende Steuerschuldverhältnis nicht.
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2. Da die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 EStG mithin hier nicht von vornherein nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist, ist entgegen der Vorentscheidung eine Prüfung erforderlich, ob und gegebenenfalls inwieweit der Klägerin ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld zusteht.
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a) Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG. Denn sie hatte nach den den Senat bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG einen Wohnsitz im Inland und das Enkelkind, für das sie Kindergeld beantragt hat, in ihren Haushalt aufgenommen.
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b) Der Kindergeldanspruch könnte jedoch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein.
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aa) Der Ausschluss des Kindergeldanspruchs gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG greift, wenn für ein Kind Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären und diese Leistungen dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind. Allerdings kann der Senat aufgrund fehlender Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob und gegebenenfalls für welche Monate des Streitzeitraums für das Enkelkind nach irischem Recht tatsächlich ein Anspruch auf Familienleistungen bestand und ob diese dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen sind.
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bb) Es ist schon zweifelhaft, ob der Kindesmutter --wie die Familienkasse meint-- hier nach irischem Recht Familienleistungen zu gewähren waren.
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Denn nach dem --den Senat nicht bindenden-- Schreiben des Bundeszentralamts für Steuern vom 7. Dezember 2011 St II 2-S 2280-PB/11/00014 (BStBl I 2012, 18) verlangt das irische Recht für einen Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen an die Mutter zumindest die Aufnahme des Kindes in ihren Haushalt. Dies ist aufgrund der Feststellungen des FG vorliegend fraglich.
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Der irische Träger für die Gewährung von Familienleistungen hat insoweit auch nicht mit Tatbestandswirkung festgestellt, der Kindesmutter stehe ein Anspruch auf Familienleistungen nach irischem Recht zu. Eine solche Tatbestandswirkung, derentwegen die Familienkasse die Entscheidung über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs zu übernehmen hätte, setzt jedenfalls die Entscheidung der für kindergeldähnliche Leistungen zuständigen Behörde voraus, dass für das Kind ein anderweitiger Anspruch besteht (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 65 EStG Rz 6; Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 65 Rz A 22, jeweils m.w.N.; zur Tatbestandswirkung allgemein vgl. etwa BFH-Urteil vom 15. März 2012 III R 82/09, BFHE 236, 539, BStBl II 2013, 226). An der Mitteilung einer solchen Entscheidung des für die Gewährung irischer Familienleistungen zuständigen Trägers fehlt es. Denn nach den mit zulässigen Revisionsrügen nicht angegriffenen und daher den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG stellte der Träger hier selbst in Frage, ob die Kindesmutter einen solchen Anspruch hatte und teilte in diesem Zusammenhang lediglich die Höhe der von ihr geleisteten Zahlungen mit.
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c) Sollte ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach irischem Recht bestehen, könnte die Konkurrenz zu dem Kindergeldanspruch statt nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG auch abweichend davon aufzulösen sein.
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aa) Dies könnte zum einen folgen aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern sowie durch die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1 vom 30. Januar 1997) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (Amtsblatt der Europäischen Union 2005 Nr. L 117, S. 1 vom 4. Mai 2005; zur Anwendung der VO Nr. 1408/71 sowie der VO Nr. 574/72 vgl. im Einzelnen BFH-Urteile vom 26. Juli 2012 III R 97/08, BFHE 238, 120, BStBl II 2013, 24; vom 5. Juli 2012 III R 76/10, BFHE 238, 87; jeweils m.w.N.).
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bb) Zum anderen könnte unter Beachtung der vom Gerichtshof der Europäischen Union in den Urteilen vom 20. Mai 2008 C-352/06, Bosmann (Slg. 2008, I-3827), vom 12. Juni 2012 C-611/10, Hudzinski und C-612/10, Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999) aufgestellten Grundsätze Differenzkindergeld zu gewähren sein (vgl. dazu auch das Senatsurteil vom heutigen Tage VI R 68/11, BFHE 242, 206).
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