BVerfG 04.10.2011 - 1 BvL 3/08 - Mangels einer den Anforderungen von § 80 Abs 2 S 1 Halbs 2 BVerfGG entsprechenden Darlegung unzulässige Richtervorlage zur Vereinbarkeit des § 2 S 2 Nr 4 InvZulG (idF vom 19.12.1998) mit Art 20 Abs 3 GG – zur Zulässigkeit einer konkreten Normenkontrolle, die ein das Recht der EU umsetzendes Gesetz betrifft
Normen
Art 100 Abs 1 S 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 267 Abs 1 AEUV, Art 288 Abs 2 AEUV, Art 288 Abs 3 AEUV, § 80 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 2 S 2 Nr 4 InvZulG 1996 vom 19.12.1998, StEntlG 1999
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 20. Dezember 2007, Az: 1 K 290/01, Vorlagebeschluss
nachgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 27. Februar 2012, Az: 1 K 1303/11, EuGH-Vorlage
nachgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 11. Juli 2013, Az: 1 K 398/13, Gerichtsbescheid
Leitsatz
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1. Die Vorlage eines Gesetzes, das Recht der Europäischen Union umsetzt, nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG an das Bundesverfassungsgericht
ist unzulässig, wenn das vorlegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung
eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraums ergangen ist.
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2. Das vorlegende Gericht muss hierfür gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof nach Art.
267 Abs. 1 AEUV einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist.
Gründe
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A.
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1
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Das Finanzgericht begehrt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, ob der in § 2 Satz 2 Nr. 4 des Investitionszulagengesetzes
(InvZulG) 1996 (BGBl I 1996, S. 60) in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999 (BGBl I 1998, S. 3779) vorgesehene rückwirkende
Ausschluss der Gewährung einer Investitionszulage für vor dem 28. September 1998 getroffene Investitionsentscheidungen wegen
unzulässiger Rückwirkung verfassungswidrig ist.
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I.
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2
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1. Das Investitionszulagengesetz regelt die Zahlung einer staatlichen Subvention (Investitionszulage) für bestimmte betriebliche
Investitionen in dem das Land Berlin und die neuen Bundesländer umfassenden Fördergebiet. Mit dem Investitionszulagengesetz
soll eine raschere und umfassendere Investitionstätigkeit privater Unternehmen im Fördergebiet erreicht werden (vgl. BTDrucks
12/3432, S. 69). Das Investitionszulagengesetz 1996 enthielt zunächst keine Einschränkungen für Investitionen im Landwirtschaftsbereich.
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3
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2. Am 22. März 1994 traf die Europäische Kommission eine Entscheidung (94/173/EG, ABl. EG 1994 Nr. L 79, S. 29), mit der Auswahlkriterien
der für eine Gemeinschaftsbeteiligung in Betracht kommenden Investitionen zur Verbesserung der Verarbeitungs- und Vermarktungsbedingungen
für land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse festgelegt wurden. Nach Nr. 2.1 des Anhangs der Entscheidung werden in den
Sektoren Getreide und Reis - ausgenommen Saatgut - Investitionen unter anderem für Müllereibetriebe von der Förderung ausgeschlossen.
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4
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Mit Schreiben vom 20. Oktober 1995 (Nr. SG[95] D/13086, wiedergegeben in ABl. EG 1996 Nr. C 29, S. 4) teilte die Kommission
den Mitgliedstaaten einen Gemeinschaftsrahmen und zweckdienliche Maßnahmen für staatliche Investitionsbeihilfen zur Verarbeitung
und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse mit. Ferner erklärte sie, dass sie keine Beihilfevorhaben mehr genehmigen
werde, welche die Bedingungen des Gemeinschaftsrahmens und der zweckdienlichen Maßnahmen nicht erfüllten. Als unvereinbar
mit dem Gemeinsamen Markt sei eine staatliche Beihilfe unter anderem für Investitionen anzusehen, die nach Nr. 2 des Anhangs
der Entscheidung der Kommission vom 22. März 1994 ausgeschlossen seien. Die Bundesregierung ordnete die Mitteilung als nicht
verbindliche Empfehlung nach Art. 189 Abs. 5 EGV (jetzt Art. 288 Abs. 5 AEUV) ein.
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5
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Am 12. Juni 1996 beschloss die Kommission, gegen Investitionsbeihilfen, die in Deutschland aufgrund bestehender Beihilferegelungen
mit regionaler Zielsetzung für die Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse gewährt werden könnten, das
Verfahren nach Art. 93 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 108 Abs. 2 AEUV) einzuleiten. Mit Schreiben vom 1. Juli 1996 (Nr. SG[96] D/6026,
wiedergeben in ABl. EG 1997 Nr. C 36, S. 13) setzte die Kommission die Bundesrepublik Deutschland hierüber in Kenntnis und
forderte sie, die übrigen Mitgliedstaaten und andere Beteiligte zur Äußerung auf.
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6
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Die Kommission entschied schließlich am 20. Mai 1998 (Nr. K [1998] 1712, ABl. EG 1999 Nr. L 60, S. 61), dass nationale Beihilferegelungen
mit dem Gemeinsamen Markt insofern unvereinbar seien, als sie dem Gemeinschaftsrahmen und den zweckdienlichen Maßnahmen für
staatliche Investitionsbeihilfen zur Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse zuwiderliefen, die Deutschland
mit Schreiben vom 20. Oktober 1995 mitgeteilt worden seien. Deutschland wurde aufgegeben, binnen zweier Monate bestehende
Beihilferegelungen zu ändern oder aufzuheben; Deutschland habe insbesondere dafür zu sorgen, dass keine staatlichen Investitionsbeihilfen
für Investitionen gewährt würden, die gemäß Nr. 2 des Anhangs der Entscheidung 94/173/EG vorbehaltlos ausgeschlossen seien.
Das Schreiben der Kommission wurde der Bundesregierung am 2. Juli 1998 zugestellt.
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7
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3. Mit Schreiben vom 18. September 1998 teilte hierauf das Bundesministerium der Finanzen den obersten Finanzbehörden der
Länder mit, dass ab dem 3. September 1998 unter anderem für die in Nr. 2 des Anhangs der Entscheidung 94/173/EG genannten
Investitionen keine Investitionszulagen nach dem Investitionszulagengesetz 1996 zur Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher
Erzeugnisse mehr gewährt werden dürften. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Änderung des Investitionszulagengesetzes
vorgesehen sei. Das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen wurde am 28. September 1998 im Bundessteuerblatt veröffentlicht
(BStBl I 1998, S. 1132).
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8
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4. Durch Art. 4 Nr. 1 des Steuerentlastungsgesetzes 1999 vom 19. Dezember 1998 wurde ein Ausschlusstatbestand in § 2 Satz
2 InvZulG als neue Nr. 4 eingefügt. Nicht begünstigt waren danach bestimmte Wirtschaftsgüter im Bereich der Verarbeitung und
Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die nach dem 2. September 1998 angeschafft oder hergestellt worden waren. Die
Vorschrift lautete nach der Änderung wie folgt:
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9
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§ 2 Art der Investitionen
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10
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1 Begünstigte Investitionen sind die Anschaffung und die Herstellung von neuen abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgütern des
Anlagevermögens, die mindestens 3 Jahre nach ihrer Anschaffung oder Herstellung
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11
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1. zum Anlagevermögen eines Betriebs oder einer Betriebsstätte im Fördergebiet gehören,
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2. in einer Betriebsstätte im Fördergebiet verbleiben und
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13
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3. in jedem Jahr zu nicht mehr als 10 vom Hundert privat genutzt werden.
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2 Nicht begünstigt sind
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1. geringwertige Wirtschaftsgüter im Sinne des § 6 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes,
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2. Luftfahrzeuge, die der Anspruchsberechtigte vor dem 5. Juli 1990 oder nach dem 31. Oktober 1990 bestellt oder herzustellen
begonnen hat,
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3. Personenkraftwagen und
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18
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4. Wirtschaftsgüter, die der Anspruchsberechtigte nach dem 2. September 1998 angeschafft oder hergestellt hat und die in Nummer
1.2 zweiter oder dritter Gedankenstrich oder in Nummer 2 des Anhangs der Entscheidung der Europäischen Kommission 94/173/EG
vom 22. März 1994 zur Festlegung der Auswahlkriterien für Investitionen zur Verbesserung der Verarbeitungs- und Vermarktungsbedingungen
für land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Entscheidung 90/342/EWG - ABl. EG Nr. L 79 S. 29 - (Land-
und Forstwirtschaftsentscheidung) genannt sind.
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19
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Die Neuregelung trat nach Art. 6 Abs. 2 des Steuerentlastungsgesetzes 1999 am Tag nach der Verkündung, dem 24. Dezember 1998,
in Kraft.
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20
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In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags heißt es zu der Neuregelung, die
Kommission habe Deutschland verpflichtet, bestehende Beihilferegelungen innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe der Kommissionsentscheidung
zu ändern oder aufzuheben; Deutschland müsse insbesondere dafür sorgen, dass keine Investitionsbeihilfen mehr für in der Entscheidung
der Kommission vom 22. März 1994 genannte Investitionen gewährt würden (vgl. BTDrucks 14/125, S. 44).
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21
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5. In der Folgezeit haben die Vertreter der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder die Frage erörtert, wie der
von der Kommission verwendete Begriff der "Gewährung" auszulegen sei. Hierunter könne nicht die "Auszahlung" der Steuervergünstigung
verstanden werden, vielmehr unterlägen den Einschränkungen des Gemeinschaftsrahmens nur Investitionen, die nach dem 2. September
1998 abgeschlossen würden.
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II.
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22
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1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, unterhält einen Mühlenbetrieb in den neuen
Bundesländern. Sie beantragte im September 1999 die Gewährung einer Investitionszulage für Investitionen aus dem Jahr 1998
in Höhe von rund 5,9 Millionen DM. Das Finanzamt setzte Investitionszulage lediglich für Investitionen in Höhe von ca. 1,9
Millionen DM fest. Die auf die darüber hinaus gehende Bemessungsgrundlage von 3,9 Millionen DM entfallende Investitionszulage
versagte das Finanzamt auf der Grundlage von § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999
mit der Begründung, die Investitionen seien erst nach dem 2. September 1998 durchgeführt worden. Der von der Klägerin erhobene
Einspruch hatte keinen Erfolg.
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23
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2. Mit der Klage begehrt die Klägerin die Gewährung der versagten Investitionszulage. Sie macht im Wesentlichen geltend, die
Einfügung von § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 verstoße gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Zwar sei der Anspruch
auf Investitionszulage erst mit Ablauf des Jahres 1998 entstanden, gleichwohl seien die Maßstäbe der echten Rückwirkung einschlägig.
Die Investitionsentscheidungen seien bereits vor dem 3. September 1998 und damit auch vor Verkündung der Änderung des § 2
InvZulG 1996 getroffen worden. Die von der Änderung betroffenen Subventionsnormen hätten ihre Lenkungsfunktion erreicht und
seien zu einer schutzwürdigen Vertrauensgrundlage geworden. Die damit verbundene echte Rückwirkung sei auch nicht ausnahmsweise
deshalb gerechtfertigt, weil Deutschland andernfalls ein gemeinschaftsrechtliches Vertragsverletzungsverfahren gedroht hätte.
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III.
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24
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Das Finanzgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG
1996 in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999 insoweit mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar ist, als die Vorschrift auch
Investitionen umfasst, bezüglich derer der Investor eine bindende Investitionsentscheidung vor dem 28. September 1998 getroffen
hat.
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§ 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 schließe Investitionszulage für die Wirtschaftsgüter aus, die nach dem 2. September 1998 angeschafft
worden seien, während die Klägerin ihre verbindlichen Investitionsentscheidungen vor dem 3. September 1998 getroffen habe.
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Die Regelung verstoße gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot des Art. 20 Abs. 3 GG, soweit danach auch Investitionen,
zu deren Durchführung der Investor seine Dispositionsentscheidung vor dem 28. September 1998 getroffen habe, von der Investitionszulage
ausgeschlossen seien.
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27
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Ein Investor genieße von dem Zeitpunkt seiner bindenden und nicht mehr ohne weiteres rückgängig zu machenden Dispositionsentscheidung
an Vertrauensschutz gegenüber Gesetzen, die die steuerliche Förderung der Investition einschränkten oder aufhöben. Das Vertrauen
des Investors in den Bestand der ihn begünstigenden Norm sei nach den Maßstäben der echten Rückwirkung geschützt, auch wenn
begrifflich in derartigen Fällen keine echte Rückwirkung vorliege. Die Grundlage des Vertrauens in den Bestand der Regeln
des Investitionszulagengesetzes 1996 vor Einfügung der streitigen Vorschrift sei auch nicht durch Rechtsakte oder Verlautbarungen
vor September 1998 erschüttert worden. Weder die Entscheidung der Kommission vom 22. März 1994, noch das Schreiben der Kommission
vom 20. Oktober 1995, noch die Einleitung des Hauptprüfverfahrens am 12. Juni 1996 oder die Aufforderung der Kommission an
die anderen Mitgliedstaaten und interessierten Parteien, sich zu äußern, hätten dies bewirken können. Erst die Veröffentlichung
der Entscheidung der Kommission vom 20. Mai 1998 im Bundessteuerblatt am 28. September 1998 habe ein schützenswertes Vertrauen
in den Fortbestand der Fördervorschriften entfallen lassen.
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28
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Die mit § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 verbundene Rückwirkung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Die in der Rechtsprechung
anerkannten Rechtfertigungsgründe lägen nicht vor. Es seien nicht verfassungsrechtlich oder aufgrund von Gemeinschaftsrecht
unwirksame Rechtsnormen neu geregelt worden. Auch seien keine zwingenden Gründe des Gemeinwohls erkennbar, die eine Rückwirkung
rechtfertigen könnten.
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Die Entscheidung der Kommission vom 20. Mai 1998 habe nicht geboten, Investitionen auch dann von der Gewährung von Investitionszulage
auszuschließen, wenn sie in Gestalt bindender Investitionsentscheidungen bereits begonnen worden seien. Zum einen habe die
Kommission die bisherigen nationalen Vorschriften für die Vergangenheit akzeptiert. Zum anderen hätte ein Vertragsverletzungsverfahren
nicht gedroht, weil eine Übergangsregelung mit dem Inhalt, dass bereits begonnene Investitionen förderfähig blieben, mit der
Kommissionsentscheidung vereinbar gewesen wäre. Die Kommission habe nur eine Verpflichtung mit Wirkung für die Zukunft ausgesprochen.
In der Anordnung vom 20. Mai 1998, entgegenstehende Beihilfevorschriften zu ändern oder aufzuheben, liege weder dem Wortlaut
noch dem Sinn nach eine Verpflichtung, alle Beihilfen auch für die Vergangenheit aufzuheben. Hätte die Kommission eine Rückwirkung
anordnen wollen, hätte sie dies ausdrücklich getan, zumal eine solche Anordnung nicht selbstverständlich sei und dem Gemeinschaftsrecht
Vertrauensschutzerwägungen nicht grundsätzlich fremd seien. Dass auch bereits begonnene Investitionen erfasst sein sollten,
sei der Entscheidung der Kommission nicht zu entnehmen, obwohl eine Investition in der Regel ein zwischen Planung und Abschluss
zeitlich gestreckter Tatbestand sei.
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30
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Das Verständnis der Kommissionsentscheidung durch die Finanzbehörden, das die Förderfähigkeit von bereits begonnenen Investitionen
nicht in den Blick nehme, verkenne den Charakter von Beihilfeentscheidungen. Die Alternative zur Gleichsetzung der "Gewährung"
mit der "Auszahlung" sei nicht allein die Zulagenfestsetzung für abgeschlossene Investitionen. Anzuknüpfen sei an die Verwirklichung
des materiellrechtlichen Subventionstatbestands, was in den Fällen, in denen lediglich Teile des Sachverhalts bereits vor
dem Stichtag verwirklicht worden seien, eine Gewährung von Investitionszulage nicht ausschließe. Schreibe die Kommissionsentscheidung
nicht ausdrücklich vor, Beihilfen auch für nur begonnene Investitionen zu versagen, bestehe kein Anlass, sie ohne zwingenden
Grund in dieser Weise auszulegen, wenn dies zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Rückwirkung führe.
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31
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Diese Annahme werde auch durch den späteren Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen im Agrarsektor vom 1. Februar 2000
(ABl. EG 2000 Nr. C 28, S. 2) bestätigt. Hiernach sollten - nach neuerlicher Rechtsänderung nun wieder zulässige - agrarwirtschaftliche
Beihilfen nicht für Arbeiten oder Tätigkeiten gewährt werden, die bereits vor der ordnungsgemäßen Beantragung begonnen oder
durchgeführt worden seien. Mithin gehe auch das Gemeinschaftsrecht davon aus, dass sich die lenkende Wirkung einer Subvention
bereits im Beginn einer Investition niederschlage. Sei die Gewährung einer Beihilfe ausgeschlossen, wenn die Investition bereits
begonnen worden sei, könne ein in die Zukunft gerichtetes Beihilfeverbot auch nur Investitionen umfassen, die noch nicht begonnen
hätten.
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32
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Selbst wenn Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren gedroht hätte, hätte dies die Neufassung des § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG
1996 nicht gerechtfertigt. Denn nicht jedes drohende Vertragsverletzungsverfahren rechtfertige eine echte Rückwirkung zu Lasten
des Bürgers. Beruhe die Gefahr eines Vertragsverletzungsverfahrens allein darauf, dass sich Deutschland auf Grund unsorgfältiger
Verfahrensweise im Gemeinschaftsrecht verstrickt habe, diene es nicht mehr dem Gemeinwohl, den Ausweg hieraus auf Kosten des
Vertrauensschutzes anzutreten; die erforderliche Abwägung zwischen dem Vertrauensschutz und der Abwehr eines Vertragsverletzungsverfahrens
falle deswegen zu Gunsten des Vertrauensschutzes aus.
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33
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Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof komme nicht in Betracht. Der Senat habe keine Zweifel an der Auslegung der maßgebenden
Regeln des Gemeinschaftsrechts einschließlich der Entscheidungen der Kommission. Er stelle auch die Vereinbarkeit der Entscheidungen
der Kommission mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht nicht in Frage. Der Rechtsverstoß sei im nationalen Recht begründet.
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IV.
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34
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Zur Vorlage haben das Bundesministerium der Finanzen namens der Bundesregierung, der Bundesfinanzhof, der Deutsche Industrie-
und Handelskammertag, der Verband Deutscher Mühlen und der Bundesverband mittelständische Wirtschaft Stellung genommen.
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1. Die Bundesregierung hat Zweifel an der Zulässigkeit der Vorlage, hält aber § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 jedenfalls für
verfassungsgemäß.
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36
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a) Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, dass europäische Rechtsakte, zu deren Umsetzung die Bundesrepublik Deutschland
verpflichtet sei, als abgeleitetes Gemeinschaftsrecht nicht der Überprüfung durch deutsche Gerichte unterlägen. Mit § 2 Satz
2 Nr. 4 InvZulG 1996 sei der deutsche Gesetzgeber lediglich den verbindlichen Vorgaben der Europäischen Kommission aus der
Entscheidung vom 20. Mai 1998 gefolgt. Die Kommission habe keinen Ermessensspielraum gelassen, indem sie eine konkrete Frist
zur Umsetzung der verlangten Änderungen gesetzt habe; Deutschland habe nur noch bis zum 2. September 1998 staatliche Investitionsbeihilfen
bewilligen dürfen.
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b) Da der Anspruch auf Investitionszulage entsprechend § 4 Satz 1 InvZulG 1993 nicht mit der Antragstellung, sondern mit dem
Ablauf des Wirtschaftsjahres entstehe, in dem die Investition vorgenommen worden sei, habe sich die Änderung des § 2 InvZulG
1996 auf keinen abgeschlossenen Sachverhalt bezogen. Es handele sich um eine tatbestandliche Rückanknüpfung und damit um eine
unechte Rückwirkung, die gerechtfertigt sei.
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Das Vertrauen desjenigen Investors, zu dessen Gunsten noch nicht sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien, sei nicht
ebenso schutzwürdig wie das Vertrauen eines Investors, der bereits sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt habe. Dies gelte
unabhängig davon, dass bereits mit der unternehmerischen Dispositionsentscheidung die Lenkungs- und Gestaltungsfunktion des
Gesetzes erreicht werde. Mit der Gesetzesänderung seien die verbindlichen Vorgaben der Kommissionsentscheidung vom 20. Mai
1998 in nationales Recht umgesetzt worden, ohne dass der Gesetzgeber - auch angesichts eines ansonsten drohenden Vertragsverletzungsverfahrens
- einen Handlungsspielraum gehabt hätte. Werde aus Vertrauensschutzaspekten nicht erst auf den Zeitpunkt der endgültigen Anspruchsentstehung,
sondern auf einen früheren Zeitpunkt abgestellt, müsse jedenfalls auf einen einheitlichen Zeitpunkt für sämtliche materiellrechtliche
Voraussetzungen, nämlich auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Investition, also die Anschaffung oder Herstellung, abgestellt
werden. Mit ihrer im Amtsblatt veröffentlichten Entscheidung vom 22. März 1994 und dem ebenfalls im Amtsblatt bekanntgegebenen
Schreiben vom 20. Oktober 1995 habe die Kommission deutlich gemacht, künftig Investitionen in Müllereibetriebe von der beihilferechtlichen
Förderfähigkeit ausschließen zu wollen. Betroffene Unternehmen hätten daher von den bevorstehenden Änderungen Kenntnis nehmen
können. Spätestens mit Einleitung des förmlichen Beihilfeprüfverfahrens sei das Vertrauen in den Fortbestand der später geänderten
Rechtslage zerstört gewesen. Jedenfalls müsse ein schützenswertes Vertrauen der Klägerin hinter den mit der Gesetzesänderung
verfolgten dringenden Gemeinwohlinteressen zurücktreten. Denn mit der Gesetzesänderung seien lediglich zwingende europarechtliche
Vorgaben umgesetzt worden. Hätte der Gesetzgeber den Vorgaben aus der Entscheidung der Kommission vom 20. Mai 1998 nicht fristgerecht
entsprochen, hätte er die unmittelbare Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens riskiert.
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Selbst wenn mit § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 eine echte Rückwirkung verbunden wäre oder die Regelung sich an den Maßstäben
für die Rechtfertigung einer solchen messen lassen müsste, wäre die Regelung nicht verfassungswidrig. Vertrauensschutz sei
nicht gefordert, wenn in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen werde, mit einer Änderung
der Regelung zu rechnen gewesen sei. Eben dies sei aus den bereits ausgeführten Gründen der Fall; vom Gesetzgeber könne nicht
verlangt werden, sehenden Auges eine Vertragsverletzung zu begehen, um das Vertrauen des Einzelnen in die Förderfähigkeit
von Investitionsentscheidungen zu schützen, obwohl dieser Kenntnis von den bevorstehenden Gesetzesänderungen hätte haben müssen
und die Möglichkeit gehabt hätte, seine Vertragsverpflichtung offen zu halten sowie vor der Investitionsentscheidung eine
verbindliche Auskunft des Finanzamts einzuholen.
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2. Der Bundesfinanzhof hat eine Stellungnahme des III. Senats übermittelt, die im Wesentlichen seine Rechtsprechung zur rückwirkenden
Änderung investitionszulagenrechtlicher Vorschriften wiedergibt.
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3.Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag und der Verband Deutscher Mühlen sind der Auffassung, die Änderung der tatbestandlichen
Voraussetzungen für die Gewährung einer Investitionszulage stelle eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte, echte Rückwirkung
dar. Bis zur Erkennbarkeit der Rechtsänderung nach Veröffentlichung der Kommissionsentscheidung vom 20. Mai 1998 sei der Klägerin
Vertrauensschutz zu gewähren. Diese habe zum Zeitpunkt ihrer bindenden Investitionsentscheidungen nicht mit einer Änderung
der subventionsgewährenden Norm rechnen müssen, die ihre Lenkungsfunktion bereits verwirklicht habe. Zwingende, die Rückwirkung
rechtfertigende Gründe des Gemeinwohls lägen nicht vor. Auf ein drohendes Vertragsverletzungsverfahren könne sich der Gesetzgeber
nicht berufen, weil der Staat von seinen Bürgern nicht erwarten könne, dass diese bessere Rechtskenntnisse als er selbst hätten.
Ein Vertragsverletzungsverfahren wäre zudem nicht zwingend Folge einer Anerkennung des Vertrauens der Klägerin gewesen. Mangels
ausdrücklicher Anordnung sei nicht davon auszugehen, dass die Kommission eine Rückwirkung habe anordnen wollen.
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4. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft ist der Ansicht, dass eine unzulässige echte Rückwirkung vorliege. Dem stehe
aber das Europäische Gemeinschaftsrecht zum Vertrauensschutz und dessen Anwendung auf staatliche Beihilfen gegenüber. Das
Bundesverfassungsgericht habe zu prüfen, ob es den teilweisen Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit aus Gründen der Durchsetzung
des Europäischen Gemeinschaftsrechts hinnehme oder insoweit dessen Anwendung verbiete.
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B.
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Die Vorlage ist unzulässig, weil das vorlegende Gericht nicht hinlänglich geklärt hat, ob die dem Bundesverfassungsgericht
zur Prüfung vorgelegte Norm des Investitionszulagengesetzes 1996 auf einer den deutschen Gesetzgeber bindenden Vorgabe des
Gemeinschaftsrechts beruht, und im Hinblick hierauf die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nicht hinreichend dargetan
hat.
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I.
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44
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Legt ein Gericht dem Bundesverfassungsgericht eine Norm vor, die in Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Union ergangen
ist, ist diese Vorlage wegen der vom Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen praktizierten Zurücknahme der Ausübung seiner
Gerichtsbarkeit entscheidungserheblich, wenn das Gesetz in Ausfüllung eines nationalen Umsetzungsspielraums ergangen ist.
Ob das Unionsrecht im jeweiligen Streitfall einen derartigen Umsetzungsspielraum lässt, hat das Fachgericht zu klären (1)
und sich mit den dabei auftretenden Fragen hinreichend substantiiert auseinanderzusetzen (2).
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1. Ein Gesetz, das Unionsrecht umsetzt, kann nur dann dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zur Entscheidung
über seine Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden, wenn es der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt. Solange
und soweit das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung von Unionsrecht und von zwingendes Unionsrecht umsetzendem nationalem
Recht am Maßstab des Grundgesetzes zurücknimmt, ist die Frage der Vereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz nicht entscheidungserheblich,
da sie weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Vorlagegericht zu beantworten ist. Die Vorlage eines Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht
ist in einem solchen Fall unzulässig. Das Fachgericht hat daher vor einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG zu klären,
ob das Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber einen die verfassungsgerichtliche Prüfung ermöglichenden Spielraum belässt.
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a) Über die Anwendbarkeit von Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher
Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, übt das Bundesverfassungsgericht - jenseits des hier nicht in Rede stehenden
Ultra-vires- und Verfassungsidentitätsvorbehalts (vgl. dazu BVerfGE 123, 267 353 f.>; 126, 286 302 f.>) - seine Gerichtsbarkeit
nicht mehr aus und überprüft dieses Recht mithin nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäische
Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz
jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte
generell verbürgt (vgl. BVerfGE 73, 339 387>; 102, 147 162 ff.>; 118, 79 95>). Dies gilt auf der Grundlage von Art. 23
Abs. 1 GG nicht nur für Verordnungen, sondern auch für Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV und an die Bundesrepublik Deutschland
gerichtete Beschlüsse der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV (früher: Entscheidungen der Kommission nach Art. 249 Abs. 4
EGV). Auch eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird
insoweit nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen, als das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern
zwingende Vorgaben macht (vgl. BVerfGE 118, 79 95 f.>; 125, 260 306 f.>).
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b) Stellt sich einem Fachgericht die Frage der Vereinbarkeit eines für sein Verfahren entscheidungserheblichen, aus dem Unionsrecht
abgeleiteten Gesetzes mit den Grundrechten, ist es daher zunächst seine Aufgabe - gegebenenfalls durch eine Vorlage an den
Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Europäischer Gerichtshof) nach Art. 267 Abs. 1 AEUV - zu klären, ob das
Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt. Erst wenn dies feststeht, kann das den Umsetzungsspielraum
ausfüllende Gesetz der Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen und damit eine Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht in Betracht kommen.
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aa) Die Pflicht des vorlegenden Gerichts zur Klärung der Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Vorgaben für den deutschen
Gesetzgeber folgt aus dem Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit. Eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist nur
zulässig, wenn sie für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens entscheidungserheblich ist. Insofern muss zum einen das vorgelegte
Gesetz für das von dem vorlegenden Gericht zu entscheidende Verfahren entscheidungserheblich sein. Da das Bundesverfassungsgericht
nur mit für das Ausgangsverfahren Entscheidungserheblichem befasst werden soll, setzt die Vorlage eines vom Gericht als verfassungswidrig
beurteilten Gesetzes zum anderen voraus, dass das Bundesverfassungsgericht über die aufgeworfene Verfassungsrechtsfrage entscheiden
kann. Letzteres ist nicht der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht sich mit Rücksicht auf der Europäischen Union übertragene
Hoheitsrechte einer Prüfung des deutschen Umsetzungsrechts am Maßstab des Grundgesetzes enthält. Dann vermag die Vorlage an
das Bundesverfassungsgericht nichts zur Lösung des Ausgangsfalls beizutragen; das Ergebnis einer solchen Vorlage ist nicht
entscheidungserheblich.
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bb) Im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ist es vorrangig Aufgabe der Fachgerichte, die Frage eines unionsrechtlichen
Umsetzungsspielraums für den nationalen Gesetzgeber zu klären, gegebenenfalls durch Vorlage an den Europäischen Gerichtshof
nach Art. 267 Abs. 1 AEUV.
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(1) Besteht Unklarheit über die Bedeutung von Unionsrecht, kommt eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267
Abs. 1 AEUV in Betracht, anlässlich derer der Europäische Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren über die Gültigkeit und
die Auslegung von Unionsrecht, aber auch über die Handlung eines Unionsorgans, wie etwa über die Frage der Bindung eines Mitgliedstaats
an einen Beschluss der Kommission nach Art. 288 Abs. 4 AEUV, befinden kann.
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Eine Pflicht zur Vorlage zum Europäischen Gerichtshof besteht nach Unionsrecht ausschließlich für letztinstanzliche Gerichte,
deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten werden können (Art. 267 Abs. 3
AEUV). Auch letztinstanzliche Gerichte eines Mitgliedstaates sind nicht zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens
verpflichtet, wenn die betreffende unionsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof
war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt. Ein
letztinstanzliches nationales Gericht darf einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage nur verneinen,
wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Europäischen Gerichtshof die gleiche
Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das letztinstanzliche innerstaatliche Gericht davon
absehen, diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen und sie stattdessen in eigener Verantwortung beantworten (acte-clair-Doktrin,
vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, S. 3415; BVerfGE 82, 159 193>).
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(2) Auch Instanzgerichte sind allerdings zu einer Klärung unionsrechtlicher Fragen durch eine Vorabentscheidung beim Europäischen
Gerichtshof verpflichtet, wenn unklar ist, ob und inwieweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum
belässt, sofern Anlass zur Vorlage des nationalen Umsetzungsrechts wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nach Art. 100
Abs. 1 Satz 1 GG besteht.
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Dass Art. 267 Abs. 2 AEUV den nicht letztinstanzlichen nationalen Gerichten aus unionsrechtlicher Sicht insofern einen größeren
Entscheidungsspielraum einräumt, widerspricht dem nicht, weil die hier in Rede stehende Vorlagepflicht ihre Grundlage im Vorbehalt
der Entscheidungserheblichkeit nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG (s.o. aa) und damit im nationalen Verfassungsprozessrecht findet.
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Diese Pflicht der Instanzgerichte zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV korrespondiert mit
der im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht vorrangig den Fachgerichten zukommenden Kompetenz und Aufgabe, das einfache
innerstaatliche Recht auszulegen (vgl. BVerfGE 79, 1 24>; 86, 382 386 f.>; 113, 88 103>) und gegebenenfalls die Auswirkungen
des Unionsrechts auf eine einfachrechtliche innerstaatliche Rechtsvorschrift zu beurteilen. Es liegt dabei in der Kompetenz
der nationalen Fachgerichte, das Unionsrecht auszulegen, soweit es für ihre Entscheidung darauf ankommt. Ebenso wie die Auslegung
und Anwendung des einfachen Rechts in erster Linie den Fachgerichten obliegt, sind sie auch zur Auslegung und Anwendung des
Unionsrechts berufen (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09 -, juris, Rn. 89; ferner
BVerfGE 126, 286 316>). In diesem Rahmen haben sie auch die Verbindlichkeit unionsrechtlicher Vorgaben für den nationalen
Gesetzgeber zu klären und erforderlichenfalls den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Die Beurteilung der Auswirkungen der
vom Europäischen Gerichtshof geklärten unionsrechtlichen Fragen auf das nationale Recht ist sodann wiederum in erster Linie
Aufgabe der Fachgerichte und nicht des Bundesverfassungsgerichts. Es entspräche hingegen nicht der im Grundgesetz angelegten
Kompetenzverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten, wenn sie im Verhältnis zum Unionsrecht ungeklärtes
nationales Umsetzungsrecht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen dürften und so das Bundesverfassungsgericht
seinerseits zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV veranlassen könnten, sofern es nur
auf diese Weise seinen verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang bestimmen könnte.
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cc) Die Pflicht der Fachgerichte, vor einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht Inhalt und Verbindlichkeit des Unionsrechts,
gegebenenfalls durch Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu klären, steht nicht in Widerspruch
zu der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Möglichkeit der Fachgerichte, zwischen Normenkontrolle nach Art. 100 Abs.
1 Satz 1 GG und Vorlage zum Europäischen Gerichtshof zu wählen, da dies andere Fallkonstellationen betrifft.
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Steht in Streit, ob eine im Ausgangsverfahren entscheidungserhebliche Rechtsvorschrift mit Unionsrecht und Verfassungsrecht
vereinbar ist, gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts
grundsätzlich keine feste Rangfolge unter den vom Fachgericht gegebenenfalls einzuleitenden Zwischenverfahren nach Art. 267
Abs. 2 oder 3 AEUV und der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG. Ein Gericht, das sowohl unionsrechtliche als auch verfassungsrechtliche
Zweifel hat, darf daher nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden, welches Zwischenverfahren es zunächst einleitet
(vgl. BVerfGE 116, 202 214>). Im Unterschied dazu geht es bei der hier in Frage stehenden Bindung des nationalen Gesetzgebers
an vorrangiges Unionsrecht um die Bestimmung der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts und damit um eine für die
Zulässigkeit der Normenkontrolle zwingend zu klärende Vorfrage.
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c) Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle ist grundsätzlich
die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 2,
181 190 f., 193>; 88, 187 194>; 105, 61 67>). Dies folgt aus der in erster Linie den Fachgerichten vorbehaltenen Aufgabe
zur Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts wie auch des Unionsrechts.
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Für die Frage nach der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage, die Unionsrecht umsetzendes nationales Recht zum Gegenstand
hat, ist eine so weitgehende Zurücknahme der Kontrolle der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts jedoch nicht gerechtfertigt.
Denn mit der Entscheidung über die Reichweite der unionsrechtlichen Bindung des nationalen Gesetzgebers wird zugleich über
die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes befunden. Die Bestimmung der Voraussetzungen
für die Ausübung der eigenen Gerichtsbarkeit und damit die Beantwortung der Frage, ob es das nationale Recht am Maßstab der
Grundrechte des Grundgesetzes misst oder darauf verzichtet, muss im Verhältnis zum vorlegenden Gericht in der Hand des Bundesverfassungsgerichts
verbleiben. Die Entscheidung eines Fachgerichts darüber, ob und inwieweit Unionsrecht im Sinne eines acte-clair dem Gesetzgeber
einen Umsetzungsspielraum belässt, ist daher nicht nur einer Offensichtlichkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht
unterworfen. Diesem steht insoweit vielmehr ein weitergehendes Überprüfungsrecht zu (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats
vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09 -, juris, Rn. 90). Andernfalls hätte es das Fachgericht in der Hand, auch mit einer nicht
überzeugend begründeten Annahme eines dem nationalen Gesetzgeber verbleibenden Umsetzungsspielraums eine inhaltliche Prüfung
durch das Bundesverfassungsgericht zu veranlassen, sofern sie sich nur nicht als offensichtlich unhaltbar erweist.
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Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht das Unterlassen einer Vorlage zum Europäischen Gerichtshof durch
ein letztinstanzliches Gericht im Rahmen einer auf einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde
lediglich auf eine unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV kontrolliert (vgl. zuletzt BVerfGE 126,
286 315 ff.>; BVerfG, Beschlüsse des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 -, NJW 2011, S. 1427 1431> [Tz. 104
f.] und vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09 -, juris, Rn. 98). Denn in jenen Fällen geht es nicht um die Entscheidung über die
Ausübung der verfassungsgerichtlichen Prüfung bei einer Normenkontrolle, sondern um die auch sonst nur in weiten Grenzen überprüfte
Handhabung des Prozessrechts durch die Gerichte im Hinblick auf die Wahrung des gesetzlichen Richters.
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2. Mit der Pflicht des Gerichts, vor der Vorlage eines Unionsrecht umsetzenden Gesetzes an das Bundesverfassungsgericht die
Verbindlichkeit der unionsrechtlichen Vorgaben zu klären, korrespondiert eine entsprechende Darlegungspflicht im Rahmen der
Vorlage.
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Gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern
seine Entscheidung von der Vorlage abhängt und dass das Gericht die gebotene Prüfung der Entscheidungserheblichkeit vorgenommen
hat. Nach ständiger Rechtsprechung muss dem Beschluss mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, dass und aus welchen
Gründen das Gericht bei der Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Ungültigkeit
(vgl. BVerfGE 86, 71 77>; 88, 187 194>; 105, 48 56>; 105, 61 67>). Das vorlegende Gericht muss im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit
der Vorlagefrage den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar und umfassend darlegen (vgl. BVerfGE 86, 71 77 f.>; 88, 70 74>; 88, 187 194>; BVerfGK
14, 429 432>). Dabei muss das Gericht auf naheliegende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte eingehen. Insbesondere
kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern, die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung
maßgebend genannt worden sind (vgl. BVerfGE 86, 71 77 f.>; BVerfGK 14, 429 432>).
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Diese Maßstäbe gelten entsprechend für die Pflicht des Gerichts, seine - womöglich ohne Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens
gewonnene - Annahme darzulegen, dass das einschlägige Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber in der in Streit stehenden Frage
einen Umsetzungsspielraum belässt. Auch diesbezüglich hat es mit hinreichender Deutlichkeit die Gründe dafür aufzuzeigen
, dass die Vorlage des Gesetzes entscheidungserheblich ist.
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II.
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Das Finanzgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage schon nicht ausreichend dargelegt (1). Zudem hätte es durch
ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof klären lassen müssen, ob der Gesetzgeber bei Umsetzung der
unionsrechtlichen Vorgaben einen Spielraum zu weitergehenden Übergangsregelungen hatte (2).
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1. Die Darlegungen des Finanzgerichts zur Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage genügen nicht den Anforderungen des
Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG.
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a) Das vorlegende Gericht hat sich bereits nicht damit auseinandergesetzt, dass die verfassungsrechtliche Prüfung des § 2
Satz 2 Nr. 4 InvZulG 1996 durch das Bundesverfassungsgericht deshalb eingeschränkt sein kann, weil der deutsche Gesetzgeber
mit dieser Regelung eine Entscheidung der Europäischen Kommission in deutsches Recht umgesetzt hat. Zwar hat sich das Finanzgericht
damit befasst, ob der deutsche Gesetzgeber in Ansehung der Entscheidung der Kommission berechtigt war, nach Ablauf der von
der Kommission gesetzten Frist Investitionszulage zu gewähren, wenn eine bindende Investitionsentscheidung seitens eines Investors
bereits vor Fristablauf getroffen worden war. Einen Bezug zum Umfang der verfassungsgerichtlichen Prüfung des § 2 Satz 2 Nr.
4 InvZulG 1996 hat es dabei jedoch nicht hergestellt. Im Gegenteil hat das Finanzgericht den Rechtsverstoß ausdrücklich als
ausschließlich im nationalen Recht begründet angesehen.
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b) Im Übrigen fehlt es an hinreichenden Ausführungen zum Umfang der Bindungswirkung der Kommissionsentscheidung für den deutschen
Gesetzgeber.
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Zwar hat das Finanzgericht angenommen, dass die Kommission mit ihrer Entscheidung vom 20. Mai 1998 die tatsächlichen Verhältnisse
in der Vergangenheit akzeptiert und nur eine Regelung für die Zukunft getroffen hat. Dieser Befund bleibt allerdings ohne
Erkenntniswert für die Frage, ob die Kommissionsentscheidung damit auch Investitionsbeihilfen für schon vor Ablauf der zweimonatigen
Frist getroffene Investitionsentscheidungen unterbinden wollte. Entsprechendes gilt für die Bezugnahme des Finanzgerichts
auf den späteren Gemeinschaftsrahmen.
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Das Finanzgericht hat sein Verständnis der Kommissionsentscheidung - wonach dem deutschen Gesetzgeber die spätere Berücksichtigung
vor dem 3. September 1998 verbindlich getroffener Investitionsentscheidungen nicht verwehrt gewesen sein soll - wesentlich
damit begründet, dass die Kommission nicht ausdrücklich vorgegeben habe, Beihilfen auch für bereits begonnene Investitionen
zu versagen. Dass sich die Kommission in ihrer Entscheidung nicht ausdrücklich mit bereits vor Ablauf der von ihr gesetzten
Frist getroffenen Investitionsentscheidungen und insoweit gegebenenfalls zu gewährendem Vertrauensschutz befasst hat, zwingt
jedoch nicht zu dem Schluss, dass nach Fristablauf eine Gewährung von Investitionszulage zulässig bleiben sollte, wenn eine
bindende Investitionsentscheidung bereits vor Fristablauf getroffen worden war. Ihrem Wortlaut nach gab die Entscheidung der
Kommission vielmehr vor, dass nach Ablauf der Frist keine Investitionszulage mehr gewährt werden durfte, und zwar unabhängig
davon, ob ein Investor bereits eine bindende Investitionsentscheidung getroffen hatte oder nicht.
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Demgegenüber haben der Gesetzgeber sowie die Finanzbehörden (vgl. die Verfügung der Oberfinanzdirektion Frankfurt vom 20.
Juli 1999, InvZ 1000 A-1-St II 24, juris) den von der Kommission verwendeten Begriff des "Gewährens" einer Investitionsbeihilfe
zur Anschaffung oder Herstellung des Wirtschaftsguts und damit zur (vollständigen) Verwirklichung des materiellrechtlichen
Tatbestands in Bezug gesetzt, obgleich sich die "Gewährung" einer Investitionszulage nach dem Verständnis des Bundesfinanzhofs
- worauf er in seiner Stellungnahme auch ausdrücklich hingewiesen hat - in der Regel auf den Zeitpunkt ihrer Festsetzung und
Auszahlung durch das Finanzamt bezieht. Mit diesen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten für den maßgeblichen Bezugspunkt der
Kommissionsentscheidung hat sich das Finanzgericht nicht auseinandergesetzt. Vielmehr hat sich das Finanzgericht vor allem
auf die Feststellung zurückgezogen, dass die Kommissionsentscheidung nicht zwingend als Ausschluss bereits begonnener Investitionen
verstanden werden müsse.
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2. Die Vorlage ist auch unzulässig, weil das Finanzgericht einen Umsetzungsspielraum des deutschen Gesetzgebers für die weitere
Zulässigkeit von Investitionshilfen in Bezug auf früher getroffene Investitionsentscheidungen annimmt, obwohl dieses Verständnis
der Kommissionsentscheidung als zweifelsfrei im Sinne der acte-clair-Doktrin nicht haltbar ist.
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Die vom Finanzgericht befürwortete Auslegung der Kommissionsentscheidung, wonach dem deutschen Gesetzgeber ein ausreichender
Gestaltungsspielraum zur Gewährung von Investitionszulagen auch nach dem 2. September 1998 verblieben sei, ist weder Gegenstand
einer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof gewesen, noch ist eine solche Auslegung der Entscheidung der Kommission
derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Im Gegenteil spricht insbesondere der Wortlaut
der Entscheidung, auch vor dem Hintergrund des (nationalen) Verständnisses des verwendeten Be-griffs "Gewähren", für einen
Ausschluss sämtlicher Beihilfen nach Ablauf der von der Kommission gesetzten Frist zur Anpassung der nationalen Beihilferegelungen
unabhängig vom Zeitpunkt der getroffenen Investitionsentscheidung. Die Entstehungsgeschichte des Steuerentlastungsgesetzes
1999 wie auch die Stellungnahme des Bundesministeriums der Finanzen im vorliegenden Verfahren lassen zudem erkennen, dass
jedenfalls der deutsche Gesetzgeber selbst von einer entsprechenden Verpflichtung ohne verbleibenden Spielraum ausging.
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Bei dieser Sachlage hätte das Finanzgericht die hier maßgebliche Auslegungsfrage für das Vorliegen eines nationalen Umsetzungsspielraums
dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen müssen.