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BAG 25.01.2017 - 10 ABR 78/16 (F)
BAG 25.01.2017 - 10 ABR 78/16 (F) - Anhörungsrüge - keine Überraschungsentscheidung
Normen
§ 78a Abs 1 S 1 Nr 2 ArbGG, § 78a Abs 8 ArbGG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 17. April 2015, Az: 2 BVL 5001/14 2 BVL 5002/14, Beschluss
nachgehend BVerfG, 10. Januar 2020, Az: 1 BvR 4/17, Beschluss
Tenor
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Die Anhörungsrügen der Beteiligten zu 5. und 8. gegen den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - werden zurückgewiesen.
Gründe
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I. Der Senat hat auf die Anhörung der Beteiligten vom 21. September 2016 mit einem am selben Tag verkündeten Beschluss festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) vom 15. Mai 2008 (BAnz. Nr. 104a 15. Juli 2008) des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 20. Dezember 1999 in der Fassung des letzten Änderungstarifvertrags vom 20. August 2007, die AVE vom 15. Mai 2008 (BAnz. Nr. 104a 15. Juli 2008) des VTV vom 20. Dezember 1999 in der Fassung des letzten Änderungstarifvertrags vom 5. Dezember 2007 (AVE VTV 2008) sowie die AVE vom 25. Juni 2010 (BAnz. Nr. 97 2. Juli 2010) des VTV vom 18. Dezember 2009 (AVE VTV 2010) unwirksam sind. Mit ihren Anhörungsrügen machen die Beteiligten zu 5. und 8. die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Bei dem Beschluss handele es sich um eine Überraschungsentscheidung. Weder zu dem Erfordernis einer zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE noch zur Frage, ob die sogenannte Große Zahl ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel zu ermitteln oder zumindest nachvollziehbar zu schätzen sei, habe der Senat die Beteiligten angehört.
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II. Die nach § 78a Abs. 1, 2 und 8 ArbGG zulässigen Anhörungsrügen der Beteiligten zu 5. und 8. sind unbegründet. Es liegt keine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch den Senat vor.
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1. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei kann es in besonderen Fällen geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht seiner Entscheidung zugrunde legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (BVerfG 4. Juli 2016 - 2 BvR 1552/14 - Rn. 7). Ferner muss ein Prozessbeteiligter schon in den Tatsacheninstanzen bedenken, dass das Bundesarbeitsgericht als Rechtsbeschwerdegericht den Bindungen des Rechtsbeschwerderechts unterliegt und neuer Sachvortrag in der Rechtsbeschwerdeinstanz nach § 98 Abs. 3, § 92 Abs. 2 ArbGG iVm. § 559 ZPO grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig ist (vgl. BAG 25. September 2013 - 5 AZR 617/13 (F) - Rn. 3 mwN [zum Revisionsverfahren]). Im Übrigen ist nicht jeder Verstoß gegen die Hinweispflicht nach § 139 ZPO zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfG 15. Mai 1984 - 1 BvR 967/83 - zu II 2 c der Gründe, BVerfGE 67, 90). Die Verletzung gesetzlicher Hinweispflichten stellt nur dann einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, wenn das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt hat. Daher bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (BVerfG 5. April 2012 - 2 BvR 2126/11 - Rn. 19, BVerfGK 19, 377).
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2. Nach diesen Grundsätzen stellt der Beschluss des Senats vom 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - hinsichtlich des Erfordernisses einer zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE keine Überraschungsentscheidung dar.
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a) Das Erfordernis einer Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE war von Anfang an Gegenstand des Verfahrens. Die Beteiligten zu 1. bis 3. haben bereits in ihrem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 31. März 2015 auf Seite 6 gerügt, dass die erforderliche Unterschrift des verantwortlichen Ministers fehle.
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b) Das Erfordernis einer Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE ist ferner Gegenstand von Erörterungen im Schrifttum, insbesondere in gängigen Standardkommentaren zu § 5 TVG, in denen eine solche von mehreren Autoren verlangt wird (vgl. BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 142 ff.). Ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter im Sinne der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätte jedenfalls aufgrund der Rüge der Beteiligten zu 1. bis 3. schon bei einem Blick in diese Werke erkennen können, dass die Frage der Befassung des zuständigen Ministers bei Erlass der AVE einer vertiefenden Betrachtung bedarf.
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c) Die Frage einer Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE war insbesondere auch Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens. Die Beteiligten sind hierauf durch mehrere Hinweise des Senats aufmerksam gemacht worden.
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aa) Bereits mit einem an alle Beteiligten gerichteten Berichterstatterschreiben vom 7. Juli 2016 wurde beim Beteiligten zu 4. angefragt, wer die Entscheidung über die AVE VTV 2008 und AVE VTV 2010 getroffen hat, und gebeten, gegebenenfalls die Vertretungsverhältnisse näher darzulegen (vgl. BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 174). Mit einem weiteren an alle Beteiligten gerichteten Berichterstatterschreiben vom 11. August 2016 wies der Senat darauf hin, dass - anders als vom Beteiligten zu 4. zuvor angegeben - die Zeichnung von AVE nicht seit jeher auf Referatsleiterebene stattfinde, sondern beispielsweise im Jahre 1997 und seit 2014 durch den zuständigen Minister erfolgt sei. Mit Schreiben des Vorsitzenden vom 8. September 2016 wurde allen Beteiligten mitgeteilt, welche Rechtsfragen Gegenstand der mündlichen Anhörung vom 21. September 2016 sein sollen. Dazu gehörte unter der Überschrift „Formelle Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung“ insbesondere die Frage nach dem „Erfordernis einer persönlichen Befassung des Ministers/der Ministerin mit der beabsichtigten Allgemeinverbindlicherklärung“.
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bb) Die Beteiligten zu 5. und 8. haben sich zu dieser Fragestellung weder aufgrund der Hinweise des Senats noch im Hinblick auf die Stellungnahmen des Beteiligten zu 4. schriftsätzlich geäußert. Die Frage des Erfordernisses der Ministerbefassung wurde ferner vom Senat unter Schilderung der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip anlässlich der mehrstündigen mündlichen Anhörung der Beteiligten am 21. September 2016 ausführlich erörtert. Die Beteiligten zu 5. und 8. haben - anders als das zu 4. beteiligte Bundesministerium für Arbeit und Soziales - auch diese Gelegenheit nicht genutzt, hierzu vorzutragen.
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cc) Diese Abfolge, die von den Beteiligten zu 5. und 8. in ihren Anhörungsrügen in weiten Bereichen selbst wiedergegeben wird, zeigt, dass die Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE vom Senat schon geraume Zeit vor und in der mündlichen Anhörung als ein wichtiges Thema für die Frage ihrer Wirksamkeit hervorgehoben wurde. Wenn darüber hinaus verschiedene Beteiligte die fehlende Ministerbefassung bereits erstinstanzlich gerügt haben und diese Frage auch Gegenstand von im Schrifttum behandelten Wirksamkeitsanforderungen einer AVE ist, liegt offenkundig keine Überraschungsentscheidung vor.
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d) Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen wäre die von den Beteiligten zu 5. und 8. behauptete angebliche Verletzung rechtlichen Gehörs nicht entscheidungserheblich iSv. § 78a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 8 ArbGG.
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aa) Die Beteiligten zu 5. und 8. führen aus, dass sie bei rechtzeitiger Kenntnis der Anforderung einer zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE diesen als Zeugen dafür benannt hätten, dass er sich in der erforderlichen Weise damit befasst habe. Aus einer Befragung des Ministers hätte sich dies mutmaßlich ergeben.
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bb) Ein solcher Beweisantritt ist nach dem Begründungsansatz des Senats nicht entscheidungserheblich. Aus rechtsstaatlichen Gründen muss die materielle Zurechenbarkeit der AVE in Bezug auf den Minister aktenkundig dokumentiert sein, da nur so eine verlässliche, effektive gerichtliche Kontrolle exekutiven Handelns möglich ist (BAG 21. September 2016 - 10 ABR 33/15 - Rn. 165 ff.). Aus den Verwaltungsakten des Beteiligten zu 4. ergibt sich aber keine Befassung des zuständigen Ministers mit den jeweiligen AVE. Anderes behaupten auch die Beteiligten zu 5. und 8. nicht in ihren Anhörungsrügen.
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e) Soweit die Beteiligten zu 5. und 8. ihre Anhörungsrügen auch darauf beziehen, sie seien zur Frage, ob die sogenannte Große Zahl ohne Berücksichtigung der Großen Einschränkungsklausel zu ermitteln oder zumindest nachvollziehbar zu schätzen sei, nicht angehört worden, kommt es hierauf vorliegend nicht an. Die Anhörungsrügen der Beteiligten zu 5. und 8. sind bereits hinsichtlich des Erfordernisses einer zustimmenden, aktenkundigen Befassung des zuständigen Ministers mit der AVE unbegründet. Aus der fehlenden Ministerbefassung folgt die Unwirksamkeit der AVE VTV 2008 und der AVE VTV 2010. Der im Beschluss vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 - Rn. 185 ff.) selbständig tragende Grund, dass die Erfüllung der 50 %-Quote des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF nicht festgestellt werden kann, ist insoweit nicht entscheidungserheblich iSv. § 78a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ArbGG. Unabhängig davon wird hinsichtlich dieser Rügen auf die Ausführungen im Beschluss zu den Anhörungsrügen der hiesigen Beteiligten zu 5. und 8. im Verfahren - 10 ABR 81/16 (F) - ergänzend Bezug genommen. Hieraus ergibt sich, dass die Rügen auch insoweit unbegründet sind.
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Linck
W. Reinfelder
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