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BSG 15.09.2023 - B 1 KR 21/22 B
BSG 15.09.2023 - B 1 KR 21/22 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Beweisantrag - Sachverständigengutachten
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 103 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 403 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Koblenz, 9. März 2021, Az: S 1 KR 1935/19, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 20. Januar 2022, Az: L 5 KR 77/21, Urteil
Tenor
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Januar 2022 wird als unzulässig verworfen.
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Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
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I. Die Klägerin begehrt die Erstattung der Kosten für eine im Februar 2020 durchgeführte stationäre Liposuktionsbehandlung.
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Die 1969 geborene Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist, beantragte am 13.6.2017 auf Grundlage eines Attestes vom 8.6.2017 die Übernahme der Kosten für eine vibrationsgestützte Liposuktion bei Lipödem Grad Il. Die Beklagte lehnte den Antrag zunächst ab (Bescheid vom 8.8.2017). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Der behandelnde Arzt der Klägerin, B, führte im Widerspruchsverfahren aus, es würden ca fünf Liter Aspirat/Fettgewebe entfernt werden. Dazu sei ein kurzzeitiger stationärer Aufenthalt von drei bis vier Tagen erforderlich. Eine ambulante Liposuktionstherapie wäre bei diesen Aspirationsmengen medizinisch nicht zu verantworten. Die Beklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 17.11.2017 ein, nach dem eine konservative Behandlung bis auf Weiteres ausreichend und die Indikation für eine stationäre Krankenhausbehandlung nicht gegeben sei. Theoretisch könne die Liposuktion auf mehrere Eingriffe verteilt und im konkreten Fall ohne relevante Komorbidität ambulant erbracht werden. Die Beklagte bestätigte die durch Fiktion eingetretene Bewilligung der Kostenübernahme für eine Krankenhausbehandlung und führte aus, diese Kostenübernahmeerklärung sei gültig für eine vibrationsgestützte Liposuktion der Ober- und Unterschenkel beider Beine unter stationären Bedingungen in der medizinischen Einrichtung Clinic N bis zum 31.12.2018 (Bescheid vom 23.4.2018).
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Mit Schreiben vom 20.5.2019 nahm die Klägerin auf den Bescheid vom 23.4.2018 Bezug und teilte unter Vorlage eines ärztliches Attestes des B vom 12.4.2019 mit, dass die ursprünglich veranschlagten Operationen im Bereich beider Oberschenkel, beider Unterschenkel sowie der Flankenregion durchgeführt worden seien, aber aufgrund eines Fortschreitens der Erkrankung nicht mehr ausreichten. Jetzt stehe noch das Lipödem im Bereich der Ventralseiten der Oberschenkel, der Oberschenkelinnenseite und der Knieregion im Vordergrund. Dieser Eingriff sollte ebenfalls unter stationären Bedingungen (ca zwei bis drei Tage) erfolgen. Die Beklagte wertete das Begehren der Klägerin als neuen Antrag und lehnte diesen unter Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens vom 2.7.2019 ab, nach dem die Behandlung der nunmehr bekannten chronischen Polyarthritis der Klägerin und die konservative Behandlung der Lipolymphödemkomponente vorrangig sei (Bescheid vom 3.6.2019, Widerspruchbescheid vom 28.8.2019). Am 3.2.2020 wurde im Rahmen einer stationären Behandlung eine wasserstrahlassistierte Liposuktion mit dem Body-Jet-System im Bereich beider Ober- und Unterschenkel und der Bauchdecke unter intraoperativer Anwendung der Tumeszenztechnik durchgeführt. Die Rechnung vom 19.2.2020 in Höhe von 3938,51 Euro hat die Klägerin beglichen.
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Das SG hat die Klage auf Kostenerstattung abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 9.3.2021). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die eingetretene Genehmigungsfiktion habe sich lediglich auf die gemäß dem Attest des B vom 8.6.2017 beantragte Liposuktionsbehandlung bezogen. Diese sei am 17.9.2018 durchgeführt worden. Der erneute Antrag sei aufgrund einer eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin erfolgt und werde nicht von der eingetretenen Genehmigungsfiktion erfasst. Ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 SGB V bestehe nicht. Der Klägerin habe kein Sachleistungsanspruch auf die im Februar 2020 stationär durchgeführten Liposuktionen zugestanden. Es könne dahinstehen, ob die Voraussetzungen des § 137c Abs 3 SGB V für eine Liposuktion bei Lipödem Grad Il im Februar 2020 vorgelegen hätten. Denn unabhängig hiervon bestehe kein Anspruch auf eine vollstationäre Behandlung, wenn eine ambulante Behandlung aus medizinischen Gründen nicht ausgeschlossen sei. Dies gelte auch dann, wenn zur Erreichung des Behandlungsziels mehrere Behandlungsschritte in einem längeren Zeitraum erforderlich seien als bei vollstationärer Behandlung. Im vorliegenden Fall hätte die im Februar 2020 durchgeführte Liposuktionsbehandlung auch ambulant durchgeführt werden können. Diese Einschätzung stütze der Senat insbesondere auf die Gutachten des MDK. B begründe die Durchführung der Liposuktionen im Rahmen einer stationären Behandlung ausschließlich mit der Aspirationsmenge. Dieser Gesichtspunkt rechtfertige nicht die stationäre Behandlung, da die Liposuktionen auch auf mehrere Eingriffe verteilt hätten durchgeführt werden können. Der Hilfsantrag der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens sei abzulehnen, da der medizinische Sachverhalt aufgeklärt sei. Dass bei der Klägerin das Behandlungsziel auch durch mehrere ambulante Operationen hätte erreicht werden können, stehe nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen fest und werde auch von der Klägerin nicht infrage gestellt (Urteil vom 20.1.2022).
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Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
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II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des allein geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes des Verfahrensmangels.
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1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN).
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Wer sich - wie hier die Klägerin - auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund derer bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (stRspr; vgl zB BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 7/19 B - juris RdNr 11; BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Dazu muss bei einem anwaltlich oder ähnlich rechtskundig vertretenen Beteiligten aufgezeigt werden, dass er zu Protokoll einen formellen Beweisantrag iS von §§ 373, 403 ZPO iVm § 118 SGG bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt oder noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat oder das Gericht den Beweisantrag in seinem Urteil wiedergibt. Der Tatsacheninstanz soll durch einen Beweisantrag vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (stRspr; vgl BSG vom 26.5.2020 - B 1 KR 7/19 B - juris RdNr 11; BSG vom 24.11.1988 - 9 BV 39/88 - SozR 1500 § 160 Nr 67 S 73 f = juris RdNr 4; BSG vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Das Berufungsgericht ist einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung dann nicht gefolgt, wenn es objektiv im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu weiterer Sachaufklärung gehalten war, wenn es sich also von seinem Rechtsstandpunkt aus zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr; vgl nur BSG vom 18.6.2020 - B 3 KR 19/19 B - juris RdNr 7; BSG vom 2.3.2010 - B 5 R 208/09 B - juris RdNr 5; BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 16/10 B - juris RdNr 14).
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Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die Klägerin hat weder dargelegt, einen ordnungsgemäßen Beweisantrag iS des § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 403 ZPO gestellt zu haben, noch dass sich das LSG - bei unterstelltem prozessordnungsgemäßem Beweisantrag - zu einer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen.
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a) Für die Darlegung eines in der mündlichen Verhandlung gestellten oder bis zuletzt aufrechterhaltenen Beweisantrags muss nicht nur die Stellung des Antrags, sondern auch aufgezeigt werden, über welche im Einzelnen bezeichneten Punkte Beweis erhoben werden sollte. Denn Merkmal eines substantiierten Beweisantrags ist eine bestimmte Tatsachenbehauptung und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache (vgl zB BSG vom 9.7.2015 - B 9 SB 19/15 B - juris RdNr 12; BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 6 mwN). Dafür ist die behauptete Tatsache möglichst präzise und bestimmt zu behaupten und zumindest hypothetisch zu umreißen, was die Beweisaufnahme ergeben hätte. Nur dies versetzt die Vorinstanz in die Lage, die Entscheidungserheblichkeit des Antrags zu prüfen und gegebenenfalls seine Ablehnung iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ausreichend zu begründen (Karmanski in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 1.8.2023, § 160a RdNr 105 mwN). Unbestimmte bzw unsubstantiierte Beweisanträge brauchen dem Gericht dagegen keine Beweisaufnahme nahezulegen (vgl BSG vom 19.11.2009 - B 13 R 303/09 B - juris RdNr 12).
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Die Klägerin hat hier nur "die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur stationären Behandlungsnotwendigkeit" beantragt. Bei diesem Antrag fehlt die Angabe der zu begutachtenden Punkte iS des § 403 ZPO. Um in der aktuellen Prozesssituation ein Beweisthema für das LSG hinreichend genau zu bezeichnen, hätte die Klägerin substantiiert und präzise in ihrem Antrag angeben müssen, welche konkreten entscheidungserheblichen Punkte durch das beantragte Sachverständigengutachten hätten geklärt werden sollen. Der von der Klägerin dargelegte und nachgewiesene Antrag enthält keine Angabe konkreter Sachverhalte, die zu ermitteln sind, um bestimmte konkrete Behauptungen zu belegen, auf deren Grundlage die Rechtsfrage nach der Erforderlichkeit einer nur stationär möglichen Liposuktion beantwortet werden kann. Aus dem Beweisantrag geht nicht hervor, dass die Klägerin als Tatsache festgestellt wissen wollte, dass ihr aus gesundheitlichen Gründen eine ambulante Liposuktion, aufgeteilt in mehrere, zeitlich voneinander getrennte Eingriffe nicht zumutbar gewesen sei. Der Beweisantrag kann auch so verstanden werden, dass die zweite durchgeführte - hier streitgegenständliche - Liposuktion aufgrund des Volumens des abzusaugenden Körperfetts nur stationär möglich gewesen sei. Die Klägerin legt zwar ausführlich in der Beschwerdebegründung dar, dass das erstgenannte Erkenntnisziel Gegenstand des Beweisantrags gewesen sei. Dieses ist im Beweisantrag aber nicht abgebildet.
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b) Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin die Bezeichnung eines prozessordnungsgemäßen Beweisantrags unterstellt, hat sie jedenfalls nicht ausreichend dargelegt, weshalb das LSG sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den abgelehnten Beweis zu erheben. Ist bereits Beweis durch Sachverständige erhoben worden, so ist das LSG nach § 103 SGG zu weiteren Ermittlungen in der Regel nur verpflichtet, wenn das Gutachten, das als Entscheidungsgrundlage dienen soll, bedeutsame Mängel aufweist (vgl BSG vom 27.8.2018 - B 9 SB 1/18 B - juris RdNr 11 mwN). Nichts anderes gilt für in vorausgegangenen Verwaltungsverfahren eingeholte gutachtliche Stellungnahmen des MDK, auf die das LSG Bezug nimmt.
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Hier hätte die Klägerin näher ausführen müssen, weshalb das LSG sich auf die von ihm erhobenen Beweise nicht hätte stützen dürfen, weil etwa die vorliegenden Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters besteht (vgl BSG vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 9).
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Die Klägerin hat die Richtigkeit des vom LSG herangezogenen MDK-Gutachtens vom 17.11.2017 in Zweifel gezogen, aber nicht hinreichend dargelegt, dass die Zweifel aufgrund innerer Widersprüche oder grober Mängel dieses Gutachtens selbst begründet seien. Sie hat auch nicht dargetan, dass etwa nicht alle vorliegenden Unterlagen berücksichtigt worden seien. Sie beruft sich darauf, das im Urteil des LSG herangezogene Gutachten des MDK sei nach Aktenlage erfolgt und zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung mehrere Jahre alt gewesen. Damit hat sie aber nicht ausreichend dargelegt, weshalb das LSG dem Gutachten nicht hätte folgen dürfen. Das LSG hat sich auch zentral darauf gestützt, dass B die stationäre Behandlungsbedürftigkeit ausschließlich mit den vorgesehenen Aspirationsmengen begründet habe. Die Klägerin legt nicht dar, dass konkrete Anhaltspunkte bestanden hätten, die einer mehrschrittigen ambulanten Liposuktion entgegengestanden hätten. Auf Angriffe gegen die Beweiswürdigung kann aber nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde gerade nicht gestützt werden.
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2. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
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