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BSG 08.03.2017 - B 8 SO 62/16 B
BSG 08.03.2017 - B 8 SO 62/16 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren - Terminsaufhebungsantrag - erheblicher Grund - kurzfristige Beauftragung eines Rechtsanwalts
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 73 Abs 2 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend SG Lübeck, 22. Mai 2013, Az: S 46 SO 56/12, Gerichtsbescheid
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, 10. Februar 2016, Az: L 9 SO 36/13, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Februar 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit von Juli 2011 bis November 2012.
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Der Beklagte lehnte solche Ansprüche ab (Bescheide vom 15.8.2011 und 18.11.2011; Widerspruchsbescheide vom 20.2.2012). Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheide des SG vom 22.5.2013). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat in beiden Verfahren für den 10.2.2016 Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt (Ladung vom 9.10.2015). Am 8.2.2016 hat sich für die Betreuerin der Klägerin ein Rechtsanwalt gemeldet, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt, Akteneinsicht und Vertagung beantragt. In der mündlichen Verhandlung ist für die Klägerin niemand erschienen. Das LSG hat die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Berufungen zurückgewiesen (Urteil des LSG vom 10.2.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ua ausgeführt, der Senat sei nicht gehindert gewesen, am 10.2.2016 über die Sache zu entscheiden. Zwar könne die erstmalige Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten einen erheblichen Grund für die Aufhebung eines Termins darstellen, ebenso die Stellung eines Antrags auf Gewährung von PKH. Dies gelte aber nicht, wenn ein Prozessbevollmächtigter ohne Grund so spät beauftragt werde, dass er keine Möglichkeit mehr habe, sich auf den Termin vorzubereiten. Dies sei hier der Fall, weil die Betreuerin der Klägerin, die während des gesamten Verfahrens auch nicht ansatzweise vorgetragen habe, weshalb die Leistungen zu niedrig seien, ausreichend Zeit gehabt habe, sich um die Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten zu kümmern. In der Sache seien keinerlei Ansatzpunkte für Rechtsfehler in den Entscheidungen des Beklagten bzw des SG erkennbar. Jedenfalls lägen die Voraussetzungen für einen Mehrbedarf wegen des Merkzeichens "G" selbst nach dem Vorbringen des inzwischen beauftragten Prozessbevollmächtigten nicht vor.
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Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin Verfahrensfehler geltend. Das LSG habe gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es dem Antrag auf Vertagung nicht nachgekommen sei. Ein Prozessbevollmächtigter, der im Sozialrecht kundig und bereit gewesen sei, sie - die Klägerin - zu vertreten, habe von ihrer Betreuerin erst kurzfristig vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung gefunden werden können. Es sei nicht auszuschließen, dass das Urteil bei ihrer Vertretung im Termin anders ausgefallen wäre. Auch hätte das LSG erkennen können, dass sie, die Klägerin, krankheitsbedingt ggf prozessunfähig sei. Es sei für das LSG hinreichend erkennbar gewesen, dass ihre Interessen auch durch die als Betreuerin bestellte Tochter, wenngleich aus gesundheitlichen Gründen in deren Person, nicht hinreichend wahrgenommen würden.
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Zudem macht sie eine Divergenz zu Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) bzw Bundesgerichtshofs geltend.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig; sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, § 62 Sozialgerichtsgesetz <SGG>, Art 103 Grundgesetz <GG>) den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 mwN; SozR 3-1750 § 227 Nr 1 mwN; BSG, Urteil vom 25.3.2003 - B 7 AL 76/02 R) erübrigen sich bei diesem Verfahrensmangel regelmäßig Ausführungen dazu, welches inhaltliche Vorbringen im Einzelnen infolge der Ablehnung des Vertagungsantrags durch das LSG verhindert worden ist, wenn ein Verfahrensbeteiligter gehindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Gründe, die ausnahmsweise die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels der Verletzung des rechtlichen Gehörs für das angefochtene Urteil ausschließen könnten (dazu: BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 56; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160a RdNr 16d mwN), sind nicht ersichtlich.
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Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Das LSG ist dem Antrag des Bevollmächtigten der Klägerin auf Aufhebung des Termins am 10.2.2016 nicht nachgekommen, obwohl "erhebliche" Gründe iS des § 227 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) für die Aufhebung des Termins vorgelegen haben. Gemäß § 62 1. Halbsatz SGG, Art 103 Abs 1 GG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben oder nicht, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung selbst zu äußern. Zu diesem Zweck können sich die Beteiligten in jeder Lage des Verfahrens durch prozessfähige Bevollmächtigte vertreten lassen (§ 73 Abs 2 SGG). Der von der Betreuerin der Klägerin am 8.2.2016 beauftragte Rechtsanwalt konnte sich aber aufgrund der Kurzfristigkeit seiner Beauftragung vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht hinreichend mit dem Sachverhalt vertraut machen. Dies hat er gegenüber dem LSG am 8.2.2016 im Einzelnen dargelegt und damit einen erheblichen Grund (§ 202 SGG iVm § 227 ZPO) für die Aufhebung des Termins geltend gemacht. Das LSG war daher zur Terminsaufhebung verpflichtet (BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1).
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Etwas anderes folgt nicht aus dem Umstand, dass der Termin vom LSG bereits im Oktober 2015 bestimmt worden war. Zwar ist unter Umständen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dann nicht anzunehmen, wenn dem Beteiligten die rechtzeitige Bestellung eines Bevollmächtigten zugemutet werden konnte (BSG, Beschluss vom 4.11.2014 - B 2 U 144/14 B - RdNr 11 mwN) oder die späte Bestellung verschuldet ist (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 110 RdNr 5a). Zutreffend hat das LSG insoweit darauf hingewiesen, dass die zunächst als Bevollmächtigte und später als Betreuerin der Klägerin handelnde Tochter der Klägerin keinerlei Ausführungen zur Sache gemacht, nicht auf gerichtliche Schreiben und trotz der frühzeitigen Terminierung erst zwei Tage vor dem Termin mit der Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten reagiert hat.
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Dies kann der Klägerin jedoch nicht entgegengehalten werden. Im Rahmen seiner den Beteiligten gegenüber bestehenden Fürsorgepflicht als Ausfluss des Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, vor § 60 RdNr 1b; Leitherer, aaO, § 106 RdNr 2 mwN) hat das Gericht darauf zu achten, ob sich die Maßnahmen eines rechtsunkundigen Bevollmächtigten im Rahmen der Pflichten halten, die diesem gegenüber der Beteiligten obliegen (so für das Verhalten des besonderen Vertreters für einen prozessunfähigen Beteiligten nach § 72 SGG BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 3 RdNr 10). Das LSG hat zwar erkannt, dass die Betreuerin offenbar nicht in der Lage war, das Verfahren ordnungsgemäß zu betreiben; denn es hat diese schon im Jahr 2013 auf die Möglichkeit der Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten im Wege der PKH hingewiesen. Wird dann aber - wenn auch erst sehr kurz vor dem Termin - ein Anwalt beauftragt und meldet sich dieser bei Gericht, beantragt zugleich die Gewährung von PKH, die Verlegung des Termins und ua die Gewährung von Akteneinsicht zum weiteren Sachvortrag, hat das Gericht diesem Umstand durch die Aufhebung des Termins Rechnung zu tragen. Gerade weil die Bevollmächtigte der Klägerin bis dahin keinerlei Angaben zur Sache gemacht hatte, hätte dem Prozessbevollmächtigten Gelegenheit gegeben werden müssen, nach Akteneinsicht vorzutragen. Ein Fall der Präklusion (§ 106a SGG) lag nicht vor.
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Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Urteil des LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG wegen des festgestellten Verfahrensmangels aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Es kann daher offen bleiben, ob die von der Klägerin weiter gerügten Zulassungsgründe hinreichend dargelegt sind und auch tatsächlich vorliegen.
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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