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BSG 21.09.2016 - B 8 SO 126/15 B
BSG 21.09.2016 - B 8 SO 126/15 B - Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - partielle Prozessunfähigkeit eines Beteiligten - Absehen von der Bestellung eines besonderen Vertreters - keine offensichtliche Haltlosigkeit des Klagebegehrens - absoluter Revisionsgrund
Normen
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO
Vorinstanz
vorgehend SG Osnabrück, 23. September 2014, Az: S 4 SO 121/14, Gerichtsbescheid
vorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 9. Juli 2015, Az: L 8 SO 316/14, Urteil
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 9. Juli 2015 - L 8 SO 316/14 - aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Klägerin ist 1963 geboren, steht nicht unter Betreuung, und bezieht seit dem Jahr 2009 wegen eines seelischen Leidens Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer sowie seit Januar 2013 Pflegegeld nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) wegen Einschränkungen der Alltagskompetenz in erheblichem Maß. Sie bewohnt zusammen mit einer anderen Person eine Wohnung. Im Streit sind und waren in einer Vielzahl von Verfahren Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).
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Mit der im Juni 2014 erhobenen Klage macht die Klägerin Verfahrensfehler (Verstoß gegen den gesetzlichen Richter, unterbliebene notwendige Beiladung des Jobcenters) in einem im Jahr 2012 geführten gerichtlichen Verfahren geltend, in dem sie Leistungen für Unterkunft und Heizung begehrt hatte; die Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Osnabrück vom 23.9.2014; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Niedersachsen-Bremen vom 9.7.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ua ausgeführt, die Feststellungsklage der Klägerin sei unzulässig, weil kein tauglicher Gegenstand einer Feststellungsklage iS des § 55 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorliege. Deshalb habe es, selbst wenn die Klägerin partiell prozessunfähig sein sollte, nicht der Bestellung eines besonderen Vertreters bedurft. Das Rechtsmittel sei "offensichtlich haltlos".
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Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt die Klägerin als Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen; die Rechtsverfolgung sei nicht offensichtlich haltlos.
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II. Die durch den vom Senat bestellten besonderen Vertreter und Prozessbevollmächtigten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig und begründet. Da der gerügte Verfahrensmangel vorliegt, konnte das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 SGG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
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Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG zu Unrecht von der Bestellung eines besonderen Vertreters für die bereits im Klage- und Berufungsverfahren prozessunfähige Klägerin abgesehen hat. Diese war deshalb im Berufungsverfahren nicht wirksam vertreten (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.
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Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen Prozessunfähigkeit führen, bei der die freie Willensbildung nur bezüglich bestimmter Prozessbereiche eingeschränkt ist. Soweit eine partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65).
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Eine solche partielle Prozessunfähigkeit im Hinblick auf die Führung von sozialgerichtlichen Rechtsstreitigkeiten ist auf Grund der überzeugenden Feststellungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr I in dem vom Senat beigezogenen Gutachten vom 26.8.2013 samt ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 22.4.2014 (im Verfahren S 4 SO 62/13 des SG Osnabrück) anzunehmen, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet worden sind. Bei der Klägerin besteht eine seelische Störung, verbunden mit einem sensitiven Beziehungswahn insbesondere im Hinblick auf Richter des Sozialgerichts. Die Klägerin fühlt sich bedrängt und unverstanden. Sie ist nicht in der Lage, ihr eigenes Denken zu reflektieren. Jedenfalls im Hinblick auf die geführten gerichtlichen Verfahren fehlt es ihr an der Fähigkeit, nach ihrem eigenen Willen sinnvoll zu handeln. Die bei Gericht eingereichten Schriftstücke, die sie mit Hilfe ihres Mitbewohners fertigt, sind zwar nicht ausschließlich fremdgesteuert, doch fehlt es ihr an der Fähigkeit, die Sinnhaftigkeit der Verfahren zu beurteilen und ihr Verhalten danach auszurichten.
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Im Berufungsverfahren durfte nicht davon abgesehen werden, einen besonderen Vertreter für die partiell prozessunfähige Klägerin zu bestellen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, muss dieser grundsätzlich mit einem besonderen Vertreter fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet und ein Betreuer nicht bestellt ist (im Einzelnen zuletzt BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 9). Zwar sind Ausnahmen von der Vertreterbestellung für zulässig erachtet worden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen "offensichtlich haltlos" ist (BSGE 5, 176, 178 f), was insbesondere bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen ist, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar ist, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert werden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen war (BSG SozR 4-1500 § 72 Nr 2 RdNr 10). Diese Ausnahmen liegen nicht vor.
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Bei der prozessualen Begründung eines offensichtlich haltlosen Klagebegehrens, wie es das LSG mit einer aus anderen Gründen als der Prozessunfähigkeit unzulässigen Klage angenommen hat, ist jedoch besondere Zurückhaltung geboten (BSG aaO). Ein haltloses Klagebegehren ist deshalb nicht zu bejahen, wenn zumindest nach Hinweisen des Vorsitzenden (§ 106 SGG) unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes (vgl nur: BSGE 74, 77 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11 S 49 ff; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 92 RdNr 12 mwN) ein besonderer Vertreter in der Lage wäre, im wohlverstandenen Interesse der Klägerin sachdienliche Klageanträge mit hinreichendem Bezug zum materiellen Recht zu formulieren (BSG aaO).
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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
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