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BVerfG 31.05.2022 - 1 BvR 2387/21
BVerfG 31.05.2022 - 1 BvR 2387/21 - Nichtannahmebeschluss: Erfolglose Verfassungsbeschwerde einer Arbeitnehmervereinigung wegen Aberkennung der Tariffähigkeit durch die Arbeitsgerichte - keine verfassungsrechtliche Bedenken gegen fachgerichtliche Maßstäbe zur Beurteilung der Organisationsstärke einer Arbeitnehmervereinigung
Normen
Art 9 Abs 3 GG, § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG, TarifEinhG, § 2 Abs 1 TVG
Vorinstanz
vorgehend BAG, 22. Juni 2021, Az: 1 ABR 28/20, Beschluss
vorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg, 22. Mai 2020, Az: 5 TaBV 15/18, Beschluss
vorgehend ArbG Hamburg, 19. Juni 2015, Az: 1 BV 2/14, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die arbeitsgerichtliche Feststellung einer nicht mehr bestehenden Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition. Die Beschwerdeführerin wurde 1950 als Arbeitnehmervereinigung der Kaufmannsgehilfen neu gegründet. Seitdem änderte und erweiterte sie mehrfach ihren fachlichen Zuständigkeitsbereich, zuletzt durch eine Satzungsänderung im Jahr 2014. Nunmehr beansprucht sie eine Tarifzuständigkeit in unterschiedlichen Branchen und Berufen, darunter Banken, Einzelhandel, gesetzlichen Krankenkassen, Versicherungsgewerbe, Fleischindustrie, IT-Dienstleister, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte und Reiseveranstalter. Nach eigenen Angaben hatte die Beschwerdeführerin Anfang 2020 in einem Organisationsbereich von etwa 6,3 Millionen Beschäftigten 66.826 Mitglieder.
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2. Auf Antrag mehrerer konkurrierender Gewerkschaften und des Landes Berlin, dem sich das Land Nordrhein-Westfalen angeschlossen hat, stellten die Arbeitsgerichte fest, dass die Beschwerdeführerin seit dem 21. April 2015 nicht tariffähig ist. Die Frage ihrer Tariffähigkeit sei bereits Gegenstand mehrerer Verfahren gewesen und zuletzt 1995 bejaht worden. Aufgrund der Zuständigkeitserstreckung im Jahr 2014 besitze sie nun aber nicht mehr die für die Anerkennung als Tarifpartei erforderliche Durchsetzungsfähigkeit. Diese werde regelmäßig durch die Zahl der Mitglieder vermittelt, im Verhältnis zum selbst gewählten Organisationsbereich. Es komme nicht darauf an, ob Tarifverhandlungen geführt oder Tarifverträge geschlossen würden, sondern ob dies mit hinreichender sozialer Mächtigkeit möglich ist. Gegen diese Anforderungen der Rechtsprechung bestünden auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen oder unionsrechtlichen Bedenken. Hier liege der Organisationsgrad der Beschwerdeführerin weithin unter einem oder um ein Prozent und in einem nicht ausreichend signifikanten Teil des Zuständigkeitsbereichs bei etwa 2,3 Prozent. Den von ihr geschlossenen Tarifverträgen komme daneben keine ausschlaggebende Bedeutung zu, da sie diese wechselnd und signifikant außerhalb ihres Organisationsbereichs geschlossen habe. Seit 2014 seien neben Zuordnungstarifverträgen, denen keine eigenständige Bedeutung zukomme, lediglich schuldrechtlich wirkende Verhandlungsverpflichtungen entstanden.
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3. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihres Grundrechts der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Das Bundesarbeitsgericht habe Anforderungen an die Durchsetzungsfähigkeit als der geforderten "sozialen Mächtigkeit" gestellt, die unter Berücksichtigung der grundrechtlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit unverhältnismäßig seien. Sie wirkten verfassungswidrig auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurück. Nur ein konkretes erwiesen missbräuchliches Handeln einer Arbeitnehmerkoalition, das die Tarifautonomie gefährde, dürfe zur Aberkennung der Tariffähigkeit führen. Die vom Bundesarbeitsgericht geforderte gesteigerte Durchsetzungskraft im Sinne eines Kräftegleichgewichts verletze zudem die in der Europäischen Union nach Art. 28 GRCh und menschenrechtlich mit Art. 11 EMRK gewährleistete Koalitionsfreiheit, denn dies sei in der globalisierten Wirtschaft und Arbeitswelt praktisch nie zu erreichen.
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Zudem würden die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung missachtet und gegen den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen. Das verletze die Beschwerdeführerin auch in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG sowie aus der unionsrechtlichen Garantie des Art. 28 GRCh. Höchstrichterliche Rechtsprechung sei kein Ersatzgesetzgeber.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Sache hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung und eine Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig und im Übrigen auch unbegründet.
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1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerin der Sache nach einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und effektiven Rechtsschutz sowie eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG rügt. Sie genügt insofern nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Insbesondere fehlt eine hinreichend substantiierte Auseinandersetzung damit, dass die Gerichte für Arbeitssachen nicht nur befugt, sondern sogar gehalten sind, wenn und solange der Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Gewerkschaftseigenschaft und damit die Tariffähigkeit nicht regelt, diese im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG näher zu fassen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. September 2019 - 1 BvR 1/16 -, Rn. 8 m.w.N.). Auch hier ist schon nach den Darlegungen nicht erkennbar, dass das Bundesarbeitsgericht über das verfassungsrechtlich zulässige Maß der Rechtsfortbildung hinausgegangen wäre. Desgleichen ist eine willkürliche Handhabung der in Rechtsprechung und Literatur gefestigten Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft weder dargelegt noch sonst erkennbar.
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2. In der Sache verletzen die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen nicht die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG.
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a) Mit dem in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist es vereinbar, nur solche Koalitionen an der Tarifautonomie teilnehmen zu lassen, die in der Lage sind, den von der Rechtsordnung freigelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten (vgl. BVerfGE 58, 233 248>; 100, 214 223>). Die Anforderung der Tariffähigkeit stellt insoweit sicher, dass nur solche Vereinigungen am Tarifgeschehen zur Gestaltung des Arbeitslebens beteiligt sind, die ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und damit eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweisen (vgl. BVerfGE 58, 233 248 f.>; 100, 214 223>; 146, 71 127 f.>). Insoweit lassen weder das Tarifeinheitsgesetz noch ein gesetzlicher Mindestlohn das Bedürfnis entfallen, zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie Mindestanforderungen an die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. September 2019 - 1 BvR 1/16 -, Rn. 10). Dabei dürfen allerdings keine Anforderungen gestellt werden, die erheblich auf die Bildung und Betätigung einer Koalition zurückwirken, diese unverhältnismäßig einschränken und so zur Aushöhlung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gesicherten freien Koalitionsbildung und -betätigung führen würden (vgl. BVerfGE 58, 233 249>).
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b) Danach haben die Arbeitsgerichte in der konkreten Handhabung der Tariffähigkeit das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 9 Abs. 3 GG nicht verletzt.
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Das Bundesarbeitsgericht nimmt für die Beurteilung der Organisationsstärke eine grundrechtsfreundliche Gesamtwürdigung vor. Es verzichtet auf starre Schemata etwa anhand prozentualer Schwellenwerte, die den sich stetig verändernden Wirtschafts- und Beschäftigungsstrukturen nicht gerecht werden könnten. Zudem geht es davon aus, dass nicht in jedem Zuständigkeitsbereich einer Gewerkschaft ein signifikanter Organisationsgrad vorliegen muss, sondern nur in einem nicht unwesentlichen Teil. Dabei berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht die große Zahl sehr unterschiedlich zusammengesetzter und ökonomisch unterschiedlich situierter sozialer Gegenspieler, die jeweils unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen unterliegen. Zudem können in einem nennenswerten Umfang mit einer gewissen Kontinuität erreichte Tarifabschlüsse die für die Tariffähigkeit erforderliche Durchsetzungskraft belegen, wobei deren Indizwirkung sinkt, je geringer der Organisationsgrad im beanspruchten Zuständigkeitsbereich ist, und völlig an Aussagekraft verliert, wenn die Zuständigkeiten von der Gewerkschaft selbst umfassend geändert werden. Die Tariffähigkeit entsteht nicht durch Tarifabschlüsse, sondern ist eine Voraussetzung für diese.
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Danach sind die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, die die Beschwerdeführerin in Anwendung dieser Maßstäbe nicht als tariffähige Gewerkschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 TVG ansehen. Insbesondere sind mit den von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft keine die Koalitionsfreiheit unzumutbar einschränkenden unerreichbaren Voraussetzungen oder unüberwindbare Zulassungsgründe verbunden. Die hier erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Mindestvoraussetzungen einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung greifen nicht durch.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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