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BVerfG 12.11.2021 - 1 BvR 576/19
BVerfG 12.11.2021 - 1 BvR 576/19 - Nichtannahmebeschluss: Unzulässige Verfassungsbeschwerde einer britischen LLP gegen die Versagung von Einsicht in Strafakten gem §§ 406e, § 475 StPO zwecks Geltendmachung zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche - unzureichende Darlegungen zur Grundrechtsberechtigung der beschwerdeführenden britischen Personengesellschaft - zudem Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde mangels Antrags auf Aktenbeiziehung im Zivilprozess
Normen
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 92 BVerfGG, EURL 104/2014, § 474 Abs 1 StPO, § 477 Abs 4 StPO vom 17.08.2017, § 479 Abs 4 S 2 StPO vom 20.11.2019, § 479 Abs 4 S 3 StPO vom 20.11.2019, § 142 Abs 1 ZPO, § 273 Abs 2 Nr 2 ZPO, § 432 ZPO
Vorinstanz
vorgehend LG Stuttgart, 4. Februar 2019, Az: 11 Qs 1/19, Beschluss
vorgehend AG Stuttgart, 28. Mai 2018, Az: 27 Gs 1554/18, Beschluss
Tenor
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
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I.
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Die in London/Vereinigtes Königreich ansässige Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Versagung von Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens gemäß § 406e StPO und § 475 StPO, in dem gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und den Finanzvorstand der Porsche Automobil Holding SE wegen Verdachts der Marktmanipulation nach den Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes ermittelt wurde. Die Beschwerdeführerin - ein Hedgefonds - sieht sich durch diese Marktmanipulation geschädigt. Daher betreibt sie mit weiteren ausländischen Hedgefonds eine zivilrechtliche Schadensersatzklage gegen die Porsche Automobil Holding SE.
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Mit Blick auf diese Schadensersatzklage begehrten die Beschwerdeführerin und die weiteren klagenden Hedgefonds bereits einmal erfolglos Einsicht in die Strafakten und erhoben gegen die Versagung von Akteneinsicht Verfassungsbeschwerde. Mit Nichtannahmebeschluss vom 9. Dezember 2015 - 1 BvR 2449/14 - erkannte die 3. Kammer des Ersten Senats in dem fachgerichtlich zugrunde gelegten engen Verständnis des Begriffs des Verletzten im Sinne des § 406e StPO keinen Willkürverstoß. Auch stellte die Kammer keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Es sei jedenfalls keine strukturell begründete Beweisnot von solchem Gewicht vorgetragen, dass diese nur durch Akteneinsicht behoben werden und so einen verfassungsunmittelbaren Informationsbeschaffungsanspruch durch die Stellen der Strafrechtspflege zur Förderung eines Zivilrechtsstreits begründen könnte. Vor diesem Hintergrund könne im Übrigen dahinstehen, inwiefern die damaligen Beschwerdeführerinnen, die ihren Sitz überwiegend außerhalb der Europäischen Union hätten, grundrechtsberechtigt seien.
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Nachdem im Jahr 2015 eine weitere Anklage gegen die beiden Vorstände der Porsche Automobil Holding SE erhoben wurde und die Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union - Kartellschadensersatzrichtlinie - (ABl L 349, S. 1) in Kraft trat, erneuerten die Beschwerdeführerin und die weiteren die Porsche Automobil Holding SE auf Schadensersatz verklagenden Hedgefonds ihr Akteneinsichtsgesuch. Gegen die neuerliche Versagung von Akteneinsicht wendet sich mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde nur noch die in London/Vereinigtes Königreich ansässige Beschwerdeführerin. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte auf Schutz des Eigentums, auf ein faires Verfahren, auf Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht und auf den gesetzlichen Richter sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
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1. Beschwerdeführer müssen ihren Vortrag ergänzen, wenn sich die Sach- und Rechtslage nach Ablauf der Beschwerdefrist ändert (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 8. Juni 2021 - 1 BvR 2771/18 -, Rn. 57). Danach hätte die Beschwerdeführerin substantiiert dartun müssen, ob und inwieweit sie nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien aus der Europäischen Union in der Folge des vollzogenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 30. Januar 2020 (ABl L 29, S. 7) hinsichtlich der von ihr geltend gemachten Grundrechtsverletzungen überhaupt noch grundrechtsberechtigt ist. Das ist nicht geschehen.
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2. Die Verfassungsbeschwerde wahrt auch nicht die Anforderungen der Subsidiarität im weiteren Sinne.
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a) Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren Prozessziels förmlich eröffneten Rechtsmittel zu ergreifen, sondern verlangen, alle Mittel zu nutzen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Damit soll erreicht werden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen treffen muss, sondern zunächst die für Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage aufgearbeitet haben (vgl. auch zum Folgenden BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 8. Juni 2021 - 1 BvR 2771/18 -, Rn. 68 f.).
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Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert deshalb grundsätzlich, vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 134, 106 115 Rn. 27>; 142, 268 280, Rn. 44>; 149, 407 410, Rn. 8>). Das gilt auch, wenn zweifelhaft ist, ob ein entsprechender Rechtsbehelf statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann (vgl. BVerfGE 128, 90 99>). Offensichtlich sinn- und aussichtslose fachgerichtliche Rechtsbehelfe müssen dagegen auch unter Berücksichtigung der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden (vgl. BVerfGE 123, 148 172>; 126, 1 18>). Zu den zu ergreifenden prozessualen Möglichkeiten zählen auch prozessuale Anregungen (vgl. BVerfGE 81, 22 27 f.>) und die Stellung geeigneter Beweisanträge (vgl. BVerfGE 81, 97 102 f.>). Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang die Stellung förmlicher Beweisanträge verlangt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. November 2001 - 2 BvR 1098/00 -, Rn. 12 ff.) und die Verfassungsbeschwerde im Falle eines unterlassenen Beweisantrags an dem Grundsatz der Subsidiarität scheitern lassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 1987 - 2 BvR 814/87 -, juris, Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Februar 1992 - 1 BvR 1935/91 -, juris, Rn. 8 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. August 1996 - 2 BvR 1304/96 -, juris, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juli 1998 - 1 BvR 2419/97 -, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2005 - 2 BvR 10/05 -, juris, Rn. 16).
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b) Nach diesen Maßgaben hätte es der Beschwerdeführerin oblegen, in dem sachnäheren bereits anhängigen Zivilprozess auf die Beiziehung (von Bestandteilen) der Strafakten hinzuwirken (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. März 2014 - 1 BvR 3541/13 u.a. -). Hierzu haben mit § 273 Abs. 2 Nr. 2, § 142 Abs. 1 beziehungsweise § 432 ZPO jeweils in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 477 Abs. 4 StPO a.F. (jetzt § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO), § 49b OWiG zivilprozessuale Möglichkeiten grundsätzlich zur Verfügung gestanden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26. November 2013 - III-1 VAs 116 - 120/13 u.a. -, juris; BGH, Beschluss vom 14. Juli 2015 - KVR 55/14 -, juris, Rn. 25; vgl. auch Ruster in: Stancke/Weidenbach/Lahme, Kartellrechtliche Schadensersatzklagen, 2. Aufl. 2021, IV., Rn. 31 ff.; Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, § 13, Rn. 101 ff.). Auf diese zivilprozessualen Möglichkeiten ist die Beschwerdeführerin in den angegriffenen Entscheidungen zudem hingewiesen worden. Mit diesen Hinweisen setzt sie sich jedoch nicht auseinander. Sie legt insbesondere nicht dar, dass und warum das zivilprozessuale Hinwirken auf die Beiziehung (von Bestandteilen) der Strafakten offensichtlich sinn- oder aussichtslos sei. Für eine Unzumutbarkeit des Verweises auf die genannten zivilprozessualen Möglichkeiten ist auch nichts ersichtlich. Der von der Beschwerdeführerin eingewandten Kartellschadensersatzrichtlinie und den Umsetzungsvorschriften der 9. GWB-Novelle vom 1. Juni 2017 (BGBl I 2017, S. 1416) ist nichts anderes zu entnehmen.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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