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BVerfG 11.03.2020 - 1 BvR 2434/19
BVerfG 11.03.2020 - 1 BvR 2434/19 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 iVm Art 19 Abs 4, Art 20 Abs 3 GG) durch unzulässige Beweisantizipation im PKH Verfahren - Gegenstandswertfestsetzung
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 166 VwGO, § 114 Abs 1 S 1 ZPO
Vorinstanz
vorgehend OVG Lüneburg, 26. September 2019, Az: 2 PA 463/19, Beschluss
vorgehend VG Hannover, 15. April 2019, Az: 6 A 4543/18, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. September 2019 - 2 PA 463/19 -verletzt den Beschwerdeführer in Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
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2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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3. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
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4. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Prozesskostenhilfe in einem prüfungsrechtlichen Klageverfahren.
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1. Der Beschwerdeführer war Studienreferendar. Nachdem er zum wiederholten Mal erfolglos an der Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien teilgenommen hatte, gab ihm die Prüfungsbehörde bekannt, dass er die Staatsprüfung endgültig nicht bestanden habe. Der Widerspruch des Beschwerdeführers wurde unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, er habe seiner Mitwirkungspflicht nicht genügt, rechtzeitig vor der Prüfung auf die von ihm behauptete Prüfungsunfähigkeit hinzuweisen.
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2. Der Beschwerdeführer beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die von ihm erhobene Klage, mit der er die Aufhebung des Prüfungsbescheids und die Wiederholung der Prüfung begehrte. Das Verwaltungsgericht wies den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung zurück. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht unter anderem mit folgender Begründung zurück: Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer am Prüfungstag unerkannt prüfungsunfähig gewesen sei. Daran ändere das im Beschwerdeverfahren vorgelegte neuropsychologische Gutachten nichts. Abgesehen davon, dass das dort ausgeführte "Fazit", am Prüfungstag habe eine Prüfungsunfähigkeit vorgelegen und es liege kein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten vor, nicht hinreichend valide untermauert werde, bestätige das Gutachten die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass sich der Kläger der von ihm geschilderten Krankheitssymptome bereits vor der Prüfung bewusst gewesen sei. Von einer Kenntnis der Prüfungsunfähigkeit sei nicht erst dann auszugehen, wenn der Prüfling in der Lage sei, seinen Zustand medizinisch als eine bestimmte Krankheit zu diagnostizieren oder rechtlich als Prüfungsunfähigkeit zu würdigen. Vielmehr habe der Prüfling Kenntnis von seiner Prüfungsunfähigkeit bereits dann, wenn ihm sein gesundheitlicher Zustand in den wesentlichen Merkmalen bewusst sei und er die Auswirkung der Erkrankung auf seine Leistungsfähigkeit im Sinne einer "Parallelwertung in der Laiensphäre" erfasse. Hiervon sei im Fall des Beschwerdeführers auszugehen, weil er ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigung seinem Arzt mitgeteilt habe, er leide seit circa anderthalb Jahren an einer depressiven Verstimmung. Wenn es ein Prüfling versäume, sich vor Antritt der Prüfung bei einem Arzt über mögliche Leistungsbeeinträchtigungen zu informieren, obwohl er von einer bei ihm bestehenden Krankheit Kenntnis habe, trage er das Risiko seiner Prüfungsunfähigkeit, wenn er seine Leistungsbeeinträchtigung erst nach Bekanntwerden des Prüfungsergebnisses geltend mache.
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II.
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1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Beschlüsse des Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichts. Er rügt unter anderem, die angegriffenen Entscheidungen überspannten in verfassungswidriger Weise die Anforderungen an die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, weil im Verfahren der Prozesskostenhilfe eine unzulässige Beweisantizipation vorgenommen worden sei.
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2. Das Niedersächsische Justizministerium und der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die einschlägigen Akten lagen der Kammer vor.
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III.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde - soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts richtet - zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden; ausgehend davon ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
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a) Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. BVerfGE 78, 104 117 f.>; 81, 347 356>; 117, 163 187>; stRspr). Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 357>). Prozesskostenhilfe darf aber von Verfassungs wegen unter anderem dann nicht versagt werden, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2002 - 1 BvR 1450/00 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 1813/18 -, Rn. 27).
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b) Ausgehend hiervon genügt der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts - soweit dort hinreichende Erfolgsaussichten auch insoweit verneint wurden, als der Beschwerdeführer eine unerkannte Prüfungsunfähigkeit geltend gemacht hat - nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
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Soweit das Oberverwaltungsgericht ausführt, das neuropsychologische Gutachten untermauere die dort getroffenen Feststellungen nicht valide, trifft dies zwar zu. Das Gutachten enthält im Wesentlichen nur allgemeine Aussagen zu depressiven Erkrankungen, die einen konkreten Fallbezug vermissen und insbesondere nicht hinreichend erkennen lassen, wie die Gutachterin zu dem Ergebnis gelangt, beim Beschwerdeführer habe eine entsprechende Erkrankung vorgelegen. Jedoch kann aus dem Umstand, dass das Gutachten eine Prüfungsunfähigkeit des Beschwerdeführers nicht hinreichend belegt, nicht auf die Erwiesenheit des Gegenteils geschlossen werden. Vielmehr hätte die Frage der Prüfungsfähigkeit im Klageverfahren aufgeklärt werden müssen.
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Das Oberverwaltungsgericht durfte auch nicht davon ausgehen, es stehe bereits mit großer Wahrscheinlichkeit fest, dass der Beschwerdeführer nicht nur die Symptome seiner Erkrankung, sondern auf der Grundlage einer Parallelwertung in der Laiensphäre auch die daraus folgende Prüfungsunfähigkeit erkannt habe. Dem Attest des Dr. D… kann nur entnommen werden, dass der Beschwerdeführer berichtet hat, seit etwa eineinhalb Jahren unter einer depressiven Verstimmung zu leiden. Hinsichtlich einer Einsicht in diese Krankheit wird dort jedoch ausgeführt, dass eine solche nicht eindeutig festzustellen sei. In dem im Beschwerdeverfahren eingereichten neuropsychologischen Gutachten wird zudem klargestellt, dass die Aussage des Beschwerdeführers gegenüber Dr. D…, er leide seit längerer Zeit an einer depressiven Verstimmung, nicht auf eigener Wahrnehmung, sondern auf Hinweisen Dritter beruhe. Das neuropsychologische Gutachten spricht im Übrigen gegen die Annahme, der Beschwerdeführer habe aus den ihm bekannten Symptomen auf seine Prüfungsunfähigkeit schließen können. Dort wird ausgeführt, ein an einer Depression Erkrankter erkenne zwar sein Unvermögen, mit alltäglichen Aufgaben und bisher problemlos bewältigten Schwierigkeiten fertig zu werden. Diese Symptome würden jedoch nicht als Zeichen einer psychischen Krankheit, sondern als normale Reaktion auf selbst verschuldetes Versagen gedeutet. Die Gutachterin schließt hieraus, der Beschwerdeführer habe seine prüfungsrechtliche Mitwirkungspflicht nicht verletzt.
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Danach fehlte es an den Voraussetzungen, nach denen ausnahmsweise bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe eine Beweisantizipation vorgenommen werden darf.
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Eine andere Frage ist, ob der Beschwerdeführer - was auch im Prozesskostenhilfeverfahren erforderlich ist - hinreichende Anhaltspunkte für eine mögliche Prüfungsunfähigkeit vorgetragen hat. Welche Anforderungen insoweit im einzelnen zu stellen sind und ob hierfür allein die Berufung auf eine seit anderthalb Jahren vorliegende Depression reicht, ist eine Frage, die verfassungsrechtlich nicht abschließend vorgegeben ist. Auf solche Gesichtspunkte hat sich das Oberverwaltungsgericht jedoch nicht gestützt.
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2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, da sie unzulässig ist. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts prozessual überholt, eine isoliert verbleibende Grundrechtsverletzung ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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