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BVerfG 20.12.2011 - 1 BvR 3048/11
BVerfG 20.12.2011 - 1 BvR 3048/11 - Ablehnung des Erlasses einer eA: Sitzungspolizeiliche Anordnung der lediglich "verpixelten", anonymisierten Bildberichterstattung über Angeklagte in einem Strafverfahren - Überwiegen der Belange der Angeklagten sowie der Strafrechtspflege gegenüber der Pressefreiheit im Rahmen der Folgenabwägung
Normen
Art 5 Abs 1 S 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 169 S 1 GVG, § 176 GVG
Gründe
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Der mit einer Verfassungsbeschwerde verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richtet sich gegen zwei inhaltsgleiche sitzungspolizeiliche Anordnungen des Vorsitzenden der 2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main gegenüber der Tageszeitung "Bild", Angeklagte, Zeugen und Nebenkläger in einem Strafverfahren nur "verpixelt" abzubilden.
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I.
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1. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren sind sechs Personen wegen Umsatzsteuerhinterziehung in hohem Umfange im Handel mit CO²-Emissionszertifikaten angeklagt. Der Prozess war ursprünglich bis März 2012 terminiert. Urteilsverkündung ist nach Auskunft des Gerichts nunmehr voraussichtlich jedoch bereits am 21. Dezember 2011. Der Prozess wurde und wird in nationalen wie internationalen Medien mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, da es sich mit einem vermuteten Gesamtsteuerschaden von über 200 Millionen Euro wohl um einen der größten Wirtschaftsprozesse der Nachkriegszeit handelt und die Taten starke internationale Bezüge aufweisen.
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2. Die Beschwerdeführerin, Verlegerin der "Bild", rügt, durch die sitzungspolizeilichen Anordnungen in ihrem Grundrecht auf Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt zu sein. Den Erlass einer einstweiligen Anordnung hält sie für erforderlich, da sie ansonsten unwiederbringlich daran gehindert sei, in einer den Informationsinteressen der Öffentlichkeit gerecht werdenden Weise eine authentische Berichterstattung einschließlich einer die Angeklagten identifizierenden bild- lichen Dokumentation vorzunehmen. Dies stelle für sie einen schweren Nachteil dar. Aufgrund dessen, dass Geschädigter der Fiskus sei, bestünde auch ein besonders großes Interesse der Öffentlichkeit, über die Identität der mutmaßlichen Schädiger informiert zu werden. Auf Seiten der Angeklagten sei zwar eine gewisse stigmatisierende Wirkung zu erwarten. Diese wiege aufgrund der nicht als besonders verwerflich empfundenen Begehungsweise der Angeklagten jedoch nicht besonders schwer. Vielmehr handele es sich um einen Fall nüchterner Wirtschaftskriminalität. Zwei der Angeklagten hätten auch bereits ein Geständnis abgelegt.
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3. Als Gründe für die sitzungspolizeilichen Anordnungen teilte der anordnende Vorsitzende der 2. Strafkammer ausweislich eines Schreibens an das Bundesverfassungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2011 mit, dass die Eingriffe in die Pressefreiheit aufgrund überwiegender Belange des Persönlichkeitsschutzes der Angeklagten und der Rechtspflege gerechtfertigt seien. Bei den Angeklagten handle es sich lediglich um (mutmaßliche) Zwischenhändler. In ihrer Mehrzahl hätten die Angeklagten bereits Aufklärungshilfe über die Hintermänner geleistet. Vor dem Hintergrund bereits vorgefallener konkreter Gewalthandlungen und Bedrohungen im persönlichen Umfeld der Angeklagten wäre ernstlich zu befürchten, dass eine nichtanonymisierte Bildberichterstattung weitere Repressalien gegen die Angeklagten erleichtern würde und sie davon abhalten könnte, weiterhin frei zur Sache auszusagen. Ferner entspreche die Bereicherung der Angeklagten an den Taten durch kleinere Handelsmargen bei weitem nicht dem Steuerschaden. Ein besonders herausgehobenes Interesse der Öffentlichkeit bestünde deshalb auch nicht an den Angeklagten selbst, sondern an System und Funktionsweise des Umsatzsteuerkarussells - beziehungsweise Kettenbetrugs, insbesondere im CO²-Emissionszertifikatehandel.
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Angesichts der Eilbedürftigkeit musste über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden werden, bevor die Beschwerdeführerin Gelegenheit hatte, zu dem oben genannten Schreiben an das Bundesverfassungsgericht Stellung zu nehmen.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 111, 147 152 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 161>; 96, 120 128 f.>; stRspr).
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2. Die vorliegend bereits erhobene Verfassungsbeschwerde ist, soweit die Beschwerdeführerin sie die Anonymisierung der Angeklagten betreffend hinreichend substantiiert hat, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere kann im derzeitigen Stand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht ausgeschlossen werden, dass die Verfassungsbeschwerde gegen die angegriffenen sitzungspolizeilichen Anordnungen Erfolg hat. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit denen die Anfertigung von Bildaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung Beschränkungen unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125 134 f.>; 119, 309 320 f.>). Beim Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende der Bedeutung der Pressefreiheit Rechnung zu tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 91, 125 138 f.>; 119, 309 321>). Bei Anlegung dieses Maßstabes ist die Verfassungsbeschwerde derzeit nicht offensichtlich unbegründet; dies insbesondere da zwei der Angeklagten die Taten bereits gestanden haben und bei ihnen folglich nur noch in eingeschränktem Umfange die Unschuldsvermutung einer Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder entgegengehalten werden kann.
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3. Die danach gebotene Folgenabwägung fällt jedoch zu Gunsten der schutzwürdigen Belange der Angeklagten aus.
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Nach den vom anordnenden Vorsitzenden der 2. Strafkammer angegebenen Gründen wäre bei Veröffentlichung und Verbreitung nichtanonymisierter Bilder der Angeklagten zu befürchten, dass die Gewährleistung der Sicherheit der Angeklagten erschwert würde und (infolgedessen) die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung nicht mehr gewährleistet sei. Diese Aspekte sind verfassungsrechtlich grundsätzlich geeignet, Eingriffe in die Pressefreiheit zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 119, 309 322 ff.>) und wögen, wenn sie zuträfen, auf Seiten der Angeklagten besonders schwer, unabhängig davon, ob diese bereits ein Geständnis abgelegt haben oder nicht. Die Einschätzung des Vorsitzenden ist insofern nicht von der Hand zu weisen. Die vorhandene Gefährdungslage ergibt sich, gestützt auf die Gefahreneinschätzung der Ermittlungsbehörden, aus der unterstellten Art der Tatbeteiligung der Angeklagten und aus Gewalthandlungen und Bedrohungen im Umfeld der Angeklagten. Die Annahme, dass die nichtanonymisierte Bildberichterstattung diese Gefährdungslage verstärken könnte, verliert, falls im Hintergrund der Taten eine größere, international agierende verbrecherische Organisation steht, auch nicht von vornherein dadurch ihre Berechtigung, dass die Angeklagten derzeit inhaftiert sind. Zum einen ist nach derzeitigem Stand nicht einzuschätzen, wie lange die Angeklagten inhaftiert sein werden, zum anderen ist schwer einzuschätzen, inwiefern es einer entsprechenden Organisation möglich wäre, auch inhaftierte Personen zu gefährden, und wieweit die Verbreitung und Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder diese Gefährdung erleichtern würde. Jedenfalls dass die Angeklagten in Folge dieser befürchteten Gefährdung ihrer Sicherheit davon abgehalten werden könnten, weiterhin frei zur Sache auszusagen, ist nachvollziehbar. Gemessen an diesen im derzeitigen Verfahrensstand nicht von vornherein auszuschließenden Gefährdungen überwiegen die zu befürchtenden Nachteile für die Angeklagten die Folgen für die Presseberichterstattung, die sich aus dem Anonymisierungsgebot ergeben. Die angegriffenen sitzungspolizeilichen Anordnungen untersagen die bebilderte Berichterstattung aus dem Sitzungssaal nicht generell, sondern beschränken sie lediglich im Hinblick darauf, dass insbesondere die Angeklagten zu anonymisieren sind. Damit wird dem öffentlichen Informationsinteresse und den Belangen der Pressefreiheit weitgehend Rechnung getragen. Die in dem Anonymisierungsgebot liegende Beschränkung der Berichterstattung wiegt nicht so schwer, als dass sie es rechtfertigte, dass das Gericht eventuell mögliche Verletzungen der aufgezeigten schutzwürdigen Belange der Angeklagten und der Rechtspflege zuzulassen hätte.
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