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BVerfG 08.12.2010 - 1 BvR 1188/10
BVerfG 08.12.2010 - 1 BvR 1188/10 - Nichtannahmebeschluss: Aufhebung der Auswahl eines Verfahrens als Musterverfahren gem § 93a Abs 1 S 1 VwGO verletzt Klägerin nicht in Grundrecht aus Art 19 Abs 4 S 1 GG - Vorliegen von Sachgründen für fachgerichtliche Verfahrensgestaltung - Zulässigkeit der gegen Aufhebungsbeschluss als Zwischenentscheidung gerichteter Verfassungsbeschwerde fraglich - Unzulässigkeit einer gegen etwaige zukünftige Grundrechtsverletzungen gerichteten Verfassungsbeschwerde
Normen
Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 90 Abs 1 BVerfGG, § 93a Abs 1 S 1 VwGO
Vorinstanz
vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 22. März 2010, Az: 11 C 322/08.T, Beschluss
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufhebung eines Beschlusses über die Auswahl eines Verfahrens als Musterverfahren gemäß § 93a Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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I.
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1. Die Beschwerdeführerin ist eine Stadt in Hessen; ihr Stadtgebiet liegt westlich des Flughafens Frankfurt am Main. Sie hat beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss vom 18. Dezember 2007 zum Ausbau des Flughafens erhoben.
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Mit Beschluss vom 20. Januar 2009 wählte der Hessische Verwaltungsgerichtshof auf der Grundlage von § 93a Abs. 1 Satz 1 VwGO unter anderem das Verfahren der Beschwerdeführerin als Musterverfahren aus. Auf einen Verlegungsantrag der Beschwerdeführerin hob das Gericht in ihrer Sache die für Juni 2009 angesetzten Termine zur mündlichen Verhandlung auf und teilte mit, dass neuer Termin zur mündlichen Verhandlung von Amts wegen anberaumt werde. Am 21. August 2009 verkündete es die Urteile in den anderen als Musterverfahren ausgewählten Verfahren.
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Nach vorheriger Anhörung der Beschwerdeführerin hob der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 22. März 2010 den Beschluss über die Auswahl ihres Verfahrens als Musterverfahren auf und setzte es bis zum rechtskräftigen Abschluss der anderen Musterverfahren aus. Zur Begründung führt das Gericht im Wesentlichen aus: Die Aufhebung sei geboten und zweckmäßig, weil sich die prozessuale Situation zwischenzeitlich verändert habe. Auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens der Beschwerdeführerin zur Sach- und Rechtslage sei es nicht notwendig, zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein weiteres Musterverfahren mündlich zu verhandeln. Es sei nicht zu erwarten, dass das Verfahren zu einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn führen werde. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Erkenntnisse, die bei Durchführung eines weiteren Musterverfahrens eventuell gewonnen werden könnten, außer Verhältnis zu dem Aufwand stünden, der mit der Durchführung eines weiteren Musterverfahrens verbunden wäre. Die Beschwerdeführerin könne sich nicht mit Erfolg auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen. Die Auswahl als Musterverfahren rechtfertige kein Vertrauen darauf, dass diese Funktion auch bei einer erheblichen Veränderung der prozessualen Situation aufrecht erhalten werde.
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Die von der Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluss gerichtete Anhörungsrüge blieb erfolglos.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
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II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen; ihr kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grund- oder grundrechtsgleichen Rechten, soweit sich die Beschwerdeführerin auf sie berufen kann, angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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1. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls insoweit, als die Beschwerdeführerin von ihr befürchtete zukünftige Verstöße gegen Grund- oder grundrechtsgleiche Rechte bei der voraussichtlich zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache rügt. Eine solche Rüge liegt insbesondere in der Behauptung der Beschwerdeführerin, der Hessische Verwaltungsgerichtshof bekenne sich zu einem Vorgehen, das die Geltendmachung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG vorrangig verhindern wolle. Hinsichtlich etwaiger, in der Zukunft liegender Grundrechtsverletzungen muss sich die Beschwerdeführerin auf die dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten verweisen lassen.
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2. Es kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde auch im Übrigen deshalb unzulässig ist, weil sie sich gegen eine nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbare Zwischenentscheidung richtet.
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Eine Verfassungsbeschwerde gegen Zwischenentscheidungen ist grundsätzlich ausgeschlossen, weil Verfassungsverstöße mit der Anfechtung der Endentscheidung gerügt werden können (vgl. BVerfGE 21, 139 143>; 119, 292 294>). Der Grund für den Ausschluss fehlt allerdings, wenn bereits die Zwischenentscheidung zu einem bleibenden rechtlichen Nachteil für den betroffenen Beteiligten führt, der später nicht oder jedenfalls nicht vollständig behoben werden kann (vgl. BVerfGE 101, 106 120>; 119, 292 294>).
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Es ist nicht erkennbar, dass die Aufhebung des Status als Musterverfahren und die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 93a Abs. 1 Satz 1 VwGO zu einem derartigen bleibenden rechtlichen Nachteil für die Beschwerdeführerin führt. Ob der Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör gewahrt und ob ihr effektiver Rechtsschutz gewährt werden wird, hängt maßgeblich vom weiteren Verlauf der Musterverfahren und insbesondere von der konkreten Gestaltung des sich nach deren Durchführung anschließenden sogenannten Nachverfahrens ab (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. März 2009 - 1 BvR 432/09 -, NVwZ 2009, S. 908 909>). Eine rechtliche Bindung an die in den Musterverfahren ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen für das ausgesetzte Verfahren der Beschwerdeführerin besteht nach verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 4 A 1053.06 [4 A 1041.04] -, juris <insbesondere Rn. 12> und Beschluss vom 18. April 2007 - 4 A 1003.07 [4 A 1022.06] -, juris <insbesondere Rn. 12>; vgl. auch BVerfG, a.a.O. S. 909; Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 93a Rn. 23 [Stand: November 2009]; Geiger, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 93a Rn. 20). Ob der Hessische Verwaltungsgerichtshof zu dem vereinfachten Beschlussverfahren des § 93a Abs. 2 VwGO oder zum "normalen" Urteilsverfahren (vgl. Rudisile, a.a.O. Rn. 33) übergehen wird, steht zum derzeitigen Zeitpunkt nicht fest; in dem angegriffenen Beschluss hat sich der Hessische Verwaltungsgerichtshof die diesbezügliche Entscheidung ausdrücklich vorbehalten. Auch im vereinfachten Beschlussverfahren stünden der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss die Rechtsmittel zu, die zulässig wären, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte (vgl. § 93a Abs. 2 Satz 5 VwGO), also insbesondere eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 133 Abs. 1 VwGO. Im Nachverfahren hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof den verfassungsrechtlichen Ansprüchen der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör und - sofern sie sich darauf berufen kann - auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Dass er hierzu nicht gewillt oder rechtlich oder faktisch nicht in der Lage wäre, ist nicht zu erkennen.
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3. Selbst wenn die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen den angegriffenen Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs unterstellt wird und dahingestellt bleibt, ob die Beschwerdeführerin als Gemeinde im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschwerdefähig ist (vgl. BVerfGE 61, 82 109>; auch BVerfGE 107, 299 310 f.>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Februar 2008 - 1 BvR 1987/07 -, juris Rn. 27), bleibt die Verfassungsbeschwerde ohne Erfolg. Denn eine Verletzung der Beschwerdeführerin in diesem Grundrecht durch den angegriffenen Beschluss lässt sich jedenfalls nicht feststellen.
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a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 93, 1 13>; stRspr). Diese wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Sie treffen Vorkehrungen dafür, dass der prozessführende Beteiligte seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 96, 27 39>; stRspr). Dem Richter ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 369 f.>; stRspr). Sind dem Richter im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese Vorschriften im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden; sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz führen (vgl. BVerfGE 112, 185 207>; stRspr).
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b) Hiervon ausgehend ist die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht gerechtfertigt.
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Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Hessische Verwaltungsgerichtshof bei seinem Beschluss vom 22. März 2010 von sachfremden und zweckwidrigen Erwägungen leiten ließ und dass infolgedessen der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Durchsetzung ihrer Rechte in unzumutbarer Weise verkürzt wird.
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Der Hessische Verwaltungsgerichtshof geht in dem angegriffenen Beschluss unter Berücksichtigung der von ihm in den Musterverfahren durchgeführten aufwendigen mündlichen Verhandlung und auf der Grundlage der Urteile vom 21. August 2009, insbesondere im Verfahren 11 C 227/08.T u.a. (juris), sowie des weiteren schriftsätzlichen Vorbringens im Verfahren der Beschwerdeführerin davon aus, dass die weitere Fortführung dieses Verfahrens als Musterverfahren entbehrlich ist, weil er sich hiervon keinen erheblichen zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht. In der fehlenden Erwartung zusätzlichen Erkenntnisgewinns liegt eine verfahrensökonomische, jedenfalls keine sachfremde Erwägung. Dass, wie die Beschwerdeführerin geltend macht, gerade in ihrem Verfahren wesentliche, in den anderen Musterverfahren nicht behandelte Gesichtspunkte aufgeworfen sind, und deshalb der Hessische Verwaltungsgerichtshof seinen Gestaltungsspielraum bei der Handhabung der verwaltungsprozessualen Bestimmungen zu den Musterverfahren in verfassungsrechtlich nicht haltbarer Weise ausgeübt hätte, kann auf der Grundlage ihres Vortrags nicht festgestellt werden. Allein der Umstand, ursprünglich in den Kreis der Musterverfahren einbezogen worden zu sein, verschafft der Beschwerdeführerin keinen von Verfassungs wegen geschützten Anspruch auf Beibehaltung dieser Verfahrensstellung, sofern - wie hier - Sachgründe dem Prozessgericht eine andere Verfahrensgestaltung angezeigt erscheinen lassen. Einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle sind solche an der Funktion des Musterverfahrens orientierten verfahrensleitenden Entscheidungen des Prozessgerichts, auch wenn sie berechtigte Interessen der Verfahrensbeteiligten stets berücksichtigen müssen, ohnehin nur in sehr engen Grenzen zugänglich.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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