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BFH 03.11.2020 - III R 59/19
BFH 03.11.2020 - III R 59/19 - Einsicht in Kindergeldakten
Normen
§ 143 Abs 1 FGO, § 138 Abs 1 FGO, § 5 AO, EStG, § 25 SGB 10
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 6. November 2018, Az: 12 K 132/18, Urteil
Leitsatz
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1. Die Akteneinsicht in Kindergeldsachen nach dem EStG richtet sich nach der AO; insoweit besteht ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung.
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2. Bei der Abwägung der Interessen des Einsichtssuchenden und der Familienkasse ist zu berücksichtigen, dass der Verwaltungsaufwand regelmäßig geringer ist als in Steuersachen, weil sich in Kindergeldakten seltener als in anderen Steuerakten Daten von und Informationen über Dritte befinden, die durch das Steuergeheimnis geschützt sind, dass in elektronischer Form geführte Kindergeldakten leichter zu duplizieren sind als Papierakten und dann trotz Akteneinsicht für die Fallbearbeitung zur Verfügung stehen, und dass elektronisch geführte Akten durch die Gewährung von Akteneinsicht keinem erhöhten Integritäts- oder Verlustrisiko ausgesetzt sind.
Tenor
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Nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache werden der Beklagten die Kosten des gesamten Verfahrens auferlegt.
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Das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 06.11.2018 - 12 K 132/18 ist gegenstandslos.
Tatbestand
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I.
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Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Mutter der Kinder D und R. Sie bezog für diese bis Januar 2014 Kindergeld.
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Mit Schreiben vom 17.11.2017 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) Einsicht in die Kindergeldakte. Die Familienkasse teilte ihnen dazu am 07.02.2018 mit, dass dem Antrag auf Akteneinsicht nicht entsprochen werden könne. Am 16.03.2018 beantragten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, ihnen die Akte in ausgedruckter Form zu übersenden. Die Familienkasse lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 09.04.2018 ab. Den Einspruch der Klägerin vom 09.05.2018 wies die Familienkasse am 28.05.2018 als unbegründet zurück. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 06.11.2018 als unbegründet ab.
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Aufgrund des Antrags vom 17.04.2020 erhielt der Klägervertreter am 27.04.2020 im Revisionsverfahren Einsicht in die Kindergeldakte. Am 02.10.2020 erklärte die anwaltlich vertretene Klägerin und am 23.09.2020 die Familienkasse den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.
Entscheidungsgründe
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II.
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Ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, so entscheidet das Gericht gemäß §§ 143 Abs. 1, 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens. Dies führt nach summarischer Prüfung zur Kostentragungspflicht der Beklagten, da die Klägerin in dem Rechtsstreit ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses obsiegt hätte. Die Klägerin hatte einen Anspruch auf Akteneinsicht in die Kindergeldakte.
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1. Seit der Übernahme des Kindergeldrechts in das Einkommensteuerrecht zum 01.01.1996 richtet sich das Verwaltungsverfahren allein nach der Abgabenordnung --AO-- (Senatsurteil vom 19.11.2008 - III R 108/06, BFH/NV 2009, 357, unter II.2.). Dies gilt, obwohl dem Kindergeld eine Doppelfunktion zukommt. Es dient gemäß § 31 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) der verfassungsrechtlich gebotenen steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes einschließlich des Bedarfs für Betreuung und Erziehung und Ausbildung und, soweit das Kindergeld hierfür nicht erforderlich ist, nach § 31 Satz 2 EStG der sozialrechtlichen Förderung der Familie (vgl. hierzu Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.06.2004 - 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BGBl I 2004, 2570, unter C.II.1. am Ende; Senatsurteil vom 25.07.2019 - III R 34/18, BFHE 265, 487, Rz 30).
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a) Die AO enthält --anders als andere Verfahrensordnungen wie z.B. § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und § 147 der Strafprozessordnung-- keine Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Ein solches Einsichtsrecht ist weder aus § 91 Abs. 1 AO noch aus § 364 AO abzuleiten. Allerdings steht dem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht nachsuchenden Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Behörde zu (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.02.2010 - VII R 19/09, BFHE 228, 139, BStBl II 2010, 729, Rz 11). Der Anspruch des Einsichtssuchenden auf fehlerfreie Ermessensentscheidung ist gewahrt, wenn die Behörde im Rahmen einer Interessenabwägung dessen Belange und die der Behörde gegeneinander abgewogen hat (BFH-Beschluss vom 04.06.2003 - VII B 138/01, BFHE 202, 231, BStBl II 2003, 790, unter II.2.a).
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Der Gesetzgeber hat ein allgemeines Akteneinsichtsrecht im Steuerverwaltungsverfahren für nicht praktikabel gehalten, weil diesem Gesichtspunkte des Schutzes Dritter und das Ermittlungsinteresse der Finanzbehörden sowie der Verwaltungsaufwand der Finanzbehörde entgegenstünden, die vor jeder Akteneinsicht zu prüfen hätte, ob ein Geheimhaltungsinteresse Dritter beeinträchtigt sein könnte und dann das gesamte Kontrollmaterial, behördeninterne Vermerke und Anweisungen und Ähnliches aus den Akten zu entfernen hätte (BTDrucks 7/4292, S. 24 f.). Daraus hat der BFH im Beschluss in BFHE 202, 231, BStBl II 2003, 790, unter II.2.b abgeleitet, dass die Einsichtnahme in die Akten während des laufenden Verwaltungs- oder Steuerermittlungsverfahrens lediglich eine in Anwendung des § 91 AO oder des § 364 AO aus Gründen der Gewährung des rechtlichen Gehörs zu gewährende Ausnahme sein soll. Im Beschluss vom 26.05.1995 - VI B 91/94 (BFH/NV 1995, 1004) nahm der BFH an, dass das Finanzamt nach seinem Ermessen Akteneinsicht gewähren kann, obwohl in der AO ein allgemeines Akteneinsichtsrecht nicht geregelt ist, und dies jedenfalls dann regelmäßig geschehen sollte, wenn Verhältnisse Dritter nicht berührt werden.
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b) Einsichtsgesuche in Kindergeldakten sind nicht nach anderen Grundsätzen zu behandeln als Akteneinsichtsgesuche, die in gewöhnlichen steuerlichen Verwaltungsverfahren gestellt werden.
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Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch Kinderfreibeträge und Kindergeld in den §§ 67 ff. EStG einige Sonderregeln verfahrensrechtlicher Art für das Kindergeld geschaffen. Ein Akteneinsichtsrecht ist darin nicht normiert, obwohl die allgemeinen sozialrechtlichen Vorschriften (§ 25 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch), denen das Verwaltungsverfahren in Kindergeldsachen bis zur Neuregelung unterlag, ein solches im Sozialverwaltungsverfahren grundsätzlich vorsehen.
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Somit sind die Interessen des Einsichtssuchenden und die der Familienkasse gegeneinander abzuwägen. Diese Belange können anders gelagert sein als in gewöhnlichen steuerlichen Verwaltungsverfahren, so dass die Abwägung häufiger zur Gewährung von Akteneinsicht führen mag. Insbesondere dürften sich in Kindergeldakten seltener als in gewöhnlichen Steuerakten Kontrollmitteilungen oder Prüfhinweise sowie Daten von und Informationen über Dritte befinden, die durch das Steuergeheimnis geschützt werden. Gerade der Schutz Dritter und der zu diesem Zweck im Falle der Gewährung von Akteneinsicht zu betreibende Verwaltungsaufwand waren aber nach der Gesetzesbegründung maßgebliche Gründe für die fehlende Regelung eines Akteneinsichtsrechts im steuerlichen Verwaltungsverfahren. Auch sind die inzwischen in elektronischer Form geführten Kindergeldakten leichter zu duplizieren als Papierakten, sie stehen damit trotz Akteneinsicht ohne zeitliche Einschränkungen für die Fallbearbeitung zur Verfügung und unterliegen keinem durch die Gewährung von Akteneinsicht erhöhten Integritäts- oder sogar Verlustrisiko.
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2. Die Familienkasse hat das ihr eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Sie hat zwar --wie die Einspruchsentscheidung vom 28.05.2018 zeigt-- erkannt, dass kein in der AO geregelter Akteneinsichtsanspruch der Klägerin besteht, es ihr jedoch nicht verwehrt ist, im Einzelfall nach ihrem Ermessen Akteneinsicht zu gewähren. Die Familienkasse ist bei der Entscheidung aber davon ausgegangen, dass die Klägerin keinerlei berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht habe. Sie ist daher in eine Interessensabwägung überhaupt nicht eingetreten. Da nach den Umständen des Einzelfalls die Belange der Klägerin, namentlich die Sprachbarriere, das Fehlen von Unterlagen zum Kindergeldverfahren und das Erfordernis, anwaltliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, die Interessen der Familienkasse jedoch deutlich überwogen, war von einer Ermessensreduzierung auf null auszugehen, und es bestand ein Anspruch der Klägerin auf Einsicht in die Kindergeldakte.
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Die Familienkasse hat gänzlich unberücksichtigt gelassen, dass die Klägerin geltend gemacht hatte, der deutschen Sprache nur begrenzt mächtig und mit dem Verwaltungsverfahren hinsichtlich des Kindergeldes überfordert gewesen zu sein. Auch der Vortrag, die Klägerin verfüge nicht mehr über Unterlagen oder Informationen zum Stand der Kindergeldangelegenheit, fand keinen Eingang in die Entscheidung.
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Soweit sich die Familienkasse darauf berufen hat, dass über die Kindergeldansprüche bis zur Höchstaltersgrenze der Kinder bestandskräftig entschieden sei, kann dies zwar für die --gleichfalls in die Abwägung einzustellende Frage, ob die Auskunft noch der Wahrnehmung von Rechten in einem bestehenden Steuerrechtsverhältnis dienen kann-- von Bedeutung sein. Indessen fehlt der Einspruchsentscheidung eine Begründung, welche die Tatsachen enthält, die es erlauben würden, diese Erwägung nachzuvollziehen und nachzuprüfen. So sind weder die Bescheiddaten noch die jeweils beschiedenen Zeiträume angegeben. Außerdem ist zu beachten, dass auch bestandskräftige Bescheide geändert werden können, wenn die Voraussetzungen einer Korrekturvorschrift vorliegen. Hier hatte die Klägerin jahrelang Kindergeld für ihre Söhne bezogen und war darum bemüht, die Umstände der Beendigung der Zahlungen aufzuklären, so dass der nötige Bezug zu einem Steuerrechtsverhältnis nach wie vor bestand.
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Soweit die Familienkasse darauf abstellt, dass die Entscheidungen allein auf der Grundlage der von der Klägerin übersandten Unterlagen getroffen worden seien, hat sie nicht erwogen, dass --anders als regelmäßig in gewöhnlichen Steuerverwaltungsverfahren-- somit Rechte Dritter bzw. das Steuergeheimnis einer Akteneinsicht nicht entgegenstanden.
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Auch der im Ausgangsbescheid zur Begründung herangezogene Umstand, dass die Unterlagen nur noch in elektronischer Form vorliegen, sprach gerade nicht gegen eine Akteneinsicht. Vielmehr folgt hieraus, dass ein etwaiges Verlustrisiko für die Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht keine und der Aufwand für die Übersendung z.B. an eine andere Familienkasse oder ein FG entfielen und die Fertigung einer Duplikatsakte allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle spielen können. Da es sich um ein bei der Familienkasse bereits abgeschlossenes Verfahren handelte, drohte auch aus diesem Grund keinerlei Verzögerung bei der Bearbeitung des Falles.
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3. Angesichts der vorgenannten Umstände kann es im Streitfall hier auch dahinstehen, ob Art. 15 der Datenschutzgrundverordnung über das Auskunftsrecht hinaus ein Recht auf Einsicht in die Steuerakten begründet.
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