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BFH 31.03.2016 - XI B 13/16
BFH 31.03.2016 - XI B 13/16 - Aussetzung der Vollziehung - berechtigtes Interesse - ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit einer Vorschrift des Umsatzsteuergesetzes mit dem Unionsrecht
Normen
§ 69 Abs 2 S 2 FGO, § 27 Abs 19 UStG 2005, Art 20 Abs 3 GG, § 13b UStG 2005, UStG VZ 2012
Vorinstanz
vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 4. Januar 2016, Az: 6 V 1104/15, Beschluss
Leitsatz
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NV: Bestehen ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm des Umsatzsteuergesetzes mit dem Unionsrecht, ist für die Gewährung von Aussetzung der Vollziehung eines auf diese Norm gestützten Steuerbescheids kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich .
Tenor
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Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sächsischen Finanzgerichts vom 4. Januar 2016 6 V 1104/15 wird als unbegründet zurückgewiesen.
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Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Tatbestand
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I. Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) führte im Jahr 2012 (Streitjahr) Bauleistungen an die Firma … GmbH & Co. KG (B-GmbH) aus. Die Antragstellerin und die B-GmbH gingen dabei übereinstimmend davon aus, dass die B-GmbH die Umsatzsteuer nach § 13b Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 13b Abs. 5 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der im Streitjahr geltenden Fassung schulde. Die B-GmbH meldete die Umsatzsteuer an und führte diese an das für sie zuständige Finanzamt (FA B) ab. Gegenüber der Antragstellerin setzte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) mit Bescheid vom 28. Februar 2014 Umsatzsteuer für das Streitjahr fest, ohne die Umsatzsteuer auf die von der Antragstellerin an die B-GmbH ausgeführten Bauleistungen zu berücksichtigen.
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Nach Ergehen des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. August 2013 V R 37/10 (BFHE 243, 20, BStBl II 2014, 128) beantragte die B-GmbH beim FA B, den ihr gegenüber ergangenen Umsatzsteuerbescheid dahin gehend zu ändern, dass sie nicht Schuldnerin der auf die von der Antragstellerin ausgeführten Bauleistungen entfallenden Umsatzsteuer sei.
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Das FA setzte daraufhin mit Umsatzsteuer-Änderungsbescheid vom 10. Juni 2015 unter Berufung auf den durch Art. 7 Nr. 9 des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25. Juli 2014 (BGBl I 2014, 1266 --Kroatien-Anpassungsgesetz--) eingefügten § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG, der am 31. Juli 2014 in Kraft getreten ist (Art. 28 Abs. 1 Kroatien-Anpassungsgesetz), die Umsatzsteuer für die Bauleistungen gegenüber der Antragstellerin fest.
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Dagegen richtet sich der Einspruch der Antragstellerin, über den noch nicht entschieden ist. Zur Begründung trug die Antragstellerin vor, ihr sei nach § 176 der Abgabenordnung Vertrauensschutz zu gewähren. § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG, der diesen Vertrauensschutz ausschließe, verstoße gegen das Rückwirkungsverbot.
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Das FA lehnte mit Schreiben vom 15. Juli 2015 den daneben gestellten Antrag auf Gewährung von Aussetzung der Vollziehung (AdV) im hier zu beurteilenden Teil ab. Trotz des Beschlusses des Finanzgerichts (FG) Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2015 5 V 5026/15 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2015, 1490) bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit.
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Das FG gab dem Antrag mit Beschluss vom 4. Januar 2016 statt. Es führte aus, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids. Es spreche viel dafür, dass § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße.
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Mit seiner Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat, macht das FA geltend, es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit. Zwar habe der BFH durch Beschluss vom 17. Dezember 2015 XI B 84/15 (BFHE 252, 181, BStBl II 2016, 192) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit bejaht. Es liege jedoch keine echte Rückwirkung vor. Das Niedersächsische FG habe durch Urteil vom 29. Oktober 2015 5 K 80/15 (EFG 2016, 338) rechtskräftig entschieden, dass § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG nicht gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Durch die Möglichkeit zur Abtretung werde ausreichender Vertrauensschutz gewährt. Das insoweit nach dem Gesetzeswortlaut bestehende Ermessen sei aufgrund der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (BTDrucks 18/5603), die die Verwaltungsauffassung bekunde, eingeschränkt.
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Außerdem trägt das FA unter Hinweis auf den Beschluss des FG Köln vom 1. September 2015 9 V 1376/15 (EFG 2015, 2005) vor, es sei keine AdV zu gewähren, weil für die AdV eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ein besonderes berechtigtes Interesse erforderlich sei, das das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung überwiege. Hieran fehle es im Streitfall.
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Das FA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
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Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie trägt zum besonderen Aussetzungsinteresse vor, dass die Gewährung von AdV die Geltung des § 27 Abs. 19 UStG nicht berühre. Andernfalls wäre die Gewährung von AdV bei verfassungswidrigen Gesetzen per se ausgeschlossen. Dies widerspreche der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Außerdem sei die geordnete Haushaltsführung nicht gefährdet, weil die Umsatzsteuer noch gar nicht an die B-GmbH erstattet worden sei. Die Versagung von AdV führte vielmehr zu einer zeitweiligen Steigerung des Steueraufkommens auf Basis eines verfassungsrechtlich und unionsrechtlich zweifelhaften Gesetzes.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids bestehen. Eines besonderen berechtigten Interesses bedarf es --entgegen der Auffassung des FA-- im Streitfall nicht.
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1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
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Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 26. September 2014 XI S 14/14, BFH/NV 2015, 158, Rz 33; vom 20. Januar 2015 XI B 112/14, BFH/NV 2015, 537, Rz 15; jeweils m.w.N.). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2015, 158, Rz 33; in BFH/NV 2015, 537, Rz 15; jeweils m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 3. April 2013 V B 125/12, BFHE 240, 447, BStBl II 2013, 973, Rz 12; vom 11. Juli 2013 XI B 41/13, BFH/NV 2013, 1647, Rz 16; in BFH/NV 2015, 537, Rz 15; jeweils m.w.N.).
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2. Gemessen daran bestehen nach mittlerweile ständiger Rechtsprechung des BFH (vgl. Beschlüsse in DStR 2016, 239; vom 27. Januar 2016 V B 87/15, DStR 2016, 470) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden, die auf § 27 Abs. 19 UStG gestützt sind. Der Senat verweist zur weiteren Begründung auf seine Ausführungen im BFH-Beschluss in BFHE 252, 181, BStBl II 2016, 192, an denen er festhält. Der vom FA hervorgehobene Umstand, dass das Urteil des Niedersächsischen FG in EFG 2016, 338 rechtskräftig geworden ist, ändert nichts daran, dass die sich stellenden Rechtsfragen höchstrichterlich ungeklärt sind und in Rechtsprechung und Literatur zur Vereinbarkeit des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG mit Verfassungsrecht und Unionsrecht unterschiedliche Auffassungen vertreten werden.
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3. Entgegen der Auffassung des FA ist auch kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich.
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a) Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Beschlüsse vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454; vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558; vom 9. März 2012 VII B 171/11, BFHE 236, 206, BStBl II 2012, 418; vom 15. April 2014 II B 71/13, BFH/NV 2015, 7) bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ein besonderes berechtigtes Interesse an der AdV erforderlich. Der erkennende Senat ist dieser Rechtsprechung bisher gefolgt (bejahend aus früherer Zeit z.B. BFH-Beschlüsse vom 27. August 2002 XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18; vom 7. Juli 2004 XI B 231/02, BFH/NV 2005, 178).
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Ob an dieser Rechtsprechung weiter festzuhalten ist, wird von mehreren Senaten des BFH offen gelassen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. August 2007 IX B 92/07, BFH/NV 2007, 2270; vom 25. August 2009 VI B 69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826; vom 9. Mai 2012 I B 18/12, BFH/NV 2012, 1489; s. zur abnehmenden Bedeutung staatlicher Haushaltsinteressen auch BFH-Beschluss vom 21. Mai 2010 IV B 88/09, BFH/NV 2010, 1613, Rz 17).
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b) Ob die unter a) angeführte Rechtsprechung des BFH mit dem Grundsatz der Gewährung effektiven Rechtsschutzes vereinbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zuletzt ausdrücklich offen gelassen (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 24. Oktober 2011 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11, Neue Juristische Wochenschrift 2012, 372; vom 6. Mai 2013 1 BvR 821/13, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2013, 639, Rz 7).
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c) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob an dieser Rechtsprechung weiter festzuhalten ist. Das FG hat nämlich zu Recht betont, dass außerdem ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG mit Unionsrecht bestehen. Jedenfalls dann, wenn es um die Vereinbarkeit einzelner Steuerrechtsnormen mit Unionsrecht geht (vgl. zur Abgrenzung BFH-Beschluss vom 25. November 2014 VII B 65/14, BFHE 247, 182, BStBl II 2015, 207, Rz 23 ff.), ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich; es wird von den Umsatzsteuersenaten des BFH noch nicht einmal geprüft (vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom 5. Mai 1994 V S 11/93, BFH/NV 1995, 368; vom 30. November 2000 V B 187/00, BFH/NV 2001, 657; vom 19. Dezember 2012 V S 30/12, BFH/NV 2013, 779; vom 12. Dezember 2013 XI B 88/13, BFH/NV 2014, 550; zur Ertragsteuer s. ausdrücklich BFH-Beschlüsse vom 24. März 1998 I B 100/97, BFHE 185, 467, BFH/NV 1998, 1172, unter II.3., Rz 10; vom 14. Februar 2006 VIII B 107/04, BFHE 212, 285, BStBl II 2006, 523, unter II.1.b, Rz 7). Auf ein besonderes Aussetzungsinteresse kommt es deshalb auch vorliegend nicht an (vgl. Rauch, HFR 2016, 394).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
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