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BFH 10.02.2015 - V B 87/14
BFH 10.02.2015 - V B 87/14 - Verfahrensfehler durch Nichtberücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens; Schätzung der Besteuerungsgrundlagen; Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Rügeverzicht
Normen
§ 162 AO, § 96 Abs 1 S 1 FGO, § 116 Abs 5 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO
Vorinstanz
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 5. Juni 2014, Az: 5 K 330/13, Urteil
Leitsatz
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1. NV: Das FG hat seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zu Grunde zu legen; dabei sind insbesondere der Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Prozessbeteiligten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen .
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2. NV: Voraussetzung einer Schätzung ist die Gewissheit, dass überhaupt ein steuerlich bedeutsamer Sachverhalt vorliegt. Bestehen daran Zweifel, können diese nicht im Wege einer Schätzung behoben werden .
Tenor
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Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 5. Juni 2014 5 K 330/13 aufgehoben.
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Die Sache wird an das Niedersächsische Finanzgericht zurückverwiesen.
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Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist eine am 11. Juli 2008 gegründete Kapitalgesellschaft britischen Rechts in der Rechtsform einer Private Company Limited by Shares (C-Ltd.). Für das Streitjahr 2008 gab sie trotz Aufforderung weder Umsatzsteuer-Voranmeldungen noch eine Jahressteuererklärung ab.
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Hierauf schätzte das Finanzamt durch den Umsatzsteuerbescheid 2008 vom 8. November 2012 die Besteuerungsgrundlagen und gab diesen Herrn X als Direktor der C-Ltd. bekannt. Ihren dagegen eingelegten Einspruch begründete die Klägerin damit, dass sie in 2008 keine Niederlassung in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) unterhalten und dort auch keine Geschäftstätigkeit entfaltet habe. Außerdem sei der Bescheid an die Privatanschrift des Herrn X adressiert worden. Dieser sei jedoch schon lange nicht mehr Direktor der Gesellschaft. Den Einspruch wies der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) am 3. Juli 2013 als unbegründet zurück. Im Klageverfahren trug die Klägerin vor, dass sie im Jahr 2008 keine Niederlassung und keine Geschäftstätigkeit in Deutschland gehabt habe. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom 5. Juni 2014 als unbegründet zurück. Dabei ging es von einer wirksamen Bekanntgabe des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids aus, da sich aus einem von Herrn X beim Amtsgericht B am 29. Juli 2011 abgegebenen Vermögensverzeichnis ergebe, dass dieser Geschäftsführer der Klägerin sei. Zweifel an der fortbestehenden Geschäftsführerstellung ergäben sich nicht, da die Klägerin es unterlassen habe vorzutragen, wann Herr X als Geschäftsführer abgelöst wurde und wer sein Nachfolger sei; die Gesellschaft sei nach den Eintragungen im Companies Haus noch immer aktiv. Da die Klägerin keine Umsatzsteuererklärung und keinen Jahresabschluss für das Streitjahr abgegeben habe, sei das FA auch zur Schätzung befugt gewesen. Die Schätzung sei in Anlehnung an die Besteuerungsgrundlagen in der Jahresumsatzsteuererklärung 2009 erfolgt und daher nicht zu beanstanden.
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Mit ihrer Beschwerde macht die Klägerin Verfahrensfehler geltend: Das FG habe ihren Vortrag zur fehlenden Niederlassung und Geschäftstätigkeit im Streitjahr 2008 übergangen. Das Urteil sei insoweit nicht mit Gründen versehen und stelle eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen die richterliche Hinweispflicht vor. Im Hinblick auf die vom FG als wirksam angesehene Bekanntgabe des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids an Herrn X sei das FG verpflichtet gewesen, die Klägerin auf das Erfordernis weiteren Vortrags hinzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Es liegt ein von der Klägerin in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
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a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens, also den gesamten konkretisierten Prozessstoff zu Grunde zu legen. Insbesondere sind der Inhalt der vorgelegten Akten und das Vorbringen der Prozessbeteiligten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO ist ein Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. November 2008 X B 214/07, juris, und vom 25. September 2007 IX B 199/06, BFH/NV 2008, 26).
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b) Die Klägerin hat nicht nur im Einspruchsverfahren, sondern auch im finanzgerichtlichen Verfahren vorgebracht, sie habe in 2008 weder eine Niederlassung unterhalten noch eine Geschäftstätigkeit im Inland entfaltet; dies ergebe sich nicht zuletzt aus dem vorgelegten Jahresabschluss 2009. Die Berücksichtigung dieses übergangengen Sachvortrags führt --auch nach der materiell-rechtlichen Auffassung des FG-- zu einer anderen, der Klägerin günstigen Entscheidung.
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Das Urteil des FG enthält keinerlei Ausführungen zu diesem Vorbringen, sodass offen bleibt, aufgrund welcher Tatsachen es davon ausgeht, dass die Klägerin im Streitjahr 2008 tatsächlich eine Geschäftstätigkeit im Inland ausgeübt und hieraus umsatzsteuerpflichtige Umsätze erzielt hat.
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aa) Die C-Ltd. wurde zwar unstrittig am 11. Juli 2008 gegründet, hieraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass sie ihre Geschäftstätigkeit bereits im Juli 2008 aufgenommen und Umsätze erzielt hat. Dies gilt umso mehr, als der bei der Gründung eingetragene Direktor der C-Ltd. (Herr X) vor deren Gründung bereits eine A-Ltd. gegründet und betrieben hatte. Da diese für das Jahr 2008 eine Umsatzsteuer-Jahreserklärung abgegeben hat, ist es selbst nach Ansicht des FA möglich, dass die erzielten Umsätze dort erklärt und versteuert wurden.
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bb) Die Zweifel am Vorliegen einer Geschäftstätigkeit der Klägerin mit steuerpflichtigen Ausgangsumsätzen können nicht im Wege einer Schätzung (§ 162 der Abgabenordnung --AO--) behoben werden.
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Bei einer Schätzung wird von der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes ausgegangen. Nur hinsichtlich einzelner Besteuerungsgrundlagen liegen Ungewissheiten spezifischer Art (wie z.B. die Höhe der Umsätze) vor, die einer Beseitigung durch Schätzung zugänglich sind (BFH-Urteile vom 3. November 2010 I R 4/10, BFH/NV 2011, 800, unter II.2.b cc bbb; vom 19. Oktober 1978, V R 39/75, BFHE 127, 71, BStBl II 1979, 345, unter II.1., sowie vom 10. Juni 1999 V R 82/98, BFHE 188, 460; BFH-Beschluss vom 20. Juli 2010 X B 70/10, BFH/NV 2010, 2007, unter II.2.c bb). Voraussetzung einer Schätzung ist somit die Gewissheit, dass überhaupt ein steuerlich bedeutsamer Sachverhalt vorliegt (Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 162 AO Rz 15; Buciek in Beermann/Gosch, AO § 162 Rz 22, Frotscher in Schwarz, AO, § 162 Rz 8). Hieran fehlt es im Streitfall, da keinerlei Tatsachen für das Vorliegen steuerpflichtiger Ausgangsumsätze der Klägerin im Streitjahr ersichtlich sind.
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cc) Auf den Nachweis des Vorliegens eines umsatzsteuerlich bedeutsamen Sachverhalts kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn der Steuerpflichtige trotz Aufforderung keine Steuererklärung abgibt. Nach § 162 Abs. 2 Satz 1 AO ist zwar insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigert. Abgesehen davon, dass dieses Schätzungsgebot nach den Ausführungen unter II.1.b bb nicht qualitative, sondern nur quantitative Besteuerungsmerkmale betrifft, hat die Klägerin dahingehend Angaben gemacht, dass sie im Streitjahr noch keine Geschäftstätigkeit entfaltet habe; zu weiteren Auskünften hierüber ist sie nicht aufgefordert worden.
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2. Der Senat kann offen lassen, ob es sich bei dem Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO überhaupt um eine Verfahrensvorschrift handelt, auf die gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung verzichtet werden kann. Jedenfalls liegt in der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften (BFH-Beschluss vom 28. Juli 1998 VI B 76/98, BFH/NV 1999, 200). Auch wenn die Klägerin ihre besondere Prozessverantwortung wahrgenommen und an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 12. August 2008 X S 35/08 (PKH), BFH/NV 2008, 2030, m.w.N.), hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass sich das FG mit ihrem Vorbringen nicht auseinandergesetzt hat.
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3. Da das Urteil bereits aufgrund des Verfahrensfehlers keinen Bestand haben kann, bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Klägerin. Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2012 X B 22/12, BFH/NV 2013, 226; vom 23. September 2002 IV B 156/00, BFH/NV 2003, 191).
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4. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
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5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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