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BFH 23.04.2012 - III B 187/11
BFH 23.04.2012 - III B 187/11 - (Keine Aufhebung der Vollziehung bei abgelehnter Zusammenveranlagung von Partnern einer eingetragenen Lebenspartnerschaft - Rechtsschutzgewährende Antragsauslegung - "Wesentliche Nachteile" i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO - Keine verfahrensrechtliche Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG)
Normen
§ 95 BVerfGG, § 26 EStG 2002, § 26b EStG 2002, § 69 Abs 3 S 3 FGO, § 114 FGO, Art 19 Abs 4 GG, LPartG, § 69 Abs 3 S 4 FGO, § 69 Abs 2 S 2 FGO, § 69 Abs 2 S 8 FGO, Art 100 Abs 1 GG, § 31 Abs 1 BVerfGG, Art 3 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 GG
Vorinstanz
vorgehend FG Nürnberg, 16. August 2011, Az: 3 V 868/11, Beschluss
Leitsatz
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1. NV: Wendet sich ein Steuerpflichtiger im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen einen Einkommensteuerbescheid, durch den er entgegen seinem Antrag nicht zusammen mit seinem Lebenspartner, sondern einzeln zur Einkommensteuer veranlagt worden ist, so ist nicht ein Antrag auf Aussetzung, sondern auf Aufhebung der Vollziehung statthaft, wenn die für ihn abgeführten Lohnsteuerbeträge die festgesetzte Einkommensteuer übersteigen .
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2. NV: Beantragt ein Steuerpflichtiger in einem derartigen Fall die "Aussetzung der Vollziehung", so ist sein Antrag unter Beachtung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften als Aufhebungsantrag auszulegen .
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3. NV: Wesentliche Nachteile i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO treten nicht ein, wenn die Vollziehung eines Einkommensteuerbescheids, durch den ein Lebenspartner einzeln zur Einkommensteuer veranlagt wird, nicht aufgehoben wird. Auch schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsvorschrift rechtfertigen nicht die Aufhebung der Vollziehung wegen wesentlicher Nachteile .
Tatbestand
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I. Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) begründete mit Herrn X im März 2002 eine eingetragene Lebenspartnerschaft. Er beantragte beim Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt --FA--), für die Jahre 2002 bis 2008 zusammen mit seinem Lebenspartner zur Einkommensteuer veranlagt zu werden. Das FA lehnte dies ab und führte jeweils Einzelveranlagungen durch. Gegen die Ablehnung einer Zusammenveranlagung wandte sich der Antragsteller mit Einsprüchen. Außerdem beantragte er beim FA die "Aussetzung der Vollziehung" (AdV) der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008. Dies lehnte das FA ab.
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Die beim Finanzgericht (FG) gestellten Anträge hatten Erfolg. Das FG setzte die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 in Höhe der Differenzbeträge aus, die sich bei Anwendung des Splittingtarifs im Vergleich zu den bisherigen Einzelveranlagungen ergeben würden. Zur Begründung führte es aus, nach dem Wortlaut der §§ 26, 26b des Einkommensteuergesetzes (EStG) scheide eine Anwendung des Ehegattensplittings zwar aus. Die Schlechterstellung eingetragener Lebenspartnerschaften verstoße jedoch gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Nach dem zum Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 21. Juli 2010 1 BvR 611/07, 2464/07 (BVerfGE 126, 400) bestünden keine Unterschiede von solchem Gewicht, die eine Schlechterstellung eingetragener Lebenspartner gegenüber Ehegatten im Hinblick auf die einkommensteuerliche Zusammenveranlagung rechtfertigen könnten.
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Zur Begründung der vom FG zugelassenen Beschwerde trägt das FA vor, trotz des Beschlusses des BVerfG in BVerfGE 126, 400 gebe es Gründe, weshalb es gerechtfertigt sei, eingetragene Lebenspartnerschaften im Einkommensteuerrecht anders zu behandeln als Ehegatten. Das Rechtsinstitut der Ehe habe bleibende Bedeutung als typische Grundlage der Familie mit Kindern.
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Das FA beantragt sinngemäß, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Anträge des Antragstellers auf Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 abzuweisen.
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Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
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Zur Begründung führt er aus, die Beschlüsse des BVerfG vom 7. Juli 2009 1 BvR 1164/07 (BVerfGE 124, 199) sowie in BVerfGE 126, 400 seien nach § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) auch für das Einkommensteuerrecht bindend.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Ablehnung der Anträge des Antragstellers (§ 132 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Die Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 sind nach Aktenlage bereits vollzogen, da die für den Antragsteller abgeführten Lohnsteuerbeträge in jedem Jahr die jeweils festgesetzte Einkommensteuer übersteigen. Das Begehren des Antragstellers ist somit nicht auf die AdV gerichtet (§ 69 Abs. 3 Satz 1 FGO), sondern auf die Aufhebung der Vollziehung bereits vollzogener Verwaltungsakte (§ 69 Abs. 3 Satz 3 FGO). Da Prozesserklärungen unter Beachtung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 GG) so auszulegen sind, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was rechtlich vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. Januar 2010 VI B 115/09, BFH/NV 2010, 935), sind die Anträge des Antragstellers als solche auf Aufhebung der Vollziehung zu beurteilen.
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2. Die Anträge auf Aufhebung der Vollziehung sind statthaft.
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a) Im finanzgerichtlichen Verfahren ist vorläufiger Rechtsschutz entweder durch die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts nach § 69 FGO oder durch eine einstweilige Anordnung nach § 114 FGO zu gewähren. Die Abgrenzung der beiden Rechtsschutzmöglichkeiten richtet sich danach, welche Klage in einem Hauptsacheverfahren zu erheben wäre. Ist die zutreffende Klageart die Anfechtungsklage, wird vorläufiger Rechtsschutz durch die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung gewährt (§ 69 FGO), bei Verpflichtungsklagen ist grundsätzlich eine einstweilige Anordnung (§ 114 FGO) zu beantragen (BFH-Beschluss vom 16. Dezember 1997 XI S 41/97, BFH/NV 1998, 615; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz 5, 33).
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b) Auch wenn der Antragsteller letztlich den Erlass von Einkommensteuerbescheiden anstrebt, durch die er und sein Lebenspartner zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden und die Verpflichtung des FA zum Erlass eines solchen Bescheids nur im Wege der Verpflichtungsklage erreicht werden könnte (s. BFH-Urteil vom 9. März 1973 VI R 396/70, BFHE 109, 44, BStBl II 1973, 487; Senatsbeschluss vom 23. Mai 2011 III B 211/10, BFH/NV 2011, 1517), sind gleichwohl die Anträge auf Aufhebung der Vollziehung statthaft. Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 beschränken sich nicht auf eine bloße Negation (Versagung der Zusammenveranlagung), sondern beinhalten darüber hinaus Steuerfestsetzungen (s. Beschluss des Großen Senats vom 14. April 1987 GrS 2/85, BFHE 149, 493, BStBl II 1987, 637, zum negativen Gewinnfeststellungsbescheid). Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gebietet es, einem Steuerpflichtigen die Möglichkeit zu eröffnen, sich mit einem Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung gegen einen Einkommensteuerbescheid zu wenden, durch den er nicht, wie beantragt, zusammen mit seinem Lebenspartner, sondern einzeln zur Einkommensteuer veranlagt wird (ebenso FG Baden-Württemberg vom 12. September 2011 3 V 2820/11, Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 66; a.A. FG Hamburg vom 25. Juli 2011 6 V 50/11, juris), und zwar insoweit, als die bei der Einzelveranlagung festgesetzte Steuer den Betrag übersteigt, der bei einer Zusammenveranlagung festzusetzen wäre.
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3. Eine Aufhebung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen den Ausschluss der Partner einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft von der Möglichkeit zur Zusammenveranlagung nach §§ 26, 26b EStG ist im Streitfall nicht gerechtfertigt.
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a) Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aufgehoben werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hat. Bei Steuerbescheiden ist die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die festgesetzten Vorauszahlungen, beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aufhebung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 69 Abs. 3 Satz 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 8 FGO). Der Begriff der wesentlichen Nachteile i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ist im Sinne der Rechtsprechung zu § 114 FGO zu verstehen (z.B. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 935, m.w.N.). Diese Beschränkung ist mit dem GG vereinbar und nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu korrigieren (BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367, m.w.N.).
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b) Im Streitfall sind keine wesentlichen Nachteile erkennbar, die dem Antragsteller drohen könnten, wenn die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 2002 bis 2008 nicht aufgehoben wird.
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aa) Insbesondere wird die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen durch die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide nicht unmittelbar und ausschließlich bedroht (s. BFH-Beschlüsse vom 22. November 2001 V B 100/01, BFH/NV 2002, 519, und vom 11. Juni 2001 I B 30/01, BFH/NV 2001, 1223, zu § 114 FGO).
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bb) Eine Aufhebung der Vollziehung ist auch nicht geboten, um eine erhebliche Verletzung von Grundrechten zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnte (s. BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 935, m.w.N.). Denn selbst schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Rechtsvorschrift allein rechtfertigen eine Aufhebung der Vollziehung wegen wesentlicher Nachteile nicht. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache führen nur dann zur Bejahung wesentlicher Nachteile, wenn die Rechtslage klar und eindeutig für die begehrte Regelung spricht und eine abweichende Beurteilung in einem etwa durchzuführenden Hauptverfahren zweifelsfrei auszuschließen ist. Eine Aufhebung der Vollziehung kann geboten sein, wenn das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Vorschrift überzeugt ist und diese deshalb gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat (BFH-Beschlüsse in BFHE 204, 39, BStBl II 2004, 367, und in BFH/NV 2010, 935).
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cc) Ein solcher Vorlagebeschluss ist jedoch durch den Senat nicht ergangen. Auch wenn wegen des offenen Ausgangs der beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06 und 2 BvR 288/07 zweifelhaft ist, ob die §§ 26, 26b EStG mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind, ist der Senat nicht von der Verfassungswidrigkeit der §§ 26, 26b EStG überzeugt.
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Entgegen der Rechtsansicht des Antragstellers kommt den Ausführungen des BVerfG in den Beschlüssen in BVerfGE 124, 199 und in BVerfGE 126, 400 zur Auslegung der Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG keine verfahrensrechtliche Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG zu. Dabei kann --ebenso wie es das BVerfG in seinem Beschluss vom 18. Januar 2006 2 BvR 2194/99 (BVerfGE 115, 97) offen ließ-- dahinstehen, ob die Bindungswirkung allein den in der Entscheidungsformel ausgedrückten konkreten Streitgegenstand oder auch die tragenden Gründe der Entscheidung umfasst, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten. Den genannten Beschlüssen des BVerfG lagen Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen zugrunde, die mit der Begründung angegriffen wurden, die maßgeblichen Rechtsnormen seien nicht mit dem GG vereinbar. In einem solchen Fall geht die Entscheidung des BVerfG nach § 95 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BVerfGG nicht über die angegriffene Gerichtsentscheidung und die angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen hinaus (s. auch Hömig in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, Kommentar, § 95 Rz 5, 11 f.). Danach bezieht sich der Beschluss in BVerfGE 124, 199 auf Bestimmungen der Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, der Beschluss in BVerfGE 126, 400 auf Vorschriften des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes; weder die Entscheidungsformeln noch die tragenden Gründe der beiden Beschlüsse betreffen daher die Frage der Verfassungsmäßigkeit der §§ 26, 26b EStG.
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