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EuGH 16.05.2024 - C-746/22
EuGH 16.05.2024 - C-746/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) - 16. Mai 2024 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige – Richtlinie 2008/9/EG – Art. 20 – Anforderung zusätzlicher Informationen durch den Mitgliedstaat der Erstattung – Innerhalb eines Monats vorzulegende Informationen – Einstellung des Verfahrens mangels Antwort des Steuerpflichtigen innerhalb dieser Frist – Art. 23 – Nichtberücksichtigung von Informationen, die erstmals im Einspruchsverfahren vorgelegt wurden – Effektivitätsgrundsatz – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung“
Leitsatz
In der Rechtssache C-746/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 18. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Dezember 2022, in dem Verfahren
Slovenské Energetické Strojárne a.s.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal und der Richter F. Biltgen, N. Wahl, J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
der Slovenské Energetické Strojárne a.s., vertreten durch P. Barta, T. Fehér und P. Jalsovszky, Ügyvédek,
der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
des Rates der Europäischen Union, vertreten durch Zs. Bodnár, J. Haunold und E. d’Ursel als Bevollmächtigte,
der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und A. Tokár als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Dezember 2023
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 und Art. 23 der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. 2008, L 44, S. 23), von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 167 und 169 bis 171 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Slovenské Energetické Strojárne a.s. und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Steuerbehörde zweiter Instanz) über die Einstellung des von dieser Gesellschaft im Jahr 2020 eingeleiteten Verfahrens zur Erstattung der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
Art. 170 dieser Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige, der im Sinne des … Artikels 2 Nummer 1 und des Artikels 3 der Richtlinie 2008/9/EG und des Artikels 171 der vorliegenden Richtlinie nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er die Gegenstände und Dienstleistungen erwirbt oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführt, hat Anspruch auf Erstattung dieser Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:
…
die Umsätze, bei denen die Steuer nach den Artikeln 194 bis 197 und 199 lediglich vom Empfänger geschuldet wird.“
Art. 171 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
Die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, erfolgt nach dem in der Richtlinie 2008/9/EG vorgesehenen Verfahren.“
Richtlinie 2008/9
Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/9 lautet:
„Das neue Verfahren sollte die Stellung der Unternehmen stärken, da die Mitgliedstaaten zur Zahlung von Zinsen verpflichtet sind, falls die Erstattung verspätet erfolgt; zudem wird das Einspruchsrecht der Unternehmen gestärkt.“
Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie regelt die Einzelheiten der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß Artikel 170 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen von Artikel 3 erfüllen.“
Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 sieht vor:
„Der Mitgliedstaat der Erstattung teilt dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten ab Eingang des Erstattungsantrags in diesem Mitgliedstaat mit, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist.“
In Art. 20 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Ist der Mitgliedstaat der Erstattung der Auffassung, dass er nicht über alle relevanten Informationen für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung verfügt, kann er insbesondere beim Antragsteller oder bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller ansässig ist, innerhalb des in Artikel 19 Absatz 2 genannten Viermonatszeitraums elektronisch zusätzliche Informationen anfordern. …
Gegebenenfalls kann der Mitgliedstaat der Erstattung weitere zusätzliche Informationen anfordern.
Die gemäß diesem Absatz angeforderten Informationen können die Einreichung des Originals oder eine Durchschrift der einschlägigen Rechnung oder des einschlägigen Einfuhrdokuments umfassen, wenn der Mitgliedstaat der Erstattung begründete Zweifel am Bestehen einer bestimmten Forderung hat. …
(2) Die gemäß Absatz 1 angeforderten Informationen sind dem Mitgliedstaat der Erstattung innerhalb eines Monats ab Eingang des Informationsersuchens bei dessen Adressaten vorzulegen.“
Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Fordert der Mitgliedstaat der Erstattung zusätzliche Informationen an, so teilt er dem Antragsteller innerhalb von zwei Monaten ab Eingang der angeforderten Informationen, oder, falls er keine Antwort auf sein Ersuchen erhalten hat, binnen zwei Monaten nach Ablauf der Frist nach Artikel 20 Absatz 2 mit, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist. Der Zeitraum, der für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung ab Eingang des Erstattungsantrags im Mitgliedstaat der Erstattung zur Verfügung steht, beträgt jedoch auf jeden Fall mindestens sechs Monate.“
Art. 23 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Wird der Erstattungsantrag ganz oder teilweise abgewiesen, so teilt der Mitgliedstaat der Erstattung dem Antragsteller gleichzeitig mit seiner Entscheidung die Gründe für die Ablehnung mit.
(2) Der Antragsteller kann bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats der Erstattung Einspruch gegen eine Entscheidung, einen Erstattungsantrag abzuweisen, einlegen, und zwar in den Formen und binnen der Fristen, die für Einsprüche bei Erstattungsanträgen der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Personen vorgesehen sind.
Wenn nach dem Recht des Mitgliedstaates der Erstattung das Versäumnis, innerhalb der in dieser Richtlinie festgelegten Fristen eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, weder als Zustimmung noch als Ablehnung betrachtet wird, müssen jegliche Verwaltungs- oder Rechtsverfahren, die in dieser Situation Steuerpflichtigen, die in diesem Mitgliedstaat ansässig sind, zugänglich sind, entsprechend für den Antragsteller zugänglich sein. Gibt es solche Verfahren nicht, so gilt das Versäumnis, innerhalb der festgelegten Frist eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, als Ablehnung des Antrags.“
Art. 26 der Richtlinie 2008/9 sieht vor:
„Der Mitgliedstaat der Erstattung schuldet dem Antragsteller Zinsen auf den zu erstattenden Betrag, falls die Erstattung nach der in Artikel 22 Absatz 1 genannten Zahlungsfrist erfolgt.
Legt der Antragsteller dem Mitgliedstaat der Erstattung die angeforderten zusätzlichen oder weiteren zusätzlichen Informationen nicht innerhalb der vorgesehenen Fristen vor, so findet Absatz 1 keine Anwendung. …“
Ungarisches Recht
Gesetz über die allgemeine Umsatzsteuer
§ 251/F des az Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) (im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) bestimmt in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
„(1) Ist die staatliche Steuerbehörde aufgrund der zur Verfügung stehenden Angaben und sonstigen Informationen der Auffassung, dass über den Antrag auf Steuerrückerstattung innerhalb der in § 251/E Abs. 1 festgelegten Frist keine begründete Entscheidung gefällt werden kann, kann sie schriftlich ergänzende Angaben und sonstige Informationen anfordern
von einem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen
von der sachlich und örtlich zuständigen Behörde, die den nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen gemäß § 244 Abs. 2 und 3 als in diesem Staat ansässig registriert hat, oder
von einem Dritten, wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er einen wesentlichen Beitrag zur Beurteilung des Antrags auf Erstattung leisten kann.
…
(3) Mit der schriftlichen Anforderung nach Abs. 1 und 2 kann vorgeschrieben werden, dass das Original des in § 127 Abs. 1 Buchst. a, c und d erwähnten Dokuments, das auf den Namen des nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen lautet und mit dem die Bewirkung des Umsatzes nachgewiesen wird, oder dessen beglaubigte Kopie einzureichen ist, wenn begründete Zweifel hinsichtlich der Rechtsgrundlage für die Steuerrückerstattung oder an dem Betrag der Vorsteuer, deren Rückerstattung beantragt wird, bestehen. …
(4) Die Antwortfrist beträgt einen Monat ab dem Tag der Zustellung der in den Absätzen 1 und 2 genannten Anforderung.“
§ 251/I Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes lautet:
„Im Falle einer verspäteten Zahlung der Steuererstattung durch die nationale Steuerbehörde sind für jeden Tag der Verspätung Zinsen in Höhe des Verzugszinssatzes zu zahlen. Die nationale Steuerbehörde ist nicht zur Zahlung dieser Zinsen verpflichtet, wenn der nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige das Auskunftsersuchen nach § 251/F Abs. 1 und 2 nicht innerhalb der für die Entscheidung vorgesehenen Frist inhaltlich vollständig beantwortet hat.“
Steuerverwaltungsordnung
§ 49 Abs. 1 Buchst. b des az adóigazgatási rendtartásról szóló 2017. évi CLI. törvény (Gesetz Nr. CLI von 2017 über die Steuerverwaltungsordnung) (im Folgenden: Steuerverwaltungsordnung) sieht vor:
„Die Steuerverwaltung stellt das Verfahren ein, wenn
…
der Antragsteller trotz Aufforderung durch die Steuerverwaltung keine Erklärung abgegeben hat oder seiner Pflicht zur Berichtigung nicht nachgekommen ist, so dass mangels einer solchen Erklärung oder Berichtigung der Antrag nicht bearbeitet werden kann und das Verfahren von Amts wegen nicht weiterverfolgt wird.“
Art. 124 Abs. 3 und 4 dieses Gesetzes bestimmt:
„(3) Soweit keine Nichtigkeitsgründe vorliegen, kann der Antragsteller weder in seinem Rechtsbehelf noch im Rahmen des anschließenden Verfahrens neue Tatsachen behaupten oder neue Beweise anführen oder vorlegen, die dem Antragsteller vor Erlass des erstinstanzlichen Bescheids bekannt waren, die er jedoch trotz der Aufforderung der Steuerbehörde nicht vorgelegt oder – im Falle einer Tatsache – nicht angeführt hat.
(4) Das Ersuchen nach Abs. 3 enthält eine Beschreibung der Feststellungen und Umstände, für die die Steuerbehörde den Steuerpflichtigen auffordert, Beweise vorzulegen, sowie eine Belehrung über die Rechtsfolgen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Slovenské Energetické Strojárne ist eine in der Slowakei ansässige Gesellschaft, die im Energiesektor tätig ist und insbesondere Ingenieurarbeiten im Zusammenhang mit Kraftwerken durchführt.
Im Jahr 2020 führte diese Gesellschaft Montage- und Installationsarbeiten in einem Kraftwerk in Újpest (Ungarn) durch. Zu diesem Zweck erwarb sie in Ungarn verschiedene Gegenstände und nahm verschiedene Dienstleistungen in Anspruch.
Am 18. Februar 2021 beantragte diese Gesellschaft als in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich der Slowakei, ansässige Steuerpflichtige bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: erstinstanzliche Steuerbehörde) die Erstattung der Vorsteuer auf die in Ungarn im Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2020 erworbenen Gegenstände und Dienstleistungen. Dieser Erstattungsantrag über einen Betrag von 37013654 ungarischen Forint (HUF) (etwa 97400 Euro) war auf 19 Rechnungen von Lieferanten dieser Gegenstände und Dienstleistungen gestützt.
Am 22. Februar 2021 richtete die erstinstanzliche Steuerbehörde in Anwendung von Art. 251/F Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes ein Auskunftsersuchen an Slovenské Energetické Strojárne, um die Tatsachen zu eruieren und die Begründetheit deren Anspruchs auf Erstattung der Mehrwertsteuer zu ermitteln. Im Einzelnen forderte diese Behörde zur Vorlage einer Reihe von Unterlagen im Zusammenhang mit dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer innerhalb von einem Monat ab Zustellung des Auskunftsersuchens auf.
Dieses Ersuchen wurde an die E-Mail-Adresse von Slovenské Energetické Strojárne gesandt und gilt als bei dieser eingegangen.
Mit Entscheidung vom 6. Mai 2021 (im Folgenden: erstinstanzliche Entscheidung) stellte die Steuerbehörde erster Instanz das Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß § 49 Abs. 1 Buchst. b der Steuerverwaltungsordnung ein, weil diese Gesellschaft die von der Steuerbehörde verlangten Auskünfte nicht erteilt habe und es auf der Grundlage der verfügbaren Informationen nicht möglich gewesen sei, den diesem Antrag zugrunde liegenden Sachverhalt mit der erforderlichen Genauigkeit zu ermitteln.
Am 9. Juni 2021 legte Slovenské Energetické Strojárne Einspruch gegen diese Entscheidung bei der Steuerbehörde zweiter Instanz ein. Als Anlage zu ihrem Einspruch fügte sie alle mit dem Auskunftsersuchen angeforderten Unterlagen bei.
Mit Bescheid vom 20. Juli 2021 hielt die zweitinstanzliche Steuerbehörde die erstinstanzliche Entscheidung aufrecht und führte insbesondere aus, dass sie die dem Einspruch beigefügten Unterlagen nicht berücksichtigen könne, da § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung die Vorlage neuer Beweise zur Stützung eines Einspruchs verbiete, wenn der Einspruchsführer vor dem Erlass des erstinstanzlichen Bescheids Kenntnis von diesen Beweisen gehabt habe.
Slovenské Energetické Strojárne erhob gegen den Bescheid vom 20. Juli 2021 Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht.
Vor diesem Gericht macht die Gesellschaft geltend, dass § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung im Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer keine Anwendung finde. Ihrer Ansicht nach schränkt das in dieser Bestimmung vorgesehene Verbot, neue Beweise vorzulegen, das Recht auf Einlegung eines Einspruchs nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 materiell ein. Allerdings sei die in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehene Monatsfrist zur Behebung von Mängeln im Falle der Anforderung zusätzlicher Informationen durch die Steuerbehörde, um auf einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer zu antworten, keine Ausschlussfrist. Nach Art. 26 dieser Richtlinie und § 251/I Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes folge aus der Nichteinhaltung der Frist für den Antragsteller lediglich, dass er bei verspäteter Erstattung keine Zinsen mehr beanspruchen könne.
Nach Ansicht der Steuerbehörde zweiter Instanz findet § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung im vorliegenden Fall Anwendung. Diese Bestimmung, die die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachte, solle lediglich verhindern, dass das Rechtsbehelfsverfahren über einen längeren Zeitraum andauere. Im Übrigen führe der Ablauf der Frist zur Berichtigung nicht zum Verlust des Rechts, da es möglich sei, Wiedereinsetzung zu beantragen.
Das vorlegende Gericht möchte daher erstens wissen, ob das in § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung vorgesehene Verbot der Vorlage neuer Beweise gegen Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 verstößt, da dieses Verbot zu einer materiellen Beschränkung des Rechts des Steuerpflichtigen auf Einlegung eines Einspruchs führen kann.
Zweitens möchte es wissen, ob ein solches Verbot nicht zur Folge habe, dass die in § 251/F Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes vorgesehene Frist von einem Monat zur Behebung von Mängeln in eine Ausschlussfrist umgewandelt werde, da nicht innerhalb der Frist vorgelegte Unterlagen nach Fristablauf, insbesondere in der Phase des Rechtsbehelfs, nicht mehr berücksichtigt werden könnten.
Insoweit fragt es sich, ob ein solches Verbot, insbesondere im Licht des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, verhältnismäßig ist. Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services (C-133/18, EU:C:2019:354), für Recht erkannt, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehene Frist von einem Monat keine Ausschlussfrist sei, doch unterschieden sich die Umstände des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits von denen der Rechtssache, die diesem Urteil zugrunde liege, da das ungarische Verwaltungsverfahren zweistufig sei und das ungarische Recht im Verfahren auf der zweiten Stufe die Anwendung des Verbots der Vorlage neuer Beweise ausdrücklich vorsehe.
Drittens fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Richtlinie 2008/9 die Steuerverwaltung dazu ermächtigt, das Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer einzustellen, da diese Richtlinie nur den Erlass einer Entscheidung über die Annahme oder die Ablehnung des Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer, d. h. eine Entscheidung in der Sache, vorsehe.
Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung – konkret § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung –, die es im Rahmen der Beurteilung von Anträgen auf Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht zulässt, dass in der Rechtsbehelfsphase neue Tatsachen behauptet oder neue Beweise angeführt oder vorgelegt werden, die dem Antragsteller vor Erlass des erstinstanzlichen Bescheids bekannt waren, die er jedoch trotz der Aufforderung der Steuerbehörde nicht vorgelegt oder nicht angeführt hat, was zu einer materiellen Beschränkung führt, die über die in der Richtlinie vorgesehenen Form- und Fristvoraussetzungen hinausgeht, den Anforderungen an Einsprüche nach der Richtlinie entspricht?
Bedeutet die Bejahung der ersten Frage, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 genannte Frist von einem Monat als Ausschlussfrist anzusehen ist? Steht dies im Einklang mit dem Postulat des in Art. 47 der Charta, den Art. 167, 169, 170 und Art. 171 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und mit den vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten tragenden Grundsätzen der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit?
Ist Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9, der die ganze oder teilweise Abweisung eines Erstattungsantrags betrifft, dahin auszulegen, dass mit diesem eine nationale Regelung – konkret § 49 Abs. 1 Buchst. b der Steuerverwaltungsordnung – im Einklang steht, wonach die Steuerbehörde das Verfahren einstellt, wenn der antragstellende Steuerpflichtige einer Aufforderung der Steuerbehörde bzw. seiner Verpflichtung zur Behebung von Mängeln nicht nachkommt und in Ermangelung dessen der Antrag nicht beurteilt werden kann, ohne dass das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt wird?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 im Licht der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es einem Steuerpflichtigen, der einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer gestellt hat, verwehrt ist, in der Rechtsbehelfsphase bei einer Steuerbehörde zweiter Instanz zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 20 dieser Richtlinie vorzulegen, die die Steuerbehörde erster Instanz angefordert hat und die der Steuerpflichtige dieser Behörde nicht innerhalb der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Frist von einem Monat vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang stellt dieses Gericht auch die Frage, ob es sich bei dieser Frist um eine Ausschlussfrist handelt und, wenn ja, ob eine solche Präklusion mit Art. 47 der Charta vereinbar ist.
Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/9 nach ihrem Art. 1 die Einzelheiten der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß Art. 170 der Mehrwertsteuerrichtlinie an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen von Art. 3 der Richtlinie 2008/9 erfüllen, regeln soll.
Ebenso wie das Recht auf Vorsteuerabzug stellt der Erstattungsanspruch ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden. Durch die Regelung des Vorsteuerabzugs – und damit auch der Erstattung – soll der Unternehmer nämlich vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet auf diese Weise die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C-396/20, EU:C:2021:867, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Dieses Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer erfordert, dass der Vorsteuerabzug oder die Mehrwertsteuererstattung gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formalen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C-396/20, EU:C:2021:867, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Anders verhält es sich allerdings, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom 21. Oktober 2021, Wilo Salmson France, C-80/20, EU:C:2021:870, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).
In Bezug auf die Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Erstattung der Mehrwertsteuer hat nach Art. 20 der Richtlinie 2008/9 der Mitgliedstaat der Erstattung, wenn er der Auffassung ist, dass er nicht über alle relevanten Informationen für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung verfügt, die Möglichkeit, insbesondere beim Steuerpflichtigen oder bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Steuerpflichtige ansässig ist, zusätzliche Informationen anzufordern, die innerhalb eines Monats ab Eingang des Informationsersuchens bei dessen Adressaten vorzulegen sind (Urteil vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services, C-133/18, EU:C:2019:354, Rn. 37).
Wie der Gerichtshof bereits im Urteil vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services (C-133/18, EU:C:2019:354, Rn. 46), entschieden hat, handelt es sich bei dieser in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist von einem Monat nicht um eine Ausschlussfrist.
Schließlich kann der Steuerpflichtige gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats der Erstattung Einspruch gegen eine Entscheidung, einen Erstattungsantrag abzuweisen, einlegen, und zwar in den Formen und binnen der Fristen, die für Einsprüche bei Erstattungsanträgen der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Personen vorgesehen sind.
Diese Bestimmung ist im Licht des dritten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie zu lesen, aus dem hervorgeht, dass sie insbesondere das Einspruchsrecht der Unternehmen stärken soll.
Gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 unterliegt ein Einspruch wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende verwaltungsrechtliche Rechtsbehelf hinsichtlich der Formen und Fristen, die für einen solchen Rechtsbehelf gelten, der innerstaatlichen Rechtsordnung des Mitgliedstaats der Erstattung.
So richtet sich die Einführung nationaler Vorschriften, nach denen Beweise, die nach Erlass der einen Erstattungsantrag zurückweisenden Entscheidung vorgelegt werden, nicht berücksichtigt werden dürfen, gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie nach dem innerstaatlichen Recht der einzelnen Mitgliedstaaten; dabei dürfen diese Vorschriften aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige interne Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder sie übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C-294/20, EU:C:2021:723, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Außerdem dürfen solche Vorschriften in Anbetracht der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht dazu führen, dass dem Ablauf der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehenen Frist von einem Monat ab Eingang dieses Ersuchens um zusätzliche Informationen, in der der Empfänger des Ersuchens dem Mitgliedstaat der Erstattung diese Informationen, gegebenenfalls einschließlich ergänzender Beweise, vorlegen muss, unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9, Präklusionswirkung zuerkannt wird.
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Slovenské Energetické Strojárne, nachdem sie einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer gestellt hatte, von der Steuerbehörde erster Instanz ein Ersuchen um zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 20 der Richtlinie 2008/9 erhielt, diese Informationen aber nicht vorlegte. Erst im Rahmen eines bei der Steuerbehörde zweiter Instanz eingelegten verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs, der dem Einspruch nach Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie entspricht, legte diese Gesellschaft die geforderten Informationen vor. Diese wurden jedoch nicht berücksichtigt, da der Antragsteller, der diese Erstattung beantragt, gemäß § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung in seinem Rechtsbehelf keine neuen Beweise vorlegen kann, die ihm vor dem Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung bekannt waren.
Mithin betrifft der Ausgangsrechtsstreit nicht den Verstoß gegen formale Anforderungen, die den Nachweis verhindern, dass die materiellen Anforderungen des Anspruchs auf Mehrwertsteuererstattung erfüllt sind, sondern den Zeitpunkt, zu dem dieser Nachweis zu erbringen ist.
Hierzu ist erstens festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende bewirkt, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die zwar verspätet auf ein Ersuchen um zusätzliche Informationen geantwortet haben, aber alle materiellen Voraussetzungen für die Erstattung erfüllen, systematisch verhindert wird. Wie in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist zum einen der Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, und zum anderen verlangt der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass der Abzug oder die Erstattung der Vorsteuer gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind.
Zweitens hat der Gerichtshof nach der Feststellung, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehene Monatsfrist für die Vorlage zusätzlicher Informationen keine Ausschlussfrist ist, entschieden, dass, wenn ein Erstattungsantrag ganz oder teilweise abgelehnt wird, der Steuerpflichtige, der die zusätzlichen Informationen nicht innerhalb dieser Frist vorgelegt hat, das Recht hat, gegen diese ablehnende Entscheidung einen Einspruch gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie einzulegen und Mängel seines Erstattungsantrags im Rahmen eines solchen Einspruchs durch die Vorlage zusätzlicher Informationen, die zum Nachweis der Existenz seines Rechts auf Erstattung der Mehrwertsteuer geeignet sind, zu beheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services, C-133/18, EU:C:2019:354, Rn. 48).
Wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, gelten diese Erkenntnisse aus der Rechtsprechung unterschiedslos, ob es sich bei dem Einspruch nun, wie im Ausgangsverfahren, um einen Einspruch in einem behördlichen Einspruchsverfahren handelt oder um eine Klage.
Drittens verstößt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegen die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, folgenden Anforderungen, die im Rahmen einer Steuerprüfung Anwendung finden. Dieser Grundsatz der guten Verwaltung verlangt nämlich von einer Verwaltungsbehörde wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuerbehörde, im Rahmen der ihr obliegenden Kontrollpflichten eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen, so dass sie sicherstellt, dass sie bei Erlass ihrer Entscheidung insoweit über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügt (Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C-396/20, EU:C:2021:867, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hat die Steuerverwaltung, aufgrund des Wortlauts von § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung jedoch nicht die Möglichkeit, verspätete Antworten auf ein Ersuchen um zusätzliche Informationen zu berücksichtigen, was zu einer systematischen Ablehnung dieser verspäteten Antworten führt, verstößt diese Verwaltung zwangsläufig gegen diesen Grundsatz, da sie eine Entscheidung erlässt, von der sie weiß, dass sie möglicherweise auf unvollständige oder gar fehlerhafte Angaben gestützt ist. Darüber hinaus würde diese Verwaltung den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer unverhältnismäßig beeinträchtigen, indem sie den Steuerpflichtigen mit der Mehrwertsteuer belastete, auf deren Erstattung dieser einen Anspruch hat, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bezweckt, Unternehmer vollständig von der Mehrwertsteuer zu entlasten, die im Rahmen sämtlicher seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten angefallen oder entrichtet worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C-396/20, EU:C:2021:867, Rn. 55).
Viertens ist schließlich darauf hinzuweisen, dass Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9, der ausdrücklich auf den Fall abstellt, dass ein Steuerpflichtiger die von ihm angeforderten zusätzlichen Informationen nicht innerhalb der vorgesehenen Fristen vorlegt, auch die Auslegung stützt, wonach der Mitgliedstaat der Erstattung es nicht systematisch ablehnen darf, verspätete Antworten auf Ersuchen um zusätzliche Informationen zu berücksichtigen.
Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und – insbesondere indem sie der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehenen Monatsfrist Präklusionswirkung verleiht – gegen den Grundsatz der Effektivität verstößt.
Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 im Licht der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es einem Steuerpflichtigen, der einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer gestellt hat, verwehrt ist, in der Rechtsbehelfsphase bei einer Steuerbehörde zweiter Instanz zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 20 dieser Richtlinie vorzulegen, die die Steuerbehörde erster Instanz angefordert hat und die der Steuerpflichtige dieser Behörde nicht innerhalb der in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist von einem Monat vorgelegt hat, da es sich bei dieser Frist nicht um eine Ausschlussfrist handelt.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Steuerbehörde das Verfahren zur Mehrwertsteuererstattung einstellen muss, wenn der Steuerpflichtige die von dieser Behörde gemäß Art. 20 dieser Richtlinie angeforderten zusätzlichen Informationen nicht innerhalb der Frist vorgelegt hat und der Antrag auf Mehrwertsteuererstattung in Ermangelung dieser Informationen nicht beurteilt werden kann.
Insoweit ist hervorzuheben, dass das vorlegende Gericht in der dritten Frage nur Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 erwähnt, der bestimmt, dass, wenn der Antrag auf Mehrwertsteuererstattung ganz oder teilweise abgewiesen wird, der Mitgliedstaat der Erstattung dem Antragsteller gleichzeitig mit seiner Entscheidung die Gründe für die Ablehnung mitteilt.
In ähnlicher Weise legt Art. 21 Abs. 1 dieser Richtlinie die Fristen fest, innerhalb derer der Mitgliedstaat der Erstattung, wenn er zusätzliche Informationen anfordert, dem Antragsteller mitteilen muss, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist.
Somit beziehen sich diese Bestimmungen der Richtlinie 2008/9 ausdrücklich nur auf die Möglichkeit, Entscheidungen zu erlassen, mit denen die Erstattung der Mehrwertsteuer ganz oder teilweise gewährt oder der Erstattungsantrag abgewiesen wird, und nicht auf die Möglichkeit, das Erstattungsverfahren einzustellen.
Zwar sieht Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie vor, dass, wenn nach dem Recht des Mitgliedstaats der Erstattung das Versäumnis, innerhalb der in dieser Richtlinie festgelegten Fristen eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, weder als Zustimmung noch als Ablehnung betrachtet wird, jegliche Verwaltungs- oder Rechtsverfahren, die in dieser Situation Steuerpflichtigen, die in diesem Mitgliedstaat ansässig sind, zugänglich sind, entsprechend für in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige zugänglich sein müssen. Gibt es solche Verwaltungs- oder Rechtsverfahren nicht, so gilt das Versäumnis, innerhalb der festgelegten Frist eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, als Ablehnung des Antrags.
Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass eine Einstellungsentscheidung wie diejenige im Ausgangsverfahren keineswegs dem Fehlen einer Entscheidung innerhalb der Frist gleichkommt, da eine solche Einstellungsentscheidung das mit dem Erstattungsantrag des Steuerpflichtigen eingeleitete Verfahren beendet, ohne die von ihm beantragte Erstattung zu gewähren, und daher als Ablehnung dieses Antrags im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/9 anzusehen ist.
Folglich müssen, wenn eine solche Einstellungsentscheidung in Bezug auf einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer eines in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen ergangen ist, dem Steuerpflichtigen gemäß Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 zum einen die Gründe für die Einstellung gleichzeitig mit dieser Entscheidung mitgeteilt werden und zum anderen muss nach Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie Einspruch gegen diese Entscheidung bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats der Erstattung eingelegt werden können.
Wie sich aus den Rn. 48 und 49 des vorliegenden Urteils ergibt, muss der Steuerpflichtige im Rahmen solcher Einsprüche jedenfalls das Recht haben, zusätzliche Informationen vorzulegen, die er nicht innerhalb der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehenen Frist von einem Monat vorgelegt hat.
Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 23 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Steuerbehörde das Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer einstellen muss, wenn der Steuerpflichtige nicht innerhalb der Frist die von dieser Behörde gemäß Art. 20 dieser Richtlinie angeforderten zusätzlichen Informationen vorgelegt hat und der Erstattungsantrag in Ermangelung dieser Informationen nicht beurteilt werden kann, sofern die Einstellungsentscheidung als Ablehnung dieses Erstattungsantrags im Sinne von Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen wird und mit einem Einspruch angefochten werden kann, der die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie erfüllt.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige
ist im Lichte der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivität dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es einem Steuerpflichtigen, der einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer gestellt hat, verwehrt ist, in der Rechtsbehelfsphase bei einer Steuerbehörde zweiter Instanz zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 20 dieser Richtlinie vorzulegen, die die Steuerbehörde erster Instanz angefordert hat und die der Steuerpflichtige dieser Behörde nicht innerhalb der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Frist von einem Monat vorgelegt hat, da es sich bei dieser Frist nicht um eine Ausschlussfrist handelt.
Art. 23 der Richtlinie 2008/9
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Steuerbehörde das Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer einstellen muss, wenn der Steuerpflichtige nicht innerhalb der Frist die von dieser Behörde gemäß Art. 20 dieser Richtlinie angeforderten zusätzlichen Informationen vorgelegt hat und der Erstattungsantrag in Ermangelung dieser Informationen nicht beurteilt werden kann, sofern die Einstellungsentscheidung als Ablehnung dieses Erstattungsantrags im Sinne von Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen wird und mit einem Einspruch angefochten werden kann, der die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie erfüllt.
Unterschriften
( *1)Verfahrenssprache: Ungarisch.
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