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EuGH 18.01.2024 - C-791/22
EuGH 18.01.2024 - C-791/22 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer) - 18. Januar 2024 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 30 Abs. 1 – Art. 60 – Art. 71 Abs. 1 – Ort des steuerbaren Umsatzes – Gegenstände, die in einem ersten Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Zollvorschriften in das Zollgebiet der Europäischen Union verbracht und anschließend in einen zweiten Mitgliedstaat befördert werden – Ort des Entstehens der Einfuhrmehrwertsteuer – Nationale Bestimmung, die auf das Zollrecht der Union verweist“
Leitsatz
In der Rechtssache C-791/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Beschluss vom 6. Dezember 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2022, in dem Verfahren
G. A.
gegen
Hauptzollamt Braunschweig
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin) sowie des Richters J.-C. Bonichot und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von G. A., vertreten durch Rechtsanwalt A. Fetzer,
der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Behre, J. Jokubauskaitė und M. Salyková als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 30 und 60 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen G. A. und dem Hauptzollamt Braunschweig (Deutschland) über die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die vorschriftswidrige Einfuhr von Zigaretten in die Europäische Union.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/112
Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 unterliegen der Mehrwertsteuer u. a. folgende Umsätze:
„…
d) die Einfuhr von Gegenständen“.
Art. 30 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Als ‚Einfuhr eines Gegenstands‘ gilt die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Artikels [29] des [AEU-]Vertrags befindet, in die [Europäische Union].“
Art. 60 in Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes“) Kapitel 4 („Ort der Einfuhr von Gegenständen“) der Richtlinie sieht vor:
„Die Einfuhr von Gegenständen erfolgt in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die [Union] verbracht wird.“
Art. 70 in Titel VI („Steuertatbestand und Steueranspruch“) Kapitel 4 („Einfuhr von Gegenständen“) der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.“
Im selben Kapitel 4 bestimmt Art. 71 der Richtlinie 2006/112:
„(1) Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die [Union] einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne der Artikel 156, 276 und 277, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, treten Steuertatbestand und Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren oder dieser sonstigen Regelung nicht mehr unterliegen.
Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen …, treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben entstehen.
(2) In den Fällen, in denen die eingeführten Gegenstände keiner der Abgaben im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 unterliegen, wenden die Mitgliedstaaten in Bezug auf Steuertatbestand und Steueranspruch die für Zölle geltenden Vorschriften an.“
Zollkodex
In Art. 202 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. 2000, L 311, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) hieß es:
„(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht,
wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware vorschriftswidrig in das Zollgebiet der [Union] verbracht wird …
…
Im Sinne dieses Artikels ist vorschriftswidriges Verbringen jedes Verbringen unter Nichtbeachtung der Artikel 38 bis 41 und 177 zweiter Gedankenstrich.
(2) Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die Ware vorschriftswidrig in dieses Zollgebiet verbracht wird.
(3) Zollschuldner sind:
die Person, welche die Ware vorschriftswidrig in dieses Zollgebiet verbracht hat;
die Personen, die an diesem Verbringen beteiligt waren, obwohl sie wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass sie damit vorschriftswidrig handeln;
die Personen, welche die betreffende Ware erworben oder im Besitz gehabt haben, obwohl sie in dem Zeitpunkt des Erwerbs oder Erhalts der Ware wussten oder vernünftigerweise hätten wissen müssen, dass diese vorschriftswidrig in das Zollgebiet verbracht worden war.“
Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex lautete:
„Stellt eine Zollbehörde fest, dass eine Zollschuld gemäß Artikel 202 in einem anderen Mitgliedstaat entstanden ist, so gilt die Zollschuld, sofern sie weniger als 5000 [Euro] beträgt, als in dem Mitgliedstaat entstanden, in dem ihre Entstehung festgestellt wurde.“
Deutsches Recht
§ 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 2005 (BGBl. I S. 386) bestimmt:
„Für die Einfuhrumsatzsteuer gelten die Vorschriften für Zölle sinngemäß;
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
G. A., wohnhaft in Polen, erwarb am 29. September 2012 auf einem Markt in Polen insgesamt 43760 Zigaretten, auf deren Verpackung nur ukrainische und belarussische Steuerbanderolen angebracht waren. Er verbrachte die Zigaretten, ohne Zollstellen darüber zu informieren, in die Nähe von Braunschweig (Deutschland), wo er sie am 2. Oktober 2012 einem deutschen Käufer übergab. Dabei wurde er festgenommen, und die Zigaretten wurden sichergestellt und später vernichtet.
Das Hauptzollamt Braunschweig (Deutschland) befand, dass die Zigaretten vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbracht worden seien und dass daher gemäß Art. 202 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex die Zollschuld entstanden sei, deren Schuldner G. A. gemäß Art. 202 Abs. 3 dritter Gedankenstrich des Zollkodex sei. Ferner war das Hauptzollamt Braunschweig der Ansicht, dass gemäß § 21 Abs. 2 UStG in Deutschland die Einfuhrumsatzsteuerschuld entstanden sei. Daher erließ es am 3. Februar 2015 einen Umsatzsteuerbescheid über 2006,38 Euro.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob G. A. beim Finanzgericht Hamburg (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Anfechtungsklage gegen diesen Steuerbescheid.
Das Finanzgericht Hamburg sieht sich, da es in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit insbesondere darum geht, ob die streitige Einfuhrumsatzsteuer in Deutschland entstanden ist, vor die Frage gestellt, welche Vorschriften im vorliegenden Fall für die Bestimmung des Entstehungsorts der Einfuhrmehrwertsteuer maßgeblich sind.
Der Ort der Einfuhr der Zigaretten liege in Polen, da sie dort in den Wirtschaftskreislauf der Union eingegangen seien. Folglich wären, so das Finanzgericht Hamburg, die deutschen Zollbehörden für die Festsetzung und Erhebung der Einfuhrmehrwertsteuer nur unter der Voraussetzung zuständig, dass diese Steuer auf der Grundlage einer rechtlichen Fiktion in Bezug auf den Ort ihrer Entstehung als in Deutschland entstanden gälte. Nach § 21 Abs. 2 UStG sei Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex sinngemäß anwendbar, wonach die Zollschuld, sofern sie weniger als 5000 Euro beträgt, als in dem Mitgliedstaat entstanden gilt, in dem ihre Entstehung festgestellt wurde. Das Finanzgericht Hamburg hegt jedoch Zweifel, ob § 21 Abs. 2 UStG mit der Richtlinie 2006/112 konform ist.
Es ist insoweit der Ansicht, dass der Verweis auf die Zollvorschriften in Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 nicht den Ort der Entstehung der Mehrwertsteuerschuld betreffe. Zum einen nehme diese Bestimmung nicht hinsichtlich aller Voraussetzungen für die Entstehung der Mehrwertsteuer auf die Zollvorschriften Bezug. Zum anderen finde der Ort der Einfuhr in den Art. 60 und 61 der Richtlinie 2006/112 bei der Bestimmung des Ortes des steuerbaren Umsatzes Berücksichtigung.
Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt es gegen die Richtlinie 2006/112, insbesondere deren Art. 30 und 60, wenn eine mitgliedstaatliche Vorschrift Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex für sinngemäß auf die Einfuhrmehrwertsteuer anwendbar erklärt?
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 30 Abs. 1, Art. 60 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex auf die Einfuhrmehrwertsteuer für die Bestimmung ihres Entstehungsorts entsprechende Anwendung findet.
Die Einfuhr von Gegenständen ist nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 ein der Mehrwertsteuer unterliegender Umsatz. Art. 30 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert die Einfuhr eines Gegenstands als Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne von Art. 29 AEUV befindet, in die Union.
Art. 60 der Richtlinie 2006/112 sieht vor, dass die Einfuhr in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Union verbracht wird.
Nach Art. 70 dieser Richtlinie treten der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.
Unterliegen jedoch die eingeführten Gegenstände namentlich Zöllen, treten nach Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben entstehen.
Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen. Hintergrund der Verknüpfung ist, dass die Einfuhrmehrwertsteuer und die Zölle hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale insofern vergleichbar sind, als sie durch die Einfuhr der Waren in die Union und deren anschließenden Eintritt in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen (Urteil vom 8. September 2022, Hauptzollamt Hamburg [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer – II], C-368/21, EU:C:2022:647, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Bei der Analyse der in Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Verknüpfung zwischen den Zollvorschriften und den Mehrwertsteuervorschriften, um insbesondere zu klären, ob sie auch den Ort der Einfuhr von der Einfuhrmehrwertsteuer unterliegenden Gegenständen betrifft, ist die Tragweite des in dieser Bestimmung vorgenommenen Verweises auf die Zollvorschriften zu untersuchen.
Insoweit ist zum einen festzustellen, dass sich der Wortlaut von Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 nur auf den Zeitpunkt bezieht, zu dem der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch eintreten. Hinsichtlich des Orts der Einfuhr enthält diese Bestimmung keinen Verweis auf die Zollvorschriften.
Bei wörtlicher Auslegung betrifft der Verweis auf die Zollvorschriften somit nur die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch eintreten, und nicht die Bestimmung des Orts der Einfuhr.
Zum anderen ist zum Regelungszusammenhang von Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 festzustellen, dass diese Bestimmung zu Titel VI dieser Richtlinie gehört, der den „Steuertatbestand und Steueranspruch“ betrifft. Dagegen findet sich Art. 60 der Richtlinie in deren speziell dem „Ort des steuerbaren Umsatzes“ gewidmeten Titel V, genauer gesagt in Kapitel 4 („Ort der Einfuhr von Gegenständen“) dieses Titels.
Nach alledem ist Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass er keine allgemeine Verknüpfung zwischen der Richtlinie 2006/112 und dem Zollkodex herstellt und insbesondere nicht den Ort der Einfuhr von Gegenständen für deren Besteuerung mit Mehrwertsteuer bestimmt.
Diese Auslegung findet in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Bestätigung.
Zwar befand der Gerichtshof, dass in Anbetracht der durch Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 bestätigten Parallelität zwischen der Einfuhrmehrwertsteuer und den Zöllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2019, Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung,C-26/18, EU:C:2019:579, Rn. 41) neben der Zollschuld eine Mehrwertsteuerpflicht bestehen kann, wenn aufgrund des Fehlverhaltens, das zur Entstehung der Zollschuld geführt hat, angenommen werden kann, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und einem Verbrauch, d. h. dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten (Urteil vom 8. September 2022, Hauptzollamt Hamburg [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer – II], C-368/21, EU:C:2022:647, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn nachgewiesen wird, dass ein Gegenstand trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens, das in dem Mitgliedstaat, in dem es begangen wurde, zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld geführt hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem dieser Gegenstand zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist. Dann tritt der Tatbestand der Einfuhrmehrwertsteuer in dem anderen Mitgliedstaat ein (Urteil vom 8. September 2022, Hauptzollamt Hamburg [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer – II], C-368/21, EU:C:2022:647, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Schließlich ist auf die Bedeutung des für die Mehrwertsteuer geltenden Grundsatzes der steuerlichen Territorialität hinzuweisen. Im Gegensatz zu den Zöllen, die der Union unabhängig davon zustehen, welcher Mitgliedstaat sie erhebt, stehen nämlich die Einnahmen im Zusammenhang mit der Einfuhrmehrwertsteuer nach diesem Grundsatz dem Mitgliedstaat zu, in dem der Endverbrauch erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2007, Collée,C-146/05, EU:C:2007:549, Rn. 37).
Im vorliegenden Fall gelangten die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zigaretten nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen in Polen in den Wirtschaftskreislauf der Union und waren zum Verbrauch in diesem Mitgliedstaat bestimmt, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist, insbesondere unter Berücksichtigung der Menge der vorschriftswidrig in die Union eingeführten Waren und der Art und Weise, in der sie erworben und anschließend weitergegeben wurden. Nach der oben in Rn. 30 angeführten Rechtsprechung müsste somit Polen als Entstehungsort der Einfuhrmehrwertsteuer auf diese Zigaretten angesehen werden.
Den Ort der Einfuhr eines Gegenstands zu bestimmen, indem nicht die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 angewandt würden, sondern Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex entsprechende Anwendung fände, würde aber bedeuten, dass in einem solchen Fall die mit der Einfuhrmehrwertsteuer verbundenen Einnahmen aufgrund der in dieser Bestimmung aufgestellten rechtlichen Fiktion dem Mitgliedstaat zuflössen, in dem die Entstehung der Zollschuld festgestellt wurde, d. h. der Bundesrepublik Deutschland, was im Widerspruch zur Geltung des Grundsatzes der steuerlichen Territorialität auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stünde.
Insoweit ist noch darauf hinzuweisen, dass die zuständige deutsche Behörde, sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zigaretten zum Verbrauch in Polen bestimmt waren, verpflichtet wäre, der zuständigen polnischen Behörde gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. 2010, L 268, S. 1) ohne vorheriges Ersuchen die Informationen über die Sicherstellung dieser Zigaretten zu übermitteln, um insbesondere die Gefahr eines Steuerverlusts in diesem anderen Mitgliedstaat zu vermeiden.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 30 Abs. 1, Art. 60 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der Art. 215 Abs. 4 des Zollkodex auf die Einfuhrmehrwertsteuer für die Bestimmung ihres Entstehungsorts entsprechende Anwendung findet.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 30 Abs. 1, Art. 60 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der Art. 215 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung auf die Einfuhrmehrwertsteuer für die Bestimmung ihres Entstehungsorts entsprechende Anwendung findet.
Spineanu-Matei
Bonichot
Rossi
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Januar 2024.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Die Kammerpräsidentin
O. Spineanu-Matei
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
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