Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
Rechtsdatenbank
Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.
EuGH 12.05.2021 - C-505/19
EuGH 12.05.2021 - C-505/19 - URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) - 12. Mai 2021 ( *1) - „Vorlage zur Vorabentscheidung – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Verbot der Doppelbestrafung – Art. 21 AEUV – Freizügigkeit – Von Interpol herausgegebene Red Notice – Richtlinie (EU) 2016/680 – Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthalten sind“
Leitsatz
In der Rechtssache C-505/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2019, in dem Verfahren
WS
gegen
Bundesrepublik Deutschland
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, der Richter T. von Danwitz, F. Biltgen und P. G. Xuereb (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
von WS, zunächst vertreten durch die Rechtsanwälte S. Wolff und J. Adam, dann durch die Rechtsanwälte J. Adam und S. Schomburg,
der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Meyer, L. Wehle und A. Hansen als Bevollmächtigte,
der belgischen Regierung, zunächst vertreten durch C. Van Lul, M. Van Regemorter, M. Jacobs, C. Pochet, J.-C. Halleux und P.-J. De Grave, dann durch M. Van Regemorter, M. Jacobs, C. Pochet, J.-C. Halleux und P.-J. De Grave als Bevollmächtigte,
der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Machovičová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
der dänischen Regierung, zunächst vertreten durch J. Nymann-Lindegren, P. Z. L. Ngo und M. S. Wolff, dann durch J. Nymann-Lindegren und M. S. Wolff als Bevollmächtigte,
der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und D. Klebs als Bevollmächtigte,
der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki, E.-M. Mamouna und A. Magrippi als Bevollmächtigte,
der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères, A. Daniel, D. Dubois und T. Stehelin als Bevollmächtigte,
der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C.-R. Canţăr, S.-A. Purza und E. Gane, dann durch E. Gane und S.-A. Purza als Bevollmächtigte,
der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery als Bevollmächtigte im Beistand von C. Knight, Barrister,
der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier, D. Nardi und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. November 2020
folgendes
Entscheidungsgründe
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ), von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 21 AEUV und der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89), insbesondere von deren Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1.
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen WS und der durch das Bundeskriminalamt (im Folgenden: BKA) vertretenen Bundesrepublik Deutschland wegen von dieser zu treffenden Maßnahmen zum Schutz von WS vor etwaigen negativen Auswirkungen einer auf Antrag eines Drittstaats durch die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice auf die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Constitution of [Interpol] (Interpol-Statuten)
Nach Art. 2 Buchst. a der 1956 in Wien angenommenen und zuletzt 2017 geänderten Constitution of [Interpol] (Statuten von Interpol, im Folgenden: Interpol-Statuten) ist Ziel von Interpol u. a., „eine möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller kriminalpolizeilichen Behörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ sicherzustellen und auszubauen“.
Art. 31 der Interpol-Statuten bestimmt:
„Zur Erreichung ihrer Ziele ist Interpol auf die ständige und aktive Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen, die in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften ihres Landes alles in ihrer Macht stehende tun sollten, um sich mit der erforderlichen Sorgfalt an der Tätigkeit der Organisation zu beteiligen.“
Interpol’s Rules on the Processing of Data (Interpol-Vorschriften für die Verarbeitung von Daten)
Art. 1 Abs. 7 der 2011 angenommenen und zuletzt 2019 geänderten Interpol’s Rules on the Processing of Data (Interpol-Vorschriften für die Verarbeitung von Daten, im Folgenden: RPD) bestimmt:
„Im Sinn der vorliegenden Vorschriften gelten folgende Definitionen:
…
‚Nationales Zentralbüro‘ bedeutet jede Stelle, die von einem Land dazu bestimmt wurde, die in Artikel 32 der Interpol-Statuten vorgesehenen Verbindungsfunktionen auszuüben.“
Art. 73 („Das System der Interpol-Ausschreibungen“) Abs. 1 RPD bestimmt:
„Das System der Interpol-Ausschreibungen besteht aus einer Gruppe von farblich gekennzeichneten Ausschreibungen, die zu einem bestimmten Zweck herausgegeben werden, und aus besonderen Ausschreibungen, die im Rahmen einer Kooperation herausgegeben werden und nicht in die zuvor genannten Ausschreibungskategorien fallen.“
Art. 80 („Die operative Umsetzung der Ausschreibungen“) RPD bestimmt:
„(1) Die Nationalen Zentralbüros übermitteln:
allen zuständigen Behörden ihres Landes so rasch wie möglich und gemäß ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften alle Daten aus den Ausschreibungen, die sie erhalten, sowie die Aktualisierungen dieser Ausschreibungen;
…“
Art. 82 („Der Zweck roter Ausschreibungen“) RPD bestimmt:
„Rote Ausschreibungen werden auf Antrag eines Nationalen Zentralbüros oder einer internationalen Einrichtung mit Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnissen herausgegeben, wenn der Aufenthaltsort einer gesuchten Person ermittelt werden soll oder diese Person inhaftiert bzw. festgenommen werden soll oder ihre Bewegungsfreiheit in Hinblick auf ihre Auslieferung, Übergabe oder eine ähnliche gesetzlich vorgesehene Maßnahme eingeschränkt werden soll.“
Nach Art. 83 („Besondere Vorgaben bei der Herausgabe roter Ausschreibungen“) Abs. 2 Buchst. b RPD kann eine rote Ausschreibung nur herausgegeben werden, wenn genügend justizielle Daten geliefert werden, u. a. die Daten eines gültigen Haftbefehls oder der gerichtlichen Entscheidung, die dieselben Wirkungen hat.
Art. 87 („Zu treffende Maßnahmen, nachdem der Aufenthaltsort einer Person festgestellt worden ist“) RPD bestimmt:
„Wenn der Aufenthaltsort einer Person festgestellt worden ist, die Gegenstand einer roten Ausschreibung ist, sind die folgenden Schritte einzuleiten:
Das Land, in dem die gesuchte Person sich aufhält:
teilt dem Nationalen Zentralbüro oder der internationalen Einrichtung, das/die die Ausschreibung beantragt hat, und dem Generalsekretariat unverzüglich mit, dass die gesuchte Person gefunden worden ist, wobei es aufgrund innerstaatlicher Rechtsvorschriften und geltender internationaler Übereinkünfte Einschränkungen geben kann;
trifft alle weiteren Maßnahmen, die nach seinen Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Übereinkünften zulässig sind, wie z. B. die vorläufige Festnahme der gesuchten Person oder ihre Überwachung bzw. die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit.
Das Nationale Zentralbüro oder die internationale Einrichtung, die die Ausschreibung beantragt hat, wird unverzüglich aktiv, nachdem es/sie darüber informiert worden ist, dass der Aufenthaltsort der gesuchten Person in einem anderen Land ermittelt worden ist. Insbesondere sorgt es/sie auf Ersuchen des Landes, in dem die Person ausgeforscht wurde, bzw. auf Ersuchen des Generalsekretariats für die rasche – innerhalb der für einen solchen Fall vorgesehenen Fristen – Übermittlung von Daten und Dokumenten.
…“
Unionsrecht
SDÜ
In Titel III Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) bestimmt Art. 54 SDÜ:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Art. 57 SDÜ bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, so ersuchen sie, sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte.
(2) Die erbetenen Auskünfte werden sobald wie möglich erteilt und sind bei der Entscheidung über eine Fortsetzung des Verfahrens zu berücksichtigen.“
Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung
Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 (ABl. 2003, L 181, S. 27, im Folgenden: Auslieferungsabkommen EU-USA) sieht mit Ausnahme des die Todesstrafe betreffenden Art. 13 keine speziellen Gründe für die Verweigerung der Auslieferung vor.
Art. 17 („Nichtabweichung“) des Auslieferungsabkommens EU-USA bestimmt:
„(1) Dieses Abkommen schließt nicht aus, dass der ersuchte Staat Gründe für eine Ablehnung aufgrund eines Umstandes geltend macht, der durch dieses Abkommen nicht geregelt ist, sich jedoch aus einem geltenden bilateralen Auslieferungsvertrag zwischen einem Mitgliedstaat und den Vereinigten Staaten von Amerika ergibt.
(2) In den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, konsultieren sich der ersuchte und der ersuchende Staat.“
Richtlinie 2016/680
In den Erwägungsgründen 2, 25 und 64 der Richtlinie 2016/680 heißt es:
Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleiben. Diese Richtlinie soll zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen.
…
Alle Mitgliedstaaten sind Mitglied von [Interpol]. Interpol erhält, speichert und übermittelt für die Erfüllung ihres Auftrags personenbezogene Daten, um die zuständigen Behörden dabei zu unterstützen, internationale Kriminalität zu verhüten und zu bekämpfen. Daher sollte die Zusammenarbeit zwischen der Union und Interpol gestärkt werden, indem ein effizienter Austausch personenbezogener Daten gefördert und zugleich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten hinsichtlich der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleistet wird. Wenn personenbezogene Daten aus der Union an Interpol und die Staaten, die Mitglieder zu Interpol abgestellt haben, übermittelt werden, sollte diese Richtlinie, insbesondere die Bestimmungen über grenzüberschreitende Datenübermittlungen, zur Anwendung kommen. …
…
Die Mitgliedstaaten sollten dafür sorgen, dass Daten nur dann an ein Drittland oder eine internationale Organisation übermittelt werden, wenn dies für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder für die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, notwendig ist und es sich bei dem Verantwortlichen in dem Drittland oder in der internationalen Organisation um eine zuständige Behörde im Sinne dieser Richtlinie handelt. … Derartige Übermittlungen können erfolgen, wenn die Kommission beschlossen hat, dass das betreffende Drittland oder die betreffende internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet, oder wenn geeignete Garantien bestehen oder wenn Ausnahmen für bestimmte Fälle gelten. Das durch diese Richtlinie unionsweit gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen sollte bei der Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union an Verantwortliche, Auftragsverarbeiter oder andere Empfänger in Drittländern oder an internationale Organisationen nicht untergraben werden, und zwar auch dann nicht, wenn aus dem Drittland oder von der internationalen Organisation personenbezogene Daten an Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter in demselben oder einem anderen Drittland oder an dieselbe oder eine andere internationale Organisation weiterübermittelt werden.“
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 bestimmt:
„Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.“
Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 „gilt [die Richtlinie 2016/680] für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken“.
Art. 3 der Richtlinie 2016/680 bestimmt in den Nrn. 2 und 7:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung;
…
7. ‚zuständige Behörde‘
eine staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist, oder
eine andere Stelle oder Einrichtung, der durch das Recht der Mitgliedstaaten die Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher Befugnisse zur Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder zur Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, übertragen wurde“.
Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten
auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden,
für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden,
dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind,
…“
Art. 7 („Unterscheidung zwischen personenbezogenen Daten und Überprüfung der Qualität der personenbezogenen Daten“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in Abs. 3:
„Wird festgestellt, dass unrichtige personenbezogene Daten übermittelt worden sind oder die personenbezogenen Daten unrechtmäßig übermittelt worden sind, so ist dies dem Empfänger unverzüglich mitzuteilen. In diesem Fall ist gemäß Artikel 16 eine Berichtigung oder Löschung oder die Einschränkung der Verarbeitung der personenbezogenen Daten vorzunehmen.“
Art. 8 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt.
(2) Im Recht der Mitgliedstaaten, das die Verarbeitung innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie regelt, werden zumindest die Ziele der Verarbeitung, die personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden sollen, und die Zwecke der Verarbeitung angegeben.“
Art. 16 („Recht auf Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten und Einschränkung der Verarbeitung“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in Abs. 2:
„Die Mitgliedstaaten verlangen vom Verantwortlichen, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, und sehen vor, dass die betroffene Person das Recht hat, von dem Verantwortlichen die Löschung von sie betreffenden personenbezogenen Daten unverzüglich zu verlangen, wenn die Verarbeitung gegen die nach den Artikeln 4, 8 und 10 erlassenen Vorschriften verstößt oder wenn die personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung gelöscht werden müssen, der der Verantwortliche unterliegt.“
In Kapitel V („Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer oder internationale Organisationen“) der Richtlinie 2016/680 mit den Art. 35 bis 40 sind u. a. die Voraussetzungen geregelt, unter denen personenbezogene Daten an Drittländer oder internationale Organisationen übermittelt werden dürfen.
Nach Art. 36 („Datenübermittlung auf der Grundlage eines Angemessenheitsbeschlusses“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 sehen die Mitgliedstaaten vor, dass personenbezogene Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation übermittelt werden dürfen, wenn die Kommission beschlossen hat, dass das betreffende Drittland, ein Gebiet oder ein oder mehrere spezifische Sektoren in diesem Drittland oder die betreffende internationale Organisation ein angemessenes Schutzniveau bietet.
Liegt kein solcher Beschluss vor, sehen die Mitgliedstaaten nach Art. 37 („Datenübermittlung vorbehaltlich geeigneter Garantien“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 vor, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation erfolgen darf, wenn in einem rechtsverbindlichen Instrument geeignete Garantien für den Schutz personenbezogener Daten vorgesehen sind oder der Verantwortliche alle Umstände beurteilt hat, die bei der Übermittlung personenbezogener Daten eine Rolle spielen, und zu der Auffassung gelangt ist, dass geeignete Garantien zum Schutz personenbezogener Daten bestehen.
Nach Art. 40 („Internationale Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 treffen die Kommission und die Mitgliedstaaten in Bezug auf Drittländer und internationale Organisationen geeignete Maßnahmen u. a. zur Entwicklung von Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit, durch die die wirksame Durchsetzung von Rechtsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten erleichtert wird, und zur gegenseitigen Leistung internationaler Amtshilfe bei deren Durchsetzung.
Deutsches Recht
Nach § 153a Abs. 1 der Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) kann die Staatsanwaltschaft bei rechtswidrigen Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder die mit Geldstrafe bedroht sind (Vergehen), mit der in der Regel erforderlichen Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts (Grundsatz) und der Zustimmung des Beschuldigten vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und zugleich dem Beschuldigten Auflagen und Weisungen wie die Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse erteilen, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht, und kann die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden, wenn der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen erfüllt.
Nationales Zentralbüro der Bundesrepublik Deutschland für Interpol ist nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten vom 1. Juni 2017 (BGBl. 2017 I S. 1354) das Bundeskriminalamt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
2012 gab Interpol auf Antrag der zuständigen Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika eine WS betreffende Red Notice (im Folgenden: WS betreffende Red Notice) heraus. WS besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Es sollte sein Aufenthaltsort ermittelt werden, und er sollte im Hinblick auf eine etwaige Auslieferung an die Vereinigten Staaten inhaftiert, festgenommen oder in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Grundlage der Red Notice war ein u. a. wegen Bestechungsvorwürfen ausgestellter Haftbefehl der zuständigen Behörden der Vereinigten Staaten.
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (Deutschland), hatte die Staatsanwaltschaft München I (Deutschland) gegen WS noch vor der Herausgabe der Red Notice ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das dieselben Taten betraf. Es wurde mit Verfügung vom 27. Januar 2010 gemäß § 153a Abs. 1 StPO gegen Erfüllung einer Geldauflage eingestellt. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass deshalb in Bezug auf die Taten, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens seien, Strafklageverbrauch eingetreten sei.
Nach einem Schriftwechsel mit WS erwirkte die Bundesrepublik Deutschland 2013, dass Interpol der WS betreffenden Red Notice ein Addendum anfügte, in dem es hieß, dass das BKA davon ausgehe, dass bei den Taten, auf die sich die Red Notice beziehe, das Verbot der Doppelbestrafung greife, nach dem eine Person wegen ein und derselben Tat nicht zweimal verfolgt werden darf.
2017 erhob WS beim vorlegenden Gericht Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, die durch das BKA vertreten wird. Er beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen, alle geeigneten Maßnahmen zur Löschung der ihn betreffenden Red Notice zu ergreifen. Er macht geltend, dass er durch die ihn betreffende Red Notice darin gehindert werde, sich in einen anderen Mitgliedstaat oder Staat, der Vertragspartei des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) ist (im Folgenden: Vertragsstaat), als die Bundesrepublik Deutschland zu begeben, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen zu werden, da die Mitglied- und Vertragsstaaten ihn wegen der Red Notice in die nationalen Fahndungsdatenbanken aufgenommen hätten. Dies sei nicht mit Art. 54 SDÜ und Art. 21 AEUV zu vereinbaren. Außerdem stelle deshalb jegliche Verarbeitung der in der Red Notice enthaltenen ihn betreffenden personenbezogenen Daten, die durch die Mitgliedstaaten vorgenommen werde, einen Verstoß gegen die Richtlinie 2016/680 dar.
Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthalten seien, unter Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 falle. Nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie sei die Verarbeitung solcher Daten aber nur dann rechtmäßig, soweit sie für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sei, die von der zuständigen Behörde zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten Zwecken wahrgenommenen werde, und soweit sie auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolge. Im vorliegenden Fall könne die Verarbeitung der WS betreffenden personenbezogenen Daten, wie sie in der ihn betreffenden Red Notice enthalten seien, daher nur dann rechtmäßig sein, wenn sie mit Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 AEUV vereinbar sei.
Nach ständiger Rechtsprechung solle das in Art. 50 der Charta und in Art. 54 SDÜ verankerte Doppelbestrafungsverbot im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV verhindern, dass eine in einem Mitglied- oder Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch mache, wegen derselben Tat in einem anderen Mitglied- oder Vertragsstaat verfolgt werde.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs finde Art. 21 AEUV in Auslieferungssachen auch im Verhältnis eines Mitgliedstaats zu einem Drittstaat Anwendung. Dasselbe müsse gelten, wenn eine internationale Organisation wie Interpol dazwischengeschaltet sei und auf Antrag eines Drittstaats eine Red Notice herausgebe, die im Hinblick auf die Auslieferung einer Person an diesen Drittstaat darauf abziele, dass die Person festgenommen oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werde. Die Gefahr, nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat aufgrund einer Anklage, die wegen des Verbots der Doppelbestrafung unionsrechtswidrig sei, zu Unrecht an einen Drittstaat ausgeliefert zu werden, beschränke die Unionsbürger in ihrer Freizügigkeit. Dem könne nur durch die vorgeschlagene Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 21 AEUV begegnet werden.
Die Übertragung der in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten in die nationalen Fahndungsdatenbanken stelle eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit deren Art. 1 Abs. 1 dar. Wenn die Verarbeitung der in einer solchen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten aber nur rechtmäßig sei, wenn sie mit Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 AEUV vereinbar sei, seien die auf die Red Notice hin in den Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten gespeicherten Fahndungsersuchen, sofern die Verarbeitung der Daten nicht mit Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 Abs. 1 AEUV vereinbar sei, gemäß Art. 7 Abs. 3 und Art. 16 der Richtlinie 2016/680 zu löschen.
Das vorlegende Gericht weist weiter darauf hin, dass die Kommission und die Mitgliedstaaten offenbar hinsichtlich Interpol nicht von der Möglichkeit gemäß Art. 40 der Richtlinie 2016/680 Gebrauch gemacht hätten, in Bezug auf Drittländer und internationale Organisationen Maßnahmen zur internationalen Zusammenarbeit zum Schutz personenbezogener Daten zu treffen. Außerdem regelten die Art. 36 und 37 der Richtlinie 2016/680 nur die Datenübermittlung an Interpol, nicht aber die Datenübermittlung von Interpol an die Mitgliedstaaten. Damit beinhalte die Richtlinie 2016/680 eine Regelungslücke, die es zu schließen gelte. Dass Interpol eine Übermittlung von personenbezogenen Daten, die in seinen Red Notices enthalten seien, an die Mitgliedstaaten auch dann nicht unterlasse, wenn bei den Taten, auf die sich die Red Notices bezögen, das Verbot der Doppelbestrafung greife, und dass Interpol nicht dafür sorge, dass die Daten, wenn ihre Verarbeitung rechtswidrig sei, unverzüglich gelöscht würden, begründe erhebliche Zweifel an der datenschutzrechtlichen Zuverlässigkeit dieser Organisation.
Der Ausgang des Ausgangsrechtsstreits hänge mithin von der Auslegung von Art. 54 SDÜ, von Art. 50 der Charta, von Art. 21 Abs. 1 AEUV und der Richtlinie 2016/680 ab. Denn wenn im vorliegenden Fall das Doppelbestrafungsverbot greife, so dass es rechtswidrig wäre, eine gegen WS gerichtete Ausschreibung, die von einem Drittstaat ausgestellt und über eine Red Notice von Interpol übermittelt worden sei, weiter in den nationalen Fahndungsdatenbanken auszuweisen, dürften die Mitgliedstaaten die in der Red Notice enthaltenen personenbezogene Daten nicht verarbeiten. Die gegen WS gerichteten Ausschreibungen, die nach der Herausgabe der Red Notice in die Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten aufgenommen worden seien, müssten dann gelöscht werden, so dass gewährleistet wäre, dass WS innerhalb der Union und im Schengen-Raum von seiner Freizügigkeit Gebrauch machen könne.
Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta dahingehend auszulegen, dass bereits die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat in allen Vertragsstaaten untersagt ist, wenn eine deutsche Staatsanwaltschaft ein eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat?
Folgt aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Verbot an die Mitgliedstaaten, Festnahmeersuchen von Drittstaaten im Rahmen einer Internationalen Organisation wie Interpol umzusetzen, wenn der von dem Festnahmeersuchen Betroffene Unionsbürger ist und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Bedenken an der Vereinbarkeit des Festnahmeersuchens mit dem Verbot der Doppelbestrafung der Internationalen Organisation und damit auch den übrigen Mitgliedstaaten mitgeteilt hat?
Steht Art. 21 Abs. 1 AEUV bereits der Einleitung von Strafverfahren und einer vorübergehenden Festnahme in den Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene nicht besitzt, entgegen, wenn diese im Widerspruch zum Verbot der Doppelbestrafung steht?
Sind Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichtet sind, die sicherstellen, dass im Falle eines zum Strafklageverbrauch führenden Verfahrens in allen Vertragsstaaten eine weitere Verarbeitung von Red Notices von Interpol, die zu einem weiteren Strafverfahren führen sollen, untersagt ist?
Verfügt eine internationale Organisation wie Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau, wenn ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 der Richtlinie 2016/680 und/oder geeignete Garantien nach Art. 37 der Richtlinie 2016/680 nicht gegeben sind?
Dürfen die Mitgliedstaaten Daten, die bei Interpol in einem Fahndungszirkular („Red Notice“) von Drittstaaten eingetragen worden sind, nur dann weiterverarbeiten, wenn ein Drittstaat mit dem Fahndungszirkular ein Festnahme- und Auslieferungsersuchen verbreitet und eine Festnahme beantragt hat, die nicht gegen Europäisches Recht, insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung, verstößt?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren gemäß Art. 170 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.
Nach Anhörung des Generalanwalts hat der Gerichtshof, weil er insbesondere festgestellt hat, dass WS nicht in Haft ist, am 12. Juli 2019 auf Vorschlag des Berichterstatters entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben.
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
Mehrere Beteiligte, die schriftliche Erklärungen eingereicht oder an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, haben geltend gemacht, dass das Vorabentscheidungsersuchen bzw. bestimmte Vorlagefragen nicht zulässig seien.
Erstens macht die belgische Regierung im Wesentlichen geltend, dass das vorlegende Gericht den Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens und den maßgeblichen Sachverhalt nicht hinreichend genau dargestellt und nicht erläutert habe, inwieweit es Zweifel bezüglich der Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts habe, auf die sich das Vorabentscheidungsersuchen beziehe. Das vorlegende Gericht habe demnach die Vorgaben von Art. 94 Buchst. a und c der Verfahrensordnung nicht beachtet.
Zweitens macht die griechische Regierung geltend, dass aus dem Vorlagebeschluss nicht ersichtlich sei, dass WS von seinem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEUV Gebrauch gemacht hätte. Die Frage, ob dieses Recht verletzt worden sei, sei mithin hypothetisch. Aus dem Vorlagebeschluss gehe auch nicht hervor, dass WS betreffende personenbezogenen Daten, nachdem die ihn betreffende Red Notice, in der die Daten enthalten gewesen seien, wohl durch Interpol an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten von Interpol übermittelt worden sei, in die Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten aufgenommen worden wären.
Drittens machen die Bundesrepublik Deutschland, die deutsche Regierung und die tschechische Regierung geltend, dass die Vorlagefragen rein hypothetischer Natur seien. Sie stünden in keinem Verhältnis zu dem Rechtsstreit zwischen WS und der Bundesrepublik Deutschland, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei. Sie seien allein auf die Pflichten anderer Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland gerichtet.
Viertens machen die belgische, die tschechische, die deutsche und die niederländische Regierung geltend, dass das vorlegende Gericht als deutsches Gericht nicht dafür zuständig sei, zu entscheiden, was andere Mitgliedstaaten als die Bundesrepublik Deutschland gegenüber WS zu tun oder zu unterlassen hätten.
Fünftens machen die belgische Regierung, die tschechische Regierung und die Kommission geltend, dass Frage 5 betreffend das von Interpol gewährleistete Niveau des Schutzes personenbezogener Daten unzulässig sei, weil sie eine hypothetische Situation betreffe.
Sechstens schließlich machen die Bundesrepublik Deutschland, die belgische, die deutsche und die spanische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, dass die Vorlagefragen jedenfalls dadurch, dass Interpol die WS betreffende Red Notice am 5. September 2019 gelöscht habe, gegenstandslos geworden und damit unzulässig seien.
Nach ständiger Rechtsprechung haben die nationalen Gerichte gemäß Art. 267 AEUV ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen insbesondere der Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist, wobei es ihnen freisteht, davon in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, Gebrauch zu machen (Urteil vom 26. Juni 2019, Addiko Bank, C-407/18, EU:C:2019:537, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zudem hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass für Fragen nationaler Gerichte, die das Unionsrecht betreffen, die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof kann die Beantwortung solcher Fragen daher nur ablehnen, wenn die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, um die ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C-621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. Juni 2019, Addiko Bank, C-407/18, EU:C:2019:537, Rn. 36).
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens ist als Erstes festzustellen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 94 Buchst. a und c der Verfahrensordnung außer den dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen u. a. eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen, sowie eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, enthalten muss.
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen diese Voraussetzungen erfüllt. Es enthält, wenn auch knapp, die erforderlichen Angaben zum maßgeblichen Sachverhalt und zum Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens. Zum einen wird ausgeführt, dass WS nach Ansicht des vorlegenden Gerichts durch die Herausgabe der ihn betreffenden Red Notice und die Speicherung der ihn betreffenden personenbezogenen Daten, die darin enthalten waren, in den nationalen Fahndungsdatenbanken in anderen Mitglied- und Vertragsstaaten als der Bundesrepublik Deutschland in der Ausübung seiner Freizügigkeit beschränkt wird, und zum anderen, dass WS versucht hat, diese Beschränkung durch eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland aufzuheben. Ferner hat das vorlegende Gericht dargetan, warum es das Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat und welcher Zusammenhang seiner Ansicht nach zwischen den Vorschriften des Unionsrechts, auf die sich das Vorabentscheidungsersuchen bezieht, und dem Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens besteht (siehe oben, Rn. 37).
Im Übrigen ist festzustellen, dass alle Beteiligten, die sich am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligt haben, in der Lage waren, auf der Grundlage des maßgeblichen Sachverhalts und des Streitgegenstands des Ausgangsverfahrens, wie sie im Vorabentscheidungsersuchen dargestellt sind, zu den Vorlagefragen sachdienlich Stellung zu nehmen.
Als Zweites ist festzustellen, dass der Umstand, dass sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, dass WS nach der Herausgabe der ihn betreffenden Red Notice von seinem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV offenbar keinen Gebrauch gemacht hat, nicht bedeutet, dass das Problem, auf das sich das Vorabentscheidungsersuchen bezieht, hypothetisch wäre. Dem Vorlagebeschluss zufolge hat WS die beim vorlegenden Gericht anhängige Klage nämlich gerade erhoben, um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen zu können, ohne Gefahr zu laufen, in dem Mitgliedstaat, in den er sich begeben möchte, wegen der ihn betreffenden Red Notice festgenommen zu werden.
Was die Richtlinie 2016/680 betrifft, werden im Vorabentscheidungsersuchen zwar keine Beweise dafür angeführt, dass nach der Herausgabe der WS betreffenden Red Notice personenbezogene Daten zu dieser Person, die darin enthalten waren, tatsächlich in Fahndungsdatenbanken anderer Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland gespeichert worden wären. Die Mitglieder von Interpol, zu denen alle Mitglieds- und Vertragsstaaten zählen, können, wenn mit einer Red Notice von Interpol nach Personen gefahndet wird, ihrer Verpflichtung zur „ständigen und aktiven Mitarbeit“ gemäß Art. 31 der Interpol-Statuten aber wohl kaum nachkommen, wenn sie die betreffenden personenbezogenen Daten, die in der Red Notice enthalten sind, nicht in ihren eigenen Fahndungsdatenbanken speichern, es sei denn, es bestünden vertretbare Gründe, dies nicht zu tun.
Zudem ergibt sich aus Art. 80 RPD, dass die Nationalen Zentralbüros der Mitgliedstaaten von Interpol, wenn von Interpol eine Red Notice herausgegeben wird, allen zuständigen Behörden ihres Landes alle Daten aus den Ausschreibungen übermitteln, u. a. die personenbezogenen Daten, die die Person betreffen, auf die sich die Red Notice bezieht. Dem Gerichtshof liegen jedoch keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel daran begründen, dass die WS betreffenden personenbezogenen Daten, die in der ihn betreffenden Red Notice enthalten waren, in den Mitgliedstaaten an alle zuständigen Behörden des Landes übermittelt wurden.
Als Drittes ist festzustellen, dass der Umstand, dass die Vorlagefragen ausschließlich die Verpflichtungen von anderen Mitglied- und Vertragsstaaten als der Bundesrepublik Deutschland betreffen, nicht bedeutet, dass die Vorlagefragen in keinem Zusammenhang mit dem Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens stünden. Denn, obwohl es dort um eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland und damit der deutschen Behörden geht, WS vor den negativen Folgen zu schützen, die sich aus der ihn betreffenden Red Notice von Interpol möglicherweise für die Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit ergeben, können das Bestehen und der Umfang einer solchen Verpflichtung von den Verpflichtungen abhängen, die die Mitglied- und Vertragsstaaten in Bezug auf eine Person, die Gegenstand einer solchen von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, in Fällen, in denen das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommen kann, gegebenenfalls treffen, auch hinsichtlich der Verarbeitung der in einer solchen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten im Sinne der Richtlinie 2016/680.
Als Viertes ist festzustellen, dass, wie aus der vorstehenden Randnummer hervorgeht, die Klage des Ausgangsverfahrens ausschließlich gegen die Bundesrepublik Deutschland und damit gegen die zuständigen deutschen Behörden gerichtet ist, so dass nicht geltend gemacht werden kann, dass das Vorabentscheidungsersuchen deshalb unzulässig wäre, weil das vorlegende Gericht für die Entscheidung über die Verpflichtungen der Behörden der übrigen Mitgliedstaaten nicht zuständig sei. Das vorlegende Gericht hat im Ausgangsverfahren nämlich nur über die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Behörden zu befinden.
Als Fünftes ist schließlich festzustellen, dass die Beschränkung, die die WS betreffende Red Notice für dessen Freizügigkeit darstellen konnte, mit der am 5. September 2019 durch Interpol vorgenommenen Löschung dieser Red Notice in der Tat entfallen ist. Jedoch hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof auf die Frage zu den möglichen Folgen der Löschung der Red Notice für das Vorabentscheidungsersuchen mit Schreiben vom 11. November 2019 geantwortet, dass WS erklärt habe, dass er beabsichtige, die Klage auf eine Feststellungsklage umzustellen. Er beantrage nunmehr festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sei, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Interpol wegen desselben Sachverhalts, der Gegenstand der ihn betreffenden Red Notice gewesen sei, eine neue Red Notice herausgebe, und eine neue Red Notice, falls eine solche von Interpol herausgegeben werden sollte, zu löschen. Möglich wäre nach Ansicht des vorlegenden Gerichts auch eine Umdeutung des Klagebegehrens auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage.
Das vorlegende Gericht stellt insoweit klar, dass sich der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens nicht erledigt habe und dass die Beantwortung der Vorlagefragen nach wie vor für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich sei, und zwar bei beiden der in der vorstehenden Randnummer genannten Klagen.
Hierzu ist festzustellen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils zu beurteilen (vgl. Urteil vom 26. Oktober 2017, Argenta Spaarbank, C-39/16, EU:C:2017:813, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was die Zulässigkeit der verschiedenen Vorlagefragen angeht, ist in Bezug auf die Fragen 1, 2, 3, 4 und 6 festzustellen, dass es in Anbetracht der Ausführungen des vorlegenden Gerichts weder offensichtlich ist, dass die Auslegung des Unionsrechts, um die ersucht wird, in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits im Stadium nach der am 5. September 2019 erfolgten Löschung der WS betreffenden Red Notice stünde, noch, dass das Problem, das Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist, durch die Löschung der Red Notice hypothetisch geworden wäre.
Die Fragen 1, 2, 3, 4 und 6 sind mithin zulässig.
Für Frage 5 gilt dies nicht. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Interpol über ein Niveau des Schutzes personenbezogener Daten verfügt, das ausreicht, damit die der Richtlinie 2016/680 unterliegenden Behörden solche Daten an diese Organisation übermitteln dürfen. Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht erläutert, inwieweit die Antwort des Gerichtshofs auf diese Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens erforderlich sein soll.
Zwar teilt das Land, in dem eine mit einer Red Notice gesuchte Person gefunden wird, dies der Behörde, die die Red Notice beantragt hat, und Interpol nach Art. 87 RPD unverzüglich mit, wobei es aufgrund der Rechtsvorschriften des betreffenden Landes und geltender internationaler Verträge Einschränkungen geben kann. Insoweit kann eine von Interpol herausgegebene Red Notice dazu führen, dass ein Mitgliedstaat Interpol personenbezogene Daten übermittelt. Das vorlegende Gericht hat jedoch nicht diese Fallgestaltung im Sinn. Seine Zweifel an der Zuverlässigkeit von Interpol im Hinblick auf den Schutz personenbezogener Daten beziehen sich ausschließlich darauf, dass Interpol den Mitgliedstaaten mit der WS betreffenden Red Notice personenbezogene Daten übermittelt habe und die Red Notice zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens aufrechterhalten habe, obwohl das Verbot der Doppelbestrafung greife.
Die Auslegung des Unionsrechts, um die das vorlegende Gericht mit Frage 5 ersucht, steht daher ganz offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Folglich ist Frage 5 unzulässig.
Zu den Fragen
Zu den Fragen 1, 2 und 3
Die Fragen 1, 2 und 3 sind zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats eine Person, die Gegenstand einer von Interpol auf Antrag eines Drittstaats herausgegebenen Red Notice ist, vorläufig festnehmen, wenn die betreffende Person in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat bereits Gegenstand einer Strafverfolgung gewesen ist, die von der Staatsanwaltschaft, nachdem die betreffende Person bestimmte Auflagen erfüllt hatte, eingestellt wurde, und die Behörden des betreffenden Vertrags- oder Mitgliedstaats Interpol mitgeteilt haben, dass dieses Verfahren ihrer Auffassung nach dieselben Taten betrifft wie die Red Notice.
Nach Art. 87 RPD muss ein Mitgliedstaat von Interpol, wenn festgestellt wird, dass sich eine Person, die Gegenstand einer Red Notice ist, in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die gesuchte Person u. a. vorläufig festnehmen oder ihre Bewegungen überwachen oder einschränken, sofern dies nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Verträgen zulässig ist.
Art. 54 SDÜ steht dem entgegen, dass ein Vertragsstaat eine Person wegen derselben Tat, derentwegen sie von einer anderen Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, verfolgt, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.
Wie Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta zu entnehmen ist, ergibt sich das Verbot der Doppelbestrafung aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Vertragsstaaten. Art. 54 SDÜ ist mithin im Licht von Art. 50 der Charta auszulegen; er gewährleistet, dass dessen Wesensgehalt gewahrt wird (Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C-234/17, EU:C:2018:853, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
Zur Beantwortung der Fragen 1, 2 und 3 ist demnach erstens zu prüfen, ob das Verbot der Doppelbestrafung auch dann greift, wenn eine Entscheidung nicht von einem für Strafsachen zuständigen Gericht, sondern von einer anderen Stelle erlassen wurde, und zweitens, ob bei einer Person, gegen die die Entscheidung ergangen ist, wenn sie in der Folge nach der Herausgabe einer sie betreffenden Red Notice durch Interpol vorläufig festgenommen wird, angenommen werden kann, dass sie im Sinne von Art. 54 SDÜ „verfolgt“ und damit unter Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV in ihrer Freizügigkeit beschränkt wird, wenn nicht erwiesen ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, sondern die Behörden eines Mitglieds- oder Vertragsstaats den zuständigen Behörden der anderen Mitglieds- oder Vertragsstaaten mitgeteilt haben, dass sie bezweifeln, dass die neue Strafverfolgung, auf die sich die Red Notice bezieht, mit dem Verbot der Doppelbestrafung vereinbar ist. Dabei sind sowohl Art. 54 SDÜ als auch Art. 21 Abs. 1 AEUV im Lichte von Art. 50 der Charta auszulegen.
Was als Erstes die Frage betrifft, ob das Verbot der Doppelbestrafung auch dann greift, wenn die Entscheidung nicht von einem für Strafsachen zuständigen Gericht, sondern von einer anderen Stelle erlassen wurde, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren wie das Verfahren gemäß § 153a StPO gilt, in denen die Staatsanwaltschaft eines Vertragsstaats ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in dem Vertragsstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat (Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge, C-187/01 und C-385/01, EU:C:2003:87, Rn. 22, 27 und 48), sofern die Entscheidung der Staatsanwalt auf einer Prüfung in der Sache beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2005, Miraglia, C-469/03, EU:C:2005:156, Rn. 34 und 35).
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts war WS in Deutschland Gegenstand eines Strafverfahrens, das mit Verfügung vom 27. Januar 2010 gemäß § 153a Abs. 1 StPO rechtskräftig eingestellt wurde, nachdem WS einen Geldbetrag gezahlt hatte. Daraus folgt, dass bei den Taten, auf die sich diese Verfügung bezieht, das sowohl in Art. 54 SDÜ als auch in Art. 50 der Charta verankerte Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommen kann.
Was als Zweites die Frage betrifft, ob Art. 54 SDÜ der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, entgegenstehen kann, ist festzustellen, dass diese Vorschrift dem entgegensteht, dass eine Person, die durch einen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch einen anderen Vertragsstaat „verfolgt“ wird.
Die Frage, ob eine Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, wenn sie vorläufig festgenommen wird, als „verfolgt“ im Sinne von Art. 54 SDÜ angesehen werden kann, lässt sich nicht allein anhand des Wortlauts dieser Vorschrift beantworten.
Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift jedoch nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C-414/16, EU:C:2018:257, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zum Kontext von Art. 54 SDÜ ist festzustellen, dass nach Art. 50 der Charta, in dem das Verbot der Doppelbestrafung auf der Ebene der Grundrechte der Union verankert ist, niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ergibt sich aus dieser Vorschrift, dass das Verbot der Doppelbestrafung eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet (Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C-537/16, EU:C:2018:193, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was das mit Art. 54 SDÜ verfolgte Ziel angeht, geht aus der Rechtsprechung hervor, dass das in dieser Vorschrift aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verhindern soll, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, um Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem bei fehlender Harmonisierung oder Angleichung der strafrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten unanfechtbar gewordene Entscheidungen staatlicher Stellen beachtet werden. In diesem Zusammenhang ist Art. 54 SDÜ nämlich im Licht von Art. 3 Abs. 2 EUV auszulegen, wonach die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bietet, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen u. a. in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 44 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere geht aus der Rechtsprechung hervor, dass eine Person, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können muss, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen (Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a., C-467/04, EU:C:2006:610, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Art. 54 SDÜ impliziert zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde. Dieses gegenseitige Vertrauen erfordert, dass die betreffenden zuständigen Behörden des zweiten Vertragsstaats eine im Hoheitsgebiet des ersten Vertragsstaats erlassene rechtskräftige Entscheidung so akzeptieren, wie sie ihnen mitgeteilt worden ist (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 50 und 51).
Das gegenseitige Vertrauen kann jedoch nur gedeihen, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält (Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski, C-486/14, EU:C:2016:483, Rn. 52).
Danach sind die Behörden eines Vertragsstaats nur dann verpflichtet, von der strafrechtlichen Verfolgung einer Person wegen bestimmter Taten oder der Unterstützung eines Drittstaats bei der Verfolgung der betreffenden Person durch deren vorläufige Festnahme abzusehen, wenn feststeht, dass die Person wegen derselben Tat bereits von einem anderen Vertragsstaat im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt worden ist, so dass das Verbot der Doppelbestrafung greift.
Wie der Generalanwalt in Nr. 94 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wird diese Auslegung durch Art. 57 SDÜ bestätigt. Nach dieser Bestimmung können die Behörden eines Vertragsstaats, in dem eine Person wegen einer Straftat angeschuldigt wird, wenn sie Grund zu der Annahme haben, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende von einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, die zuständigen Behörden des letztgenannten Vertragsstaates um die Informationen ersuchen, die erforderlich sind, um zu beurteilen, ob das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommt. Aus dieser Bestimmung ergibt sich nämlich, dass die bloße Möglichkeit, dass das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommt, nicht ausreicht, um einen Vertragsstaat daran zu hindern, jegliche Verfolgungsmaßnahme gegen den Betroffenen zu ergreifen.
Die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer von Interpol auf Antrag eines Drittstaats herausgegebenen Red Notice ist, kann aber in Fällen, in denen fraglich ist, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift, einen unerlässlichen Zwischenschritt darstellen, um die insoweit erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen und zugleich der Gefahr zu begegnen, dass die Person flüchtet und damit einer etwaigen Verfolgung in diesem Drittstaat wegen Taten entgeht, derentwegen sie von keinem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist. In solchen Fällen steht Art. 54 SDÜ der vorläufigen Festnahme der betreffenden Peron, soweit diese unerlässlich ist, um die erforderlichen Überprüfungen vorzunehmen, daher nicht entgegen.
Eine solche Auslegung ist auch für Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 50 der Charta geboten.
Insoweit ist festzustellen, dass eine vorläufige Festnahme zwar eine Beschränkung der Freizügigkeit der betroffenen Person darstellt. In Fällen, in denen ungewiss ist, ob das Verbot der Doppelbestrafung greift, ist aber davon auszugehen, dass eine solche Beschränkung durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit dieser Person gerechtfertigt ist. Wie der Gerichtshof entschieden hat, fügt sich dieses Ziel in den Kontext des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, ein, wie er in Art. 3 Abs. 2 EUV vorgesehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C-182/15, EU:C:2016:630, Rn. 36 und 37, und vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 60).
In Fällen, in denen das Verbot der Doppelbestrafung einer Auslieferung an den Drittstaat, auf dessen Antrag die Red Notice von Interpol herausgegeben wurde, nicht entgegensteht, ist eine vorläufige Festnahme nämlich geeignet, nach einer etwaigen Auslieferung die Strafverfolgung der betreffenden Person zu erleichtern. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist die Auslieferung ein Verfahren, das gerade verhindern soll, dass eine Person, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet aufhält als dem, in dem sie eine Straftat begangen haben soll, der Strafe entgeht, wodurch verhindert werden kann, dass Personen, die im Hoheitsgebiet eines Staates Straftaten begangen haben und aus diesem Hoheitsgebiet geflohen sind, der Strafe entgehen (Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Solange nicht feststeht, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift, sind mithin sowohl die Behörden eines Vertrags- als auch die eines Mitgliedstaats befugt, eine Person, die Gegenstand einer von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, vorläufig festzunehmen.
Sobald die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats, in den sich diese Person begibt, hingegen davon Kenntnis erlangen, dass in einem anderen Vertrags- oder Mitgliedstaat eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung in Bezug auf die von der genannten Red Notice erfassten Taten greift – gegebenenfalls nach Einholung der erforderlichen Informationen bei den zuständigen Behörden des Vertrags- oder Mitgliedstaats, in dem der Strafklageverbrauch eingetreten sein soll –, stehen sowohl das gegenseitige Vertrauen der Vertragsstaaten, das Art. 54 SDÜ impliziert (siehe oben, Rn. 80), als auch die in Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 50 der Charta garantierte Freizügigkeit einer vorläufigen Festnahme bzw. Inhafthaltung der betreffenden Person durch diese Behörden entgegen.
Was zum einen Art. 54 SDÜ betrifft, ist die vorläufige Festnahme in solchen Fällen nämlich als Maßnahme anzusehen, die nicht mehr dazu dient, zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung erfüllt sind, sondern allein dazu, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die betreffende Person in dem Drittstaat, der die Herausgabe der fraglichen Red Notice beantragt hat, tatsächlich verfolgt wird, gegebenenfalls nachdem sie an diesen Drittstaat ausgeliefert worden ist.
Was zum anderen Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 50 der Charta betrifft, wäre die mit der vorläufigen Festnahme der Person, die Gegenstand der Red Notice ist, verbundene Beschränkung von deren Freizügigkeit in Fällen wie den oben in Rn. 89 beschriebenen nicht durch das legitime Ziel der Vermeidung der Straflosigkeit gerechtfertigt, da die Person wegen der von dieser Red Notice erfassten Taten bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
Um in solchen Fällen die praktische Wirksamkeit von Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, zu gewährleisten, obliegt es den Mitglied- und Vertragsstaaten, sicherzustellen, dass Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, die es den betroffenen Personen ermöglichen, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu erwirken, mit der festgestellt wird, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift (siehe oben, Rn. 89).
Die oben in den Rn. 89 bis 91 vorgenommene Auslegung von Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, wird durch das Vorbringen einiger Regierungen, die sich an dem Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligt haben, wonach Art. 54 SDÜ nur im Schengen-Raum anwendbar sei und das Verbot der Doppelbestrafung keinen absoluten Grund darstelle, der eine Verweigerung der Auslieferung gemäß dem Auslieferungsabkommen EU-USA rechtfertige, nicht in Frage gestellt.
Denn, auch wenn Art. 54 SDÜ einen Staat, der nicht zu den Vertragsstaaten gehört und daher nicht Teil des Schengen-Raums ist, natürlich nicht bindet, so ist zum einen festzustellen, dass die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, durch einen Vertragsstaat selbst dann, wenn die Red Notice herausgegeben worden ist, weil ein Drittstaat dies im Rahmen der gegen die betreffende Person eingeleiteten Strafverfolgung beantragt hat, eine Handlung des betreffenden Vertragsstaats darstellt, die im Rahmen der Strafverfolgung im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten erfolgt (siehe oben, Rn. 86 und 87) und für die Freizügigkeit der betreffenden Person dieselben negativen Auswirkungen hat wie eine vergleichbare Handlung, die im Rahmen der Strafverfolgung allein in dem betreffenden Vertragsstaat erfolgt.
Wie der Generalanwalt in den Nrn. 60 bis 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist daher nur eine Auslegung von Art. 54 SDÜ, wonach eine solche Handlung eines Vertragsstaats unter den Begriff „Verfolgung“ im Sinne dieser Vorschrift fällt, geeignet, das mit der Vorschrift verfolgte Ziel zu erreichen.
Die Rechtmäßigkeit der Handlung eines Vertragsstaats, die in der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, besteht, hängt somit davon ab, ob sie mit Art. 54 SDÜ vereinbar ist. Oben in den Rn. 89 und 90 ist eine Fallkonstellation dargestellt, in der eine solche Festnahme gegen diese Vorschrift verstößt.
Zum anderen ist zum Auslieferungsabkommen EU-USA festzustellen, dass dieses Abkommen, dessen Ziel es nach seinem Art. 1 ist, Maßnahmen zur Verstärkung der Zusammenarbeit im Rahmen der Auslieferungsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und diesem Drittstaat zu treffen, zwar nicht ausdrücklich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten eine Auslieferung, um die die Vereinigten Staaten von Amerika ersuchen, wegen des Verbots der Doppelbestrafung verweigern dürften.
Es ist jedoch zu beachten, dass das Vorabentscheidungsersuchen die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer von Interpol auf Antrag eines Drittstaats herausgegebenen Red Notice ist, betrifft und nicht die Auslieferung dieser Person an diesen Staat. Um festzustellen, ob die oben in den Rn. 89 und 90 vorgenommene Auslegung von Art. 54 SDÜ eventuell völkerrechtswidrig ist, ist daher zunächst auf die Bestimmungen über die Herausgabe der Red Notices von Interpol und die Rechtsfolgen solcher Red Notices einzugehen, wie sie in den Art. 82 bis 87 RPD enthalten bzw. geregelt sind.
Nach Art. 87 RPD sind die Mitgliedstaaten von Interpol, wenn eine Person, die Gegenstand einer Red Notice ist, in ihrem Hoheitsgebiet gefunden wird, nur dann verpflichtet, die gesuchte Person vorläufig festzunehmen, wenn eine solche Maßnahmen „nach [ihren] Rechtsvorschriften und den geltenden internationalen Verträgen zulässig“ ist. In Fällen, in denen die vorläufige Festnahme einer Person, die Gegenstand einer Red Notice von Interpol ist, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, weil die betreffende Red Notice Taten betrifft, bei denen das Verbot der Doppelbestrafung greift, verstößt ein Mitgliedstaat von Interpol, wenn er die betreffende Person nicht vorläufig festnimmt, daher nicht gegen seine Verpflichtungen als Mitglied von Interpol.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Auslieferung von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten an einen Drittstaat zwar für den Erlass entsprechender Regelungen zuständig bleiben, doch müssen sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht und insbesondere die durch Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freiheit beachten, sich in den Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 2018, Raugevicius, C-247/17, EU:C:2018:898, Rn. 45, und vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C-897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 48).
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass nicht erwiesen ist, dass die WS betreffend Red Notice, die von Interpol im Jahr 2012 herausgegeben wurde, dieselben Taten betraf, derentwegen WS bereits in Deutschland im Sinne von Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
Daher verstößt die vorläufige Festnahme von WS in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat im gegenwärtigen Stadium nach den Ausführungen oben in Rn. 88 weder gegen Art. 54 SDÜ noch gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta.
Wie der Generalanwalt in Nr. 98 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, steht dieses Ergebnis in Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) und mit der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).
Zum einen wird die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar abgelehnt, wenn sich aus den der Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats vorliegenden Informationen ergibt, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift. Nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 entscheidet diese Behörde im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls aber, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Danach ist die Festnahme oder Inhafthaltung der gesuchten Person nur dann ausgeschlossen, wenn die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats nachgewiesen hat, dass das Verbot der Doppelbestrafung greift.
Zum anderen ist festzustellen, dass die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung eines Mitgliedstaats im Vollstreckungsmitgliedstaat nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2014/41 zwar versagt werden kann, wenn die Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnung dem Grundsatz „ne bis in idem“ zuwiderlaufen würde. Im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/41 heißt es aber, dass die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Anbetracht der Vorläufigkeit des einer solchen Anordnung zugrunde liegenden Verfahrens nicht versagt werden sollte, wenn festgestellt werden soll, ob sie möglicherweise mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ kollidiert.
Somit ist auf die Fragen 1, 2 und 3 zu antworten, dass Art. 54 SDÜ und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von Interpol herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertrags- oder Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertrags- oder Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
Zu den Fragen 4 und 6
Die Fragen 4 und 6 sind zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Vorschriften der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthalten sind, durch die Behörden der Mitgliedstaaten entgegenstehen, wenn die Person, die Gegenstand der Red Notice ist, wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits von einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist und damit das Verbot der Doppelbestrafung greift.
Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Behörden der Mitgliedstaaten die in einer solchen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten in solchen Fällen in ihren Fahndungsdatenbanken speichern bzw., falls sie bereits gespeichert sind, gespeichert lassen dürfen.
Nach Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 bezeichnet der Ausdruck „Verarbeitung“ im Sinne dieser Richtlinie „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, … das Löschen oder die Vernichtung“.
Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2016/680 für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten Zwecken, d. h. zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.
Die von den Behörden eines Mitgliedstaats auf der Grundlage des nationalen Rechts vorgenommene Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken dieses Mitgliedstaats stellt somit eine Verarbeitung dieser Daten dar, die unter die Richtlinie 2016/680 fällt. Dasselbe gilt für jeden anderen Vorgang und jede andere Vorgangsreihe im Sinne von Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie im Zusammenhang mit diesen Daten.
Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten u. a. vorsehen, dass personenbezogene Daten auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden und dass sie für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden. Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass „die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt“.
Wie es im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 heißt, erhält, speichert und übermittelt Interpol für die Erfüllung ihres Auftrags personenbezogene Daten, um die zuständigen Behörden seiner Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, internationale Kriminalität zu verhüten und zu bekämpfen. Daher sollte die Zusammenarbeit zwischen der Union und Interpol gestärkt werden, „indem ein effizienter Austausch personenbezogener Daten gefördert und zugleich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten hinsichtlich der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleistet wird“.
Mit der Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer Red Notice von Interpol enthalten sind, durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten wird danach ein rechtmäßiger Zweck im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2016/680 verfolgt.
Zwar muss die Verarbeitung der personenbezogenen Daten nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 rechtmäßig sein, um der Richtlinie zu entsprechen. Und wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, ergibt sich aus Art. 7 Abs. 3 und Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680, dass, wenn personenbezogene Daten unrechtmäßig übermittelt worden sind, grundsätzlich deren Löschung verlangt werden kann.
Wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann jedoch daraus, dass eine von Interpol herausgegebene Red Notice Taten betrifft, bei denen das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommen könnte, nicht geschlossen werden, dass die in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten unrechtmäßig übermittelt worden wären und dass die Verarbeitung der Daten als rechtswidrig anzusehen wäre.
Denn zum einen stellt die von Interpol vorgenommene Übermittlung dieser Daten, da es sich bei Interpol nicht um eine „zuständige Behörde“ im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 handelt, keine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne der Richtlinie dar. Zum anderen sieht weder die Richtlinie 2016/680 noch irgendeine andere Vorschrift des Unionsrechts vor, dass eine Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer Red Notice von Interpol enthalten sind, unzulässig wäre, wenn das Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommen könnte.
Eine Verarbeitung solcher Daten, die auf Grundlage der einschlägigen Vorschriften des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt, ist grundsätzlich auch im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten Zwecken wahrgenommenen wird. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten – nach Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 u. a. jede staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist – wären nämlich nicht in der Lage, ihren Auftrag zu erfüllen, wenn es ihnen grundsätzlich nicht möglich wäre, die eine Person betreffenden personenbezogenen Daten, wie sie in einer diese betreffenden Red Notice von Interpol enthalten sind, in die nationalen Fahndungsdatenbanken aufzunehmen und jede andere Verarbeitung dieser Daten vorzunehmen, die sich in diesem Zusammenhang als erforderlich erweisen könnte.
Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 84), kann sich eine Verarbeitung von personenbezogenen Daten, die in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthalten sind, durch die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn lediglich Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die betreffende Red Notice Taten betrifft, bei denen das Verbot der Doppelbestrafung greift, gerade als unerlässlich erweisen, um zu überprüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist.
Wenn jedoch mit einer in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass eine von Interpol herausgegebene Red Notice tatsächlich dieselben Taten betrifft wie diejenigen, derentwegen die Person, die Gegenstand der Red Notice ist, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist, und dass somit das Verbot der Doppelbestrafung greift, kann die betreffende Person wegen dieser Taten, wie sich aus der Antwort auf die Fragen 1, 2 und 3 ergibt, wegen Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta in den Mitgliedstaaten nicht mehr verfolgt und damit auch nicht mehr festgenommen werden. Die Speicherung der in einer Red Notice von Interpol enthaltenen personenbezogenen Daten in den Fahndungsdatenbanken der Mitgliedstaaten ist dann nicht mehr erforderlich, so dass die betroffene Person gemäß Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 von dem Verantwortlichen verlangen können muss, sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen. Werden die Daten jedoch weiter gespeichert, müssen sie mit dem Hinweis versehen werden, dass die betreffende Person in einem Mitglied- oder Vertragsstaat aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung wegen derselben Taten nicht mehr verfolgt werden darf.
Somit ist auf die Fragen 4 und 6 zu antworten, dass die Vorschriften der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Verarbeitung der in einer von Interpol herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie 2016/680 erfüllt, insbesondere im Sinne von deren Art. 8 Abs. 1 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde wahrgenommenen wird.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Gründe
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, das am 26. März 1995 in Kraft getreten ist, und Art. 21 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sind dahin auszulegen, dass sie der vorläufigen Festnahme einer Person, die Gegenstand einer auf Antrag eines Drittstaats von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice ist, durch die Behörden eines Vertragsstaats des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, es sei denn, mit einer in einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung wird festgestellt, dass die betreffende Person von einem Vertragsstaat des genannten Übereinkommens oder einem Mitgliedstaat wegen derselben Taten, auf die sich die Red Notice bezieht, bereits rechtskräftig abgeurteilt worden ist.
Die Vorschriften der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und Art. 50 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass sie der Verarbeitung der in einer von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) herausgegebenen Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten nicht entgegenstehen, solange nicht mit einer in einem Vertragsstaat des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen oder in einem Mitgliedstaat ergangenen rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden ist, dass das Verbot der Doppelbestrafung bei den Taten, auf die sich die betreffende Red Notice bezieht, greift, und sofern die Verarbeitung der Daten die Voraussetzungen gemäß der Richtlinie (EU) 2016/680 erfüllt, insbesondere im Sinne von deren Art. 8 Abs. 1 für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde wahrgenommenen wird.
Frage 5 ist unzulässig.
Lenaerts
Silva de Lapuerta
Bonichot
Arabadjiev
Prechal
Ilešič
Bay Larsen
Kumin
Wahl
von Danwitz
Biltgen
Xuereb
Rossi
Jarukaitis
Jääskinen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 12. Mai 2021.
Der Kanzler
A. Calot Escobar
Der Präsident
K. Lenaerts
( *1)Verfahrenssprache: Deutsch.
Kontakt zur AOK Bremen/Bremerhaven
Persönlicher Ansprechpartner
E-Mail-Service