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BAG 07.07.2011 - 2 AZR 476/10
BAG 07.07.2011 - 2 AZR 476/10 - Kündigungsschutz - Wartezeit - Sozialauswahl
Normen
§ 1 Abs 1 KSchG, § 1 Abs 2 S 1 Alt 3 KSchG, § 1 Abs 3 S 1 KSchG, § 23 Abs 1 KSchG, § 36 Abs 1 KredWG, § 53 Abs 1 S 1 KredWG, § 53 Abs 2 Nr 6 KredWG, § 53 Abs 2a KredWG
Vorinstanz
vorgehend ArbG Berlin, 3. August 2009, Az: 19 Ca 20749/08, Urteil
vorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 3. Juni 2010, Az: 18 Sa 2163/09, Urteil
Tenor
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1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2010 - 18 Sa 2163/09 - im Kostenausspruch und insoweit aufgehoben, wie es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. August 2009 - 19 Ca 20749/08 - zurückgewiesen hat.
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2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung und über Ansprüche der Klägerin auf Annahmeverzugsvergütung.
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Die Beklagte ist eine in Lettland ansässige Bank. Sie unterhielt in B eine im Handelsregister eingetragene Zweigniederlassung. Dort beschäftigte sie regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer. Am 12. Juni 2008 eröffnete sie eine Filiale in M. Diese Filiale war - ebenso wie eine bereits bestehende Zweigstelle in H - organisatorisch der Niederlassung B zugeordnet. In M beschäftigte die Beklagte im Jahr 2008 nicht mehr als fünf Arbeitnehmer.
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Die Klägerin ist lettische Staatsbürgerin. Am 6. Mai 2008 schlossen die Parteien in Lettland einen in lettischer Sprache abgefassten, unbefristeten Arbeitsvertrag. Danach wurde die Klägerin ab 7. Mai 2008 als „Kundenberaterin“ für eine Tätigkeit in M eingestellt. Der Vertrag sah eine Probezeit bis zum 6. August 2008 vor. Nach ihrer Einarbeitung in Lettland absolvierte die Klägerin ab dem 19. Mai 2008 eine Schulung in H. Am 2. Juni 2008 nahm sie ihre Tätigkeit in der M Filiale auf.
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Unter dem Datum des 13. August 2008 schlossen die Parteien einen in deutscher Sprache abgefassten Arbeitvertrag. Er war - bei vereinbarter ordentlicher Kündigungsmöglichkeit - mit Bezug auf § 14 Abs. 2 TzBfG befristet und sah eine sechsmonatige Probezeit vor. Als Tätigkeit war die einer „Kundenberaterin in M Filiale“ genannt. Gemäß § 3 des Vertrags behielt sich die Beklagte das Recht vor, die Klägerin für die Einarbeitungsphase oder bei Bedarf in B einzusetzen. Bei Eröffnung weiterer Zweigniederlassungen/Filialen sollte sie sie - unter Beibehaltung des jeweiligen Tätigkeitsfelds - unternehmensweit innerhalb Deutschlands versetzen können. Laut einer der Schlussbestimmungen versicherte die Klägerin, dass zwischen den Parteien zuvor kein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Der Vertrag sollte mit Erteilung einer „EU-Arbeitserlaubnis“ (Arbeitsgenehmigung nach § 284 SGB III) an die Klägerin wirksam werden.
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Am 1. September 2008 bat die Klägerin - entsprechend einer Vorgabe der Beklagten - um Aufhebung des bisherigen Arbeitsvertrags und Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses zum 2. September 2008 auf der Grundlage der Vereinbarung vom 13. August 2008.
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Mit Schreiben vom 8. Dezember 2008, der Klägerin einen Tag später zugegangen, kündigte die Beklagte das „seit dem 02.09.2008 bestehende“ Arbeitsverhältnis zum 23. Dezember 2008, „hilfsweise zum rechtlich nächstmöglichen Zeitpunkt“.
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Die Klägerin hat rechtzeitig Kündigungsschutzklage erhoben und geltend gemacht, auf das Arbeitsverhältnis finde das Kündigungsschutzgesetz Anwendung. Die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG sei erfüllt. Die Beschäftigungszeiten aus den beiden Arbeitsverhältnissen seien zusammenzurechnen. Deren Unterbrechung sei unbeachtlich. Der betriebliche Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes sei eröffnet. Die M Filiale bilde mit der Zweigniederlassung B einen Betrieb iSv. § 23 Abs. 1 KSchG. Die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Betriebsbedingte Gründe iSv. § 1 Abs. 2 KSchG lägen nicht vor. Es sei ausreichend Arbeit vorhanden gewesen. Die Beklagte habe nach der Kündigung in M neue Arbeitnehmerinnen eingestellt oder - was dem gleichstehe - befristete Verträge verlängert. Die Sozialauswahl sei fehlerhaft. Sie sei schutzbedürftiger als vier ihrer nicht gekündigten Kolleginnen. Für die Monate Januar bis März 2009 stehe ihr Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu; erhaltenes Arbeitslosengeld lasse sie sich anrechnen.
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Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - beantragt
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1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 8. Dezember 2008 nicht aufgelöst worden ist;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 12.659,73 Euro brutto abzüglich auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener 2.790,00 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils aus 4.219,91 Euro brutto abzüglich 930,00 Euro seit dem 1. Februar 2009, 1. März 2009 und 1. April 2009 zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, das Arbeitsverhältnis habe bei Zugang der Kündigung noch keine sechs Monate „ununterbrochen“ bestanden. Auf das erste Arbeitsverhältnis der Parteien sei lettisches Recht zur Anwendung gelangt. Die Anrechnung unter Geltung fremden Rechts verbrachter Beschäftigungszeiten auf die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG widerspreche den Bestimmungen des Internationalen Privatrechts. Der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes stehe zudem die Eigenständigkeit der M Filiale entgegen. Die Kündigung sei im Übrigen auch bei Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes wirksam. Sie habe vor dem Hintergrund der Finanzkrise entschieden, ihre Personalkosten zu senken. Zur Erreichung dieses Ziels habe sie die Stelle der Klägerin gestrichen. Ihre Arbeitsaufgaben habe sie teils auf zwei in M tätige Arbeitnehmerinnen, teils auf eine in B und eine in H beschäftigte Arbeitnehmerin übertragen. Nach Beginn der Mutterschutzfristen einer der M Arbeitnehmerinnen habe sie die H Mitarbeiterin nach M versetzt. Diese Umverteilungen seien wegen insgesamt rückläufiger Auslastung der Arbeitnehmer möglich gewesen. Die Sozialauswahl sei - soweit sie überhaupt durchzuführen gewesen sei - nicht zu beanstanden. Bei den in H als Kundenbetreuerinnen beschäftigten Mitarbeiterinnen, mit denen sich die Klägerin verglichen habe, handele es sich um Leistungsträgerinnen iSv. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Eine weitere Mitarbeiterin sei Kundenbetreuerin, nicht Kundenberaterin und deshalb nicht mit der Klägerin vergleichbar, eine andere sei aufgrund deutlich längerer Betriebszugehörigkeit schutzwürdiger.
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Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzbegehren und der Zahlungsklage - bis auf 500,00 Euro - stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Ausnahme einer Herabsetzung der Verpflichtung zur Zinszahlung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren weiter, die Klage insgesamt abzuweisen.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Senat kann mangels ausreichender Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob die Kündigung vom 8. Dezember 2008 wirksam ist.
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A. Mit der bisherigen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht der Kündigungsschutzklage nicht stattgeben. Es geht zwar zutreffend von der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes aus. Seine Ausführungen zu § 1 Abs. 3 KSchG tragen aber nicht das Ergebnis, die Kündigung sei mangels ordnungsgemäßer Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt.
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I. Die Wirksamkeit der Kündigung ist nach deutschem Kündigungs(schutz)recht zu beurteilen. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien gelangte jedenfalls im Kündigungszeitpunkt deutsches Recht zur Anwendung.
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1. Nach Internationalem Privatrecht (IPR) bestimmt sich die Frage, welches Gesetzesrecht auf einen Privatrechtssachverhalt anzuwenden ist, nach den Regelungen des Staates, dessen Gerichte zur Entscheidung angerufen werden. Dementsprechend sind hier die das Arbeitsrecht betreffenden Bestimmungen der Art. 27 bis 37 EGBGB einschlägig. Diese sind zwar zum 17. Dezember 2009 durch die Bestimmungen der Verordnung Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (RomI-VO) abgelöst worden. Nach Art. 28 RomI-VO finden aber deren Regelungen auf Vertragsverhältnisse, die - wie im Streitfall - vor dem 17. Dezember 2009 begründet worden sind, keine Anwendung (vgl. BAG 26. Mai 2011 - 8 AZR 37/10 - Rn. 39).
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2. Die Parteien haben mit dem Arbeitsvertrag vom 13. August 2008 iSv. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 EGBGB konkludent deutsches Recht gewählt, indem sie auf deutsche Rechtsvorschriften - etwa § 14 Abs. 2 TzBfG - Bezug genommen haben. Unabhängig davon verweist die Regelanknüpfung des Art. 30 Abs. 2 EGBGB auf deutsches Recht. Danach findet mangels Vereinbarung das Recht desjenigen Staates Anwendung, in welchem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Regelmäßiger Arbeitsort der Klägerin war zuletzt M. Umstände, die nach dem Wirksamwerden der Vereinbarungen vom 13. August 2008 auf eine engere Verbindung des Arbeitsverhältnisses zu Lettland hinweisen könnten, sind nicht zu erkennen.
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II. Die persönlichen und betrieblichen Voraussetzungen für die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes (§ 1 Abs. 1, § 23 Abs. 1 KSchG) liegen vor.
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1. Die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG ist erfüllt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin hat bei Zugang der Kündigung im Unternehmen der Beklagten „ohne Unterbrechung“ länger als sechs Monate bestanden. Die unter Geltung des Arbeitsvertrags vom 6. Mai 2008 zurückgelegten Beschäftigungszeiten sind trotz der zwischenzeitlichen Vertragsänderung zu berücksichtigen. Das gilt selbst dann, wenn im Zusammenhang mit der Anfang September 2008 eingetretenen rechtlichen Unterbrechung ein Wechsel des Arbeitsvertragsstatuts stattgefunden haben sollte. Zugunsten der Beklagten kann daher unterstellt werden, dass - wovon das Landesarbeitsgericht positiv ausgegangen ist - auf das erste Arbeitsverhältnis der Parteien lettisches Recht Anwendung fand.
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a) § 1 Abs. 1 KSchG schließt die Anrechnung von Beschäftigungszeiten aus einem vorangehenden Arbeitsverhältnis auf die Wartezeit nicht unter allen Umständen aus.
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aa) Zwar ist nach dem Wortlaut des Gesetzes für die Wahrung der Frist jede rechtliche Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses schädlich, sei sie auch nur von kürzester Dauer. Dies würde jedoch Sinn und Zweck der Wartezeit nicht gerecht. Danach soll der Arbeitnehmer erst nach einer gewissen Dauer der Zugehörigkeit zum Betrieb oder Unternehmen Kündigungsschutz erwerben (BAG 23. September 1976 - 2 AZR 309/75 - zu I 2 c der Gründe, BAGE 28, 176). Den Arbeitsvertragsparteien soll für eine gewisse Zeit die Prüfung ermöglicht werden, ob sie sich auf Dauer binden wollen (BAG 24. November 2005 - 2 AZR 614/04 - zu B 1 b der Gründe, BAGE 116, 254). Dieses Regelungsziel verlangt nicht danach, mit jeder noch so kurzen rechtlichen Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses die Wartezeit erneut beginnen zu lassen. So wäre es etwa vor diesem Ziel sachlich nicht zu begründen, ein Arbeitsverhältnis, das an einem - ohnehin arbeitsfreien - Wochenende auf Veranlassung des Arbeitgebers geendet hat, selbst bei Wiedereinstellung des Arbeitnehmers zu Beginn der darauffolgenden Woche als iSv. § 1 Abs. 1 KSchG unterbrochen anzusehen (BAG 28. August 2008 - 2 AZR 101/07 - Rn. 18, AP KSchG 1969 § 1 Nr. 88; 19. Juni 2007 - 2 AZR 94/06 - Rn. 13, BAGE 123, 185). Es ist deshalb für den Lauf der Wartezeit unschädlich, wenn innerhalb des Sechsmonatszeitraums zwei oder mehr Arbeitsverhältnisse liegen, die ohne zeitliche Unterbrechung unmittelbar aufeinanderfolgen. Setzt sich die Beschäftigung des Arbeitnehmers nahtlos fort, ist typischerweise von einem „ununterbrochenen“ Arbeitsverhältnis auszugehen. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer während der Wartezeit verschiedenartige Tätigkeiten ausgeübt hat (vgl. BAG 23. September 1976 - 2 AZR 309/75 - zu I 2 f der Gründe, aaO; KR/Griebeling 9. Aufl. § 1 Rn. 114; MünchKommBGB/Hergenröder 5. Aufl. § 1 KSchG Rn. 33; Schwarze in Schwarze/Schrader/Eylert KSchG § 1 Rn. 1; SPV/Vossen 10. Aufl. Rn. 876; einschränkend: ErfK/Oetker 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 40; Löwisch/Spinner KSchG 9. Aufl. § 1 Rn. 43).
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bb) Selbst in Fällen, in denen es an einer nahtlosen Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses fehlt, kann eine rechtliche Unterbrechung unbeachtlich sein, wenn sie verhältnismäßig kurz ist und zwischen beiden Arbeitsverhältnissen ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Dafür kommt es insbesondere auf Anlass und Dauer der Unterbrechung sowie auf die Art der Weiterbeschäftigung an (st. Rspr., bspw. BAG 28. August 2008 - 2 AZR 101/07 - Rn. 19, AP KSchG 1969 § 1 Nr. 88; 19. Juni 2007 - 2 AZR 94/06 - Rn. 13, BAGE 123, 185; grundlegend: 6. Dezember 1976 - 2 AZR 470/75 - zu 3 d der Gründe, BAGE 28, 252). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, hängt vom Einzelfall ab. Eine feste zeitliche Begrenzung für den Unterbrechungszeitraum besteht nicht. Je länger die Unterbrechung gedauert hat, desto gewichtiger müssen die für einen sachlichen Zusammenhang sprechenden Umstände sein (vgl. BAG 28. August 2008 - 2 AZR 101/07 - Rn. 20, aaO; 20. August 1998 - 2 AZR 76/98 - zu II 1 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 9 = EzA KSchG § 1 Nr. 49).
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b) Diese Grundsätze kommen auch dann zum Tragen, wenn für das frühere Arbeitsverhältnis nicht deutsches, sondern ausländisches Recht galt. Für die Anrechnung von Beschäftigungszeiten aus einem vorangegangenen Arbeitsverhältnis ist es grundsätzlich unerheblich, ob dieses einem anderen Arbeitsvertragsstatut unterlag.
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aa) Ob fremdem Recht unterfallende Vorgänge bei der Anwendung einer deutschen Rechtsnorm Berücksichtigung finden, ist durch Auslegung des einschlägigen deutschen Gesetzes zu ermitteln (bspw. MünchKommBGB/Sonnenberger 5. Aufl. Einl. IPR Rn. 609; Deinert RIW 2008, 148, 150 f.; Otto/Mückl BB 2008, 1231). Maßgeblich ist § 1 Abs. 1 KSchG.
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bb) Dem Wortlaut nach verlangt diese Bestimmung nur, dass das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen länger als sechs Monate bestanden hat. Eine (Selbst-)Beschränkung in dem Sinne, dass auf das Arbeitsverhältnis durchgehend deutsches Recht zur Anwendung gelangt sein müsse, lässt sich daraus nicht ableiten. Das Gesetz stellt - im Gegenteil - mit der Anknüpfung an den Begriff „Unternehmen“ einen Auslandsbezug zumindest insoweit her, als es in seinen Geltungsbereich auf diese Weise auch solche Arbeitsverhältnisse einbezieht, die mit ausländischen Unternehmen bestehen. Bereits dies spricht dafür, dass es auf das Vertragsstatut, unter dem die Beschäftigungszeiten zurückgelegt wurden, nicht entscheidend ankommt.
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cc) Dies wird durch Sinn und Zweck der Wartezeitregelung bestätigt. Dem Ziel, sich gegenseitig kennenzulernen und prüfen zu können, dient auch die Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis, auf das vorübergehend deutsches Recht keine Anwendung fand. Die Frage, ob sich der Arbeitgeber enger an den Arbeitnehmer binden will, stellt sich im Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nach sechsmonatiger Dauer der Beschäftigung. Die Möglichkeit, dies sachgerecht zu beurteilen, hängt nicht davon ab, dass auf das Arbeitverhältnis durchgängig deutsches Recht zur Anwendung gelangt ist. Auch Zeiten einer Beschäftigung auf der Grundlage fremden Vertragsstatuts bieten dem Arbeitgeber dazu ausreichend Gelegenheit (vgl. ErfK/Oetker 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 41).
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dd) Der Anrechnung von Beschäftigungszeiten unter fremdem Arbeitsvertragsstatut stehen keine systematischen Erwägungen entgegen. Sie gerät insbesondere nicht in Widerspruch zur Begrenzung des Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes auf in Deutschland gelegene Betriebe in § 23 Abs. 1 KSchG.
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(1) Der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes findet zwar nur auf Betriebe Anwendung, die in Deutschland gelegen sind (vgl. BAG 8. Oktober 2009 - 2 AZR 654/08 - Rn. 13, EzA KSchG § 23 Nr. 35; 17. Januar 2008 - 2 AZR 902/06 - BAGE 125, 274; siehe auch BVerfG 12. März 2009 - 1 BvR 1250/08 -). Dies schließt es aus, bei der Beurteilung, ob die deutsche Zweigniederlassung eines ausländischen Unternehmens die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 KSchG erfüllt, im Ausland tätige Arbeitnehmer zu berücksichtigen, jedenfalls soweit deren Arbeitsverhältnisse nicht deutschem Recht unterliegen (BAG 26. März 2009 - 2 AZR 883/07 - Rn. 22, AP KSchG 1969 § 23 Nr. 45). Im Gegensatz zu § 23 Abs. 1 KSchG stellt § 1 Abs. 1 KSchG aber nicht nur auf die jeweiligen Verhältnisse im Betrieb ab, sondern erweitert seinen Anwendungsbereich auf das gesamte Unternehmen des Arbeitgebers.
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(2) Zudem beruht die Beschränkung des Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes auf in Deutschland gelegene Betriebe auf dem Umstand, dass die Gewährung von Kündigungsschutz gegenüber einem Arbeitnehmer Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse des Arbeitgebers mit anderen Arbeitnehmern haben kann. Das ist widerspruchsfrei nur möglich, wenn im Zeitpunkt der Kündigung gegenüber allen möglicherweise betroffenen Arbeitnehmern und gegenüber dem Arbeitgeber dasselbe, nämlich deutsches Kündigungsschutz- und Arbeitsrecht angewendet und auch durchgesetzt werden kann (vgl. BAG 26. März 2009 - 2 AZR 883/07 - Rn. 15 ff., AP KSchG 1969 § 23 Nr. 45). Demgegenüber berührt die Frage, ob auf die Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG Beschäftigungszeiten aus einem Arbeitsverhältnis anzurechnen sind, das einer anderen Rechtsordnung unterfällt, in erster Linie die individuellen Verhältnisse des betreffenden Arbeitnehmers. Außerdem stellt sie sich nur in Bezug auf Arbeitsverhältnisse, die jedenfalls im Kündigungszeitpunkt deutschem Recht unterlagen.
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ee) Zu Unrecht meint die Revision, die Anrechnung von Beschäftigungszeiten, die unter Geltung fremden Arbeitsvertragsstatuts zurückgelegt wurden, schränke in unzulässiger Weise ihre nach Kollisionsrecht gegebenen Rechtswahlmöglichkeiten ein. Es entspricht den allgemeinen Grundsätzen des Internationalen Privatrechts, dass im Fall eines Statutenwechsels das „alte“ Statut für die Begründung der Rechte, Rechtslagen und Rechtsverhältnisse und für die bis zum Statutenwechsel eingetretenen Wirkungen anwendbar bleibt. Über weitere Wirkungen entscheidet das „neue“ Vertragsstatut. So ist an deutschem Recht zu messen, ob und inwieweit Vorgänge, die sich unter Geltung fremden Rechts ereignet haben, im Sinne der fraglichen inländischen Norm als tatbestandsmäßig anzuerkennen sind oder nicht (vgl. MünchKommBGB/Sonnenberger 5. Aufl. Einl. IPR Rn. 607; Deinert RIW 2008, 148; v. Hoffmann/Thorn IPR 9. Aufl. § 5 Rn. 104; ähnlich für den Fall des Betriebsübergangs: BAG 26. Mai 2011 - 8 AZR 37/10 - Rn. 43 ff.). Es geht in solchen Fällen nicht um eine - unzulässige - Anwendung deutschen Rechts auf einen Auslandssachverhalt, sondern um die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine deutsche Norm - hier § 1 Abs. 1 KSchG - auf ein ihrem Wirkungskreis unterliegendes Arbeitsverhältnis anzuwenden ist (vgl. Junker RIW 2001, 94, 105; Schlachter NZA 2000, 57, 63; Straube DB 2009, 1406). Darauf musste und konnte sich die Beklagte einrichten, als sie sich der deutschen Rechtsordnung unterwarf.
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ff) Mögliche praktische Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf eine Einbeziehung solcher Beschäftigungszeiten ergeben können, die unter Geltung ausländischen Rechts zurückgelegt wurden, rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Zwar mag im Einzelfall die Feststellung, ob es sich bei einem Vertragsverhältnis, das zeitweise ausländischem Vertragsstatut unterlag, durchgängig um ein Arbeitsverhältnis im kündigungsschutzrechtlichen Sinne gehandelt hat, nicht einfach sein. Dies ist aber nach der ratio legis des § 1 Abs. 1 KSchG hinzunehmen. Abgesehen davon dürfte vielfach - so auch im Streitfall - der Arbeitnehmerstatus des Beschäftigten während der ausländischem Recht unterfallenden Zeiten unstreitig sein.
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c) Danach hat das Landesarbeitsgericht zu Recht die unter Geltung des Arbeitsvertrags vom 6. Mai 2008 zurückgelegten Beschäftigungszeiten in die Berechnung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG einbezogen.
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aa) Die Klägerin stand ab dem 7. Mai 2008 in einem Arbeitsverhältnis zur „P AG“. Der auf den 13. August 2008 datierte - neue - Arbeitsvertrag bezeichnet als Arbeitgeberin die „P, Aktiengesellschaft lettischen Rechts, Zweigniederlassung B“. Eine Änderung der Arbeitgeberstellung ging damit nicht einher. Mit beiden Bezeichnungen ist dieselbe juristische Person angesprochen. Die Zweigniederlassung der Beklagten ist ausweislich der Eintragungen in das Handelsregister rechtlich unselbständig. Aus § 53 des Kreditwesengesetzes (KWG) folgt nicht, dass sie als eigenständiges Unternehmen iSv. § 1 Abs. 1 KSchG anzusehen wäre. Gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 KWG gilt die inländische Zweigstelle eines ausländischen Unternehmens, die Bankgeschäfte betreibt oder Finanzdienstleistungen erbringt, als Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut. Nach § 53 Abs. 2 Nr. 6 KWG gilt das Institut für die Anwendung von § 36 Abs. 1 KWG als juristische Person. Darüber hinaus gilt nach § 53 Abs. 2a KWG die Zweigstelle für die Bestimmungen des Gesetzes, „die daran anknüpfen, dass ein Institut das Tochterunternehmen eines Unternehmens mit Sitz im Ausland ist, als hundertprozentiges Tochterunternehmen der Institutszentrale mit Sitz im Ausland“. Diesen Regelungen ist der Zweck gemein, die Vorschriften des KWG auf rechtlich und wirtschaftlich unselbständige Zweigstellen eines Unternehmens mit Sitz in einem anderen Staat anwendbar zu machen. Ihre Wirkungen gehen aber nicht darüber hinaus.
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bb) Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die rechtliche Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses der Parteien sei unbeachtlich, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Dafür spricht schon, dass sich die beiden Arbeitsverhältnisse nahtlos aneinander anfügten und die Beschäftigung der Klägerin offenbar kontinuierlich fortgesetzt wurde. Zumindest bestand zwischen den Arbeitsverhältnissen ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang. Die Klägerin war durchweg als Kundenberaterin beschäftigt. Die Gründe für die Unterbrechung lagen weder in den betrieblichen Verhältnissen, noch im Verhalten der Klägerin. Ebenso wenig ist für die Anwendung von § 1 Abs. 1 KSchG von Belang, ob die Klägerin unter Geltung des ersten Arbeitsvertrags nach Deutschland lediglich „entsandt“ worden war. Dem Vorbringen der Beklagten ist nicht zu entnehmen, dass dieser Umstand die Arbeitsleistung der Klägerin entscheidend geprägt hätte.
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cc) Unschädlich ist, dass die Klägerin mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrags vom 13. August 2008 erklärte, zwischen den Parteien habe zuvor kein Arbeitsverhältnis bestanden. Mit dieser Erklärung konnte sie sich ihrer Rechte aus dem Kündigungsschutzgesetz nicht begeben.
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dd) Ausgehend vom 7. Mai 2008 errechnet sich bis zum Zugang der Kündigung eine Beschäftigungszeit von etwas mehr als sieben Monaten. Selbst wenn man nur auf die Zeiten abstellte, während derer die Klägerin unstreitig regelmäßig in M tätig war, mithin die Zeit ab dem 2. Juni 2008, wäre die Wartezeit erfüllt.
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2. Der betriebliche Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes ist eröffnet. Das Landesarbeitsgericht hat für die Berechnung des Schwellenwerts (§ 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 KSchG) zutreffend nicht nur die in der M Filiale beschäftigten Arbeitnehmer berücksichtigt, sondern die in der Zweigniederlassung B tätigen Arbeitnehmer mitgezählt. Der hiergegen gerichtete Angriff der Revision bleibt erfolglos.
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a) Unter einem Betrieb im kündigungsschutzrechtlichen Sinne ist die organisatorische Einheit zu verstehen, innerhalb derer der Arbeitgeber allein oder in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe von sächlichen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen (BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 15, EzA KSchG § 23 Nr. 37; 17. Januar 2008 - 2 AZR 902/06 - Rn. 15, BAGE 125, 274). Dies setzt einen einheitlichen organisatorischen Einsatz der Sachmittel und Personalressourcen voraus. Die einen Betrieb konstituierende Leitungsmacht wird dadurch bestimmt, dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten von derselben institutionalisierten Leitung im Wesentlichen selbstständig ausgeübt wird. Entscheidend ist, wo schwerpunktmäßig über Arbeitsbedingungen und Organisationsfragen entschieden wird und in welcher Weise Einstellungen, Entlassungen und Versetzungen vorgenommen werden (BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 16, aaO; 3. Juni 2004 - 2 AZR 386/03 - zu B II 1 der Gründe, AP KSchG 1969 § 23 Nr. 33 = EzA KSchG § 23 Nr. 27).
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b) Vom Betrieb als Ganzem zu unterscheiden sind Betriebsteile, die gegenüber dem Hauptbetrieb organisatorisch selbstständig sind und eine Teilfunktion von dessen arbeitstechnischem Zweck wahrnehmen (BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 17, EzA KSchG § 23 Nr. 37; 15. März 2001 - 2 AZR 151/00 - zu II 1 b der Gründe, EzA KSchG § 23 Nr. 23). Auch ein Hauptbetrieb und eine räumlich weit entfernte Betriebsstätte iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG können einen Betrieb iSd. § 23 KSchG bilden. Im Unterschied zu § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG differenziert § 23 KSchG nicht zwischen Betrieben und räumlich entfernten Betriebsteilen, die als selbstständige Betriebe im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes gelten. Die räumliche Einheit ist kündigungsschutzrechtlich kein entscheidendes Abgrenzungsmerkmal, weil es wesentlich auf die Leitung des Betriebs ankommt, der es obliegt, die Einzelheiten der arbeitstechnischen Zwecksetzung zu regeln (vgl. BAG 3. Juni 2004 - 2 AZR 577/03 - zu C I 1 der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 141 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 55).
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c) Gemessen hieran ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die M Filiale und die in B ansässige Zweigniederlassung der Beklagten seien als ein einheitlicher Betrieb iSv. § 23 Abs. 1 KSchG anzusehen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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aa) Das Landesarbeitsgericht hat als wesentliches Indiz für das Bestehen einer einheitlichen, in B ansässigen Leitung die äußeren Umstände, insbesondere das zur Akte gereichte Organigramm der Zweigniederlassung gewertet. Ihm zufolge waren die in M beschäftigten Mitarbeiter - auch hinsichtlich ihrer Unterstellungsverhältnisse - in die Organisationsstruktur der Zweigniederlassung eingebunden. Darüber hinaus hat das Landesarbeitsgericht auf den eigenen Vortrag der Beklagten verwiesen, nach dem sämtliche für die Kündigung der Klägerin relevanten Entscheidungen in B getroffen wurden, mögen sie auch einer allgemeinen Vorgabe aus R entsprochen haben. Das an die Klägerin gerichtete Kündigungsschreiben wurde ebenso wie die Kündigung einer anderen im Dezember 2008 entlassenen Mitarbeiterin der M Filiale von der Leiterin der Zweigniederlassung B und nicht von dem in M ansässigen Filialleiter unterzeichnet.
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bb) Die Beklagte hat keine Umstände dargetan, die der Würdigung des Landesarbeitsgerichts entgegen stünden. Ihr zweitinstanzliches Vorbringen, Einstellungen und Entlassungen würden zwar im Außenverhältnis durch die Leiterin der Zweigniederlassung vorgenommen, im Innenverhältnis trage die Verantwortung jedoch die jeweilige Filialleitung, lässt offen, was unter dieser „Verantwortung“ zu verstehen ist. Nach der vorgelegten Stellenbeschreibung ist es Aufgabe des Filialleiters M, die Einstellung der Arbeitskräfte, deren Beförderung und Entlassung zu „initiieren“. Das lässt den Schluss zu, bei ihm habe nicht die Letztentscheidungsbefugnis über die zu treffende Maßnahme gelegen. Soweit die Beklagte auf Befugnisse des Filialleiters bei der Urlaubsplanung verwiesen hat, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass diesem auch die Genehmigung des Urlaubsplans oder einzelner Urlaubsanträge oblag. Ebenso wenig hat die Beklagte behauptet, dass mit fachlichen Weisungsbefugnissen des Filialleiters das Recht zur Erteilung von Abmahnungen verbunden gewesen sei. Im Übrigen belegen ihre Ausführungen zur Umorganisation der M Filiale und Übertragung bislang dort erledigter Aufgaben auf in B tätige Arbeitnehmer, dass ein einheitlicher organisatorischer Einsatz der Sachmittel und Personalressourcen erfolgte. In der Zweigniederlassung B wurde offensichtlich auch über Arbeitsbedingungen und Organisation der M Filiale entschieden.
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cc) In ihrem Betrieb beschäftigte die Beklagte regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der Auszubildenden. Die Klägerin gehörte, was ausreicht, dem Betrieb im Kündigungszeitpunkt an.
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III. Zu Recht rügt die Revision eine fehlerhafte Anwendung von § 1 Abs. 3 KSchG.
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1. Nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist die Kündigung eines Arbeitnehmers, dem aus dringenden betrieblichen Gründen gekündigt worden ist, sozial nicht gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und ggf. die Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind in die soziale Auswahl nach Satz 1 Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebs, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt.
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2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Sozialwidrigkeit einer Kündigung ist revisionsrechtlich zwar nur eingeschränkt überprüfbar. Dies gilt bei der sozialen Auswahl nicht nur mit Blick auf die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung selbst, sondern auch mit Blick auf die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen (BAG 5. Dezember 2002 - 2 AZR 697/01 - Rn. 20, BAGE 104, 138). Auch dem eingeschränkten Prüfungsmaßstab hält die Entscheidung des Berufungsgerichts aber nicht stand.
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a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin sei aufgrund ihres um 11 Jahre höheren Lebensalters sozial schutzbedürftiger als die in H beschäftigte Kundenberaterin S. Die Beklagte könne sich nicht auf § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG berufen. Es seien keine Umstände dargetan, die den Schluss zuließen, die Weiterbeschäftigung von Frau S habe im berechtigten betrieblichen Interesse gelegen.
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b) Es ist schon fraglich, ob auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts davon ausgegangen werden kann, die Klägerin und Frau S gehörten demselben Betrieb an. Dem Vorbringen der Beklagten zufolge war Frau S in der Zweigstelle H eingesetzt. Das Landesarbeitsgericht hat nicht geprüft, ob diese Filiale dem aus der Zweigniederlassung B und der M Filiale bestehenden Betrieb zuzuordnen war. Nach der Konzeption des § 1 Abs. 3 KSchG ist die Sozialauswahl betriebsbezogen durchzuführen. In die Auswahlentscheidung sind nur diejenigen vergleichbaren Arbeitnehmer einzubeziehen, welche in demselben Betrieb beschäftigt sind (st. Rspr., bspw. BAG 31. Mai 2007 - 2 AZR 276/06 - Rn. 16, BAGE 123, 1; 2. Juni 2005 - 2 AZR 158/04 - BAGE 115, 82). Im Übrigen war die Klägerin ausdrücklich für die M Filiale eingestellt worden. Die der Beklagten im Arbeitsvertrag vom 13. August 2008 vorbehaltene Versetzungsoption bezog sich jedenfalls dem Wortlaut nach nicht auf einen möglichen Einsatz in der H Filiale.
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c) Zugunsten der Klägerin kann die Zugehörigkeit von Frau S zum selben Betrieb unterstellt werden. Auch dann durfte das Landesarbeitsgericht nicht von einer fehlerhaften Sozialauswahl ausgehen. Seine Würdigung nimmt nicht ausreichend auf den Wertungsspielraum der Beklagten Bedacht.
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aa) § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG verlangt vom Arbeitgeber die „ausreichende“ Berücksichtigung der dort angeführten sozialen Grunddaten. Ihm steht damit bei deren Gewichtung ein Wertungsspielraum zu (BAG 5. Dezember 2002 - 2 AZR 549/01 - AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 59 = EzA KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 49). Dem Gesetzeswortlaut ist nicht zu entnehmen, wie die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten sozialen Gesichtspunkte zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Keinem Kriterium kommt eine Priorität gegenüber den anderen zu (bspw. BAG 5. November 2009 - 2 AZR 676/08 - Rn. 29, EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 20; 2. Juni 2005 - 2 AZR 480/04 - Rn. 39, BAGE 115, 92). Der dem Arbeitgeber verbleibende Wertungsspielraum ist auch dann zu beachten, wenn er - wie im Streitfall - eine Sozialauswahl zunächst für entbehrlich gehalten hat. Auch wenn eine Sozialauswahl gar nicht oder methodisch fehlerhaft durchgeführt wurde, ist die Kündigung jedenfalls nicht aus diesem Grund unwirksam, wenn mit der Person des Gekündigten gleichwohl - zufällig - eine objektiv vertretbare Auswahl getroffen wurde (bspw. BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 420/09 - Rn. 19, AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 98 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 22; 3. April 2008 - 2 AZR 879/06 - Rn. 30, AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 17 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 15). Der Arbeitgeber braucht grundsätzlich nicht die „bestmögliche“ Sozialauswahl vorgenommen zu haben. Ebenso wenig ist entscheidend, ob das Arbeitsgericht diese Auswahl getroffen hätte, wenn es eigenverantwortlich die sozialen Erwägungen hätte anstellen und die entsprechenden sozialen Grunddaten hätte gewichten müssen. Der dem Arbeitgeber einzuräumende Wertungsspielraum führt dazu, dass nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer sich mit Erfolg auf einen Auswahlfehler berufen können (BAG 2. Juni 2005 - 2 AZR 480/04 - Rn. 38, aaO; 18. Januar 1990 - 2 AZR 357/89 - BAGE 64, 34).
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bb) Die von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorgegebene Einbeziehung des Lebensalters in die Sozialauswahl wirkt sich für die Klägerin nicht derart günstig aus, dass die Beklagte bei Berücksichtigung dieses Kriteriums statt ihrer die Arbeitnehmerin S hätte entlassen müssen.
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(1) Die Berücksichtigung des Lebensalters bei der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG verfolgt das Ziel, ältere Arbeitnehmer, die typischerweise schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, besser zu schützen (vgl. BAG 5. November 2009 - 2 AZR 676/08 - Rn. 25, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 183 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 20; 12. März 2009 - 2 AZR 418/07 - Rn. 39, AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 97 = EzA KSchG § 1 Interessenausgleich Nr. 17). Es ist ein geeignetes und erforderliches Kriterium, um auf die individuellen Arbeitsmarktchancen angemessen Bedacht zu nehmen (vgl. BAG 5. November 2009 - 2 AZR 676/08 - Rn. 25 mwN, aaO). Seine Berücksichtigung verlangt keine konkret-individuelle, je bezogen auf den einzelnen Arbeitnehmer vorzunehmende Bewertung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das Gesetz selbst nimmt eine typisierende Betrachtung vor. Daran kann der Arbeitgeber anknüpfen und seinerseits im Sinne einer mit steigendem Alter zunehmenden Schutzbedürftigkeit typisieren, beispielsweise eine kontinuierlich linear aufsteigende Bewertung des Alters vornehmen (vgl. BAG 5. November 2009 - 2 AZR 676/08 - Rn. 25 mwN, aaO). Er braucht dabei nicht nach einzelnen Jahren zu differenzieren, soweit auch eine grobere Gewichtung bei typisierender Betrachtung noch sachlich angemessen erscheint.
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(2) Die von der Beklagten getroffene Auswahl wird den gesetzlichen Vorgaben gerecht.
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(a) Die Klägerin ist ausweislich einer von der Beklagten erstellten Auswahlliste am 3. April 1976 geboren. Soweit das Landesarbeitsgericht ihr Geburtsdatum mit dem 3. April 1978 angegeben hat, handelt es sich um ein offenbares Versehen. Sie ist damit 11 Jahre älter als die am 12. März 1987 geborene Arbeitnehmerin S. Dennoch haben sich beide Arbeitnehmerinnen im Kündigungszeitpunkt in einem Alter befunden - Frau S mit 21 Jahren, die Klägerin mit 32 Jahren -, in dem bei typisierender Betrachtung von ähnlich guten Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt auszugehen war. Sowohl die Klägerin als auch Frau S waren unverheiratet und keiner Person zum Unterhalt verpflichtet. Frau S war bereits ein Jahr länger bei der Beklagten beschäftigt als die Klägerin. Angesichts der ohnehin kurzen Betriebszugehörigkeit stellt dies einen durchaus beachtlichen Unterschied dar.
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(b) Unter diesen Umständen ist in der Entscheidung der Beklagten für eine Weiterbeschäftigung von Frau S kein rechtlich relevanter Auswahlfehler zu erkennen. Ob Frau S, wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat, aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit und ihrer im Inland absolvierten Ausbildung bessere Vermittlungschancen als die Klägerin hatte, steht mit den Auswahlkriterien des § 1 Abs. 3 KSchG nicht in Zusammenhang. Die Einbeziehung solcher Gesichtspunkte in die soziale Auswahl widerspräche der gesetzlichen Regelung (vgl. BAG 12. August 2010 - 2 AZR 945/08 - Rn. 46, EzA KSchG § 2 Nr. 79). Ob die Weiterbeschäftigung von Frau S überdies im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG im berechtigten betrieblichen Interesse der Beklagten lag, kann offen bleiben.
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B. Die Sache war an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsurteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO). Der Rechtsstreit ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
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I. Der Senat kann auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstands nicht abschließend beurteilen, ob die Kündigung vom 8. Dezember 2008 iSv. § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Das Landesarbeitsgericht hat sich mit der Frage, ob die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt war, nicht befasst und hierzu keine Feststellungen getroffen. Der entsprechende Vortrag der Beklagten ist weitgehend streitig geblieben. Darüber hinaus hat die Klägerin weitere Arbeitnehmerinnen benannt, die aus ihrer Sicht weniger schutzbedürftig sind, ohne dass das Berufungsgericht diesem Vorbringen nachgegangen wäre.
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II. Sollte das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangen, die Kündigung sei wirksam, wird es sich - bei ordentlicher Kündbarkeit des zuletzt geschlossenen Arbeitsverhältnisses - mit der Dauer der Kündigungsfrist zu befassen haben. Berechnet diese sich nach § 622 BGB, dürften für die Bemessung des Zeitraums von sechs Monaten iSv. § 622 Abs. 3 BGB mit Blick auf Beschäftigungszeiten, die unter Geltung fremden Rechts zurückgelegt wurden, keine anderen Maßstäbe gelten als für die Berechnung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG.
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III. Der Aufhebung und Zurückverweisung unterliegt das Berufungsurteil auch insoweit, wie es der Klägerin einen Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung zuerkannt hat.
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