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BVerfG 30.05.2022 - 1 BvR 1012/20
BVerfG 30.05.2022 - 1 BvR 1012/20 - Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) durch Versagung von PKH in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren
Normen
Art 3 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 7 Abs 2 Nr 7 AsylbLG vom 31.07.2016, § 10 Abs 1 DeuFöV, § 73a Abs 1 S 1 SGG
Vorinstanz
vorgehend SG Chemnitz, 30. März 2020, Az: S 27 AY 7/20 ER, Beschluss
Tenor
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1. Der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 30. März 2020 - S 27 AY 7/20 ER - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes, soweit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegenüber der Beschwerdeführerin abgelehnt wurde, und wird insoweit aufgehoben.
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2. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
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3. Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt (…) für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.
Gründe
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I.
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Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe in einem sozialgerichtlichen Eilverfahren.
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1. Die Beschwerdeführerin beantragte für sich und ihre minderjährige Tochter anwaltlich vertreten einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht gegen den Sofortvollzug eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids. Gegenstand waren Leistungen nach §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Zeitraum Oktober bis Dezember 2019, welche die Stadt anteilig aufhob und zurückforderte, weil der Beschwerdeführerin ein pauschaler Fahrtkostenzuschuss des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gemäß § 10 Abs. 1 der Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung (DeuFöV) anlässlich der Teilnahme an einem Berufssprachkurs ausgezahlt worden war. Mit diesem als "Einkommen" bewerteten Zuschuss sei die Beschwerdeführerin in der Lage, ihre Bedürftigkeit ganz oder teilweise abzuwenden (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB X> i.V.m. § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG). Die Stadt wies auf die sofortige Vollziehung des Bescheids gemäß § 11 Abs. 4 AsylbLG hin.
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Demgegenüber vertrat die Beschwerdeführerin vorgerichtlich und gerichtlich die Auffassung, dass eine Anrechnung des Fahrtkostenzuschusses als Einkommen gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG gesetzlich ausgeschlossen sei. Zudem sei gesetzlich nicht vorgesehen, pauschalierte Einzelbedarfe aus dem Regelbedarf - hier die in der Abteilung 7 "Verkehr" vorgesehenen Bedarfe für "fremde Verkehrsdienstleistungen" in Höhe von 20,77 Euro monatlich - herauszurechnen.
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Die Stadt vertrat die Auffassung, es handele sich nicht um die Anrechnung von Einkommen, sondern um eine Kürzung des Regelsatzes. Die Beschwerdeführerin könne ihren Bedarf an Mobilität mit einer Monatskarte des öffentlichen Personennahverkehrs decken.
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Das Sozialgericht lehnte den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs mit unanfechtbarem Beschluss vom 30. März 2020 ab. Der Bescheid der Stadt sei rechtmäßig. Der Bedarf der Beschwerdeführerin sei mit der Bewilligung des Fahrtkostenzuschusses und einer Monatskarte gedeckt. Es sei daher auch unerheblich, ob die Angelegenheit dringlich sei. Mangels Aussicht auf Erfolg sei auch der Antrag auf Prozesskostenhilfe abzulehnen.
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2. Die Beschwerdeführerin rügt, dass die Ablehnung ihres Prozesskostenhilfeantrags ihre Rechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG verletze. Das Sozialgericht habe die Anforderungen an die Voraussetzung der Erfolgsaussicht gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) überspannt. Der angegriffene Bescheid sei offensichtlich rechtswidrig. Die Rechtsauffassung des Sozialgerichts, Bedarfe zu kürzen, wenn ein zweckgebundener Fahrtkostenzuschuss gewährt werde, lasse sich auf keine Rechtsgrundlage stützen. Bedarfe seien nicht einzeln herauszurechnen.
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3. Die Verfassungsbeschwerde wurde zugestellt. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen vor.
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II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr zur Durchsetzung des Grundrechts auf Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin statt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist wegen der Ablehnung von Prozesskostenhilfe zulässig und begründet.
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1. Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Menschen mit mehr und Menschen mit weniger finanziellen Mitteln bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 117 f.>; 81, 347 357> m.w.N.). Dem dienen die gesetzlichen Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe. Diese kann allerdings davon abhängig gemacht werden, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 2019 - 1 BvR 2666/18 -, Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Juli 2020 - 1 BvR 1571/19 -, Rn. 10).
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Die Prüfung der Erfolgsaussicht des beabsichtigten Rechtsschutzverfahrens soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern will ihn zugänglich machen. So sieht § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vor, wenn hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss (vgl. BVerfGE 81, 347 357>).
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Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (hier in Verbindung mit § 73a Sozialgerichtsgesetz <SGG>) unter Beachtung dieses - verfassungsgebotenen - Zwecks der Prozesskostenhilfe obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Diese überschreiten ihren Entscheidungsspielraum, wenn sie die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlen (vgl. BVerfGE 81, 347 357 f.> m.w.N.). So überschreiten die Fachgerichte den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der "hinreichenden Erfolgsaussicht" verfassungsrechtlich zukommt, wenn sie einen Maßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird, der also die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt.
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2. Dem wird die Entscheidung des Sozialgerichts erkennbar nicht gerecht. Es hat die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren überspannt. Dadurch hat es den Zweck der Prozesskostenhilfe verfehlt.
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a) Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 ZPO sind die Voraussetzungen für die von der Beschwerdeführerin beantragte Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid. Für die Aufhebung von Leistungen nach dem AsylbLG ordnet der Gesetzgeber in § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG an, dass Widerspruch und Anfechtungsklage im Fall der Aufhebung einer Leistungsbewilligung keine aufschiebende Wirkung haben. Dann richtet sich einstweiliger Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG. Danach hat der Sofortvollzug der Aufhebungsentscheidung grundsätzlich Vorrang gegenüber dem Interesse der Beschwerdeführerin, den Vollzug auszusetzen. Das gilt aber nicht, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist und Betroffene durch ihn in subjektiven Rechten verletzt werden (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 86b Rn. 12c, 12f m.w.N.).
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b) Hier stützt das Sozialgericht seine Entscheidung, einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen, auf die Feststellung, der mit Widerspruch angegriffene Bescheid sei rechtmäßig. Es stellt darauf ab, der Bedarf der Beschwerdeführerin sei gedeckt, weil das Bundesamt einen Fahrtkostenzuschuss bewilligt habe. Rechtsgrundlagen für die Aufhebung nennt das Sozialgericht nicht. Die Stadt hat die Entscheidung, Leistungen für die Vergangenheit aufzuheben, jedoch ausdrücklich darauf gestützt, dass der Beschwerdeführerin mit dem Fahrtkostenzuschuss "Einkommen" zugeflossen wäre. Das Sozialgericht hätte bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten daher würdigen müssen, dass der Gesetzgeber Fahrtkostenzuschüsse in § 7 Abs. 2 Nr. 7 AsylbLG (in der Fassung von Art. 4 Nr. 5 Buchstabe c des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016, mit Wirkung vom 6. August 2016 in Kraft, BGBl I S. 1939) von einer Berücksichtigung als Einkommen ausnimmt (vgl. dazu BTDrucks 18/8615, S. 41 f.). Der Fahrtkostenzuschuss nach § 10 Abs. 1 DeuFöV wäre damit nicht auf die Grundleistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG anzurechnen und eine Aufhebung von Leistungen käme dann nicht in Betracht.
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Soweit das Sozialgericht ausführt, dass es auf die Dringlichkeit der Angelegenheit nicht ankomme, weil die Beschwerdeführerin durch eine Monatskarte ihren Bedarf habe decken können, betrifft dies ersichtlich nicht die rechtlichen Maßstäbe des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und den Sofortvollzug des angegriffenen Bescheids. Vielmehr lehnt das Gericht Prozesskostenhilfe ab, ohne die hinreichenden Erfolgsaussichten des angestrebten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens rechtlich zutreffend geprüft zu haben.
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c) Das Sozialgericht hat seinen Entscheidungsspielraum erkennbar überschritten, indem es bei der Prüfung des Prozesskostenhilfeantrags die sich hier aufdrängende hinreichende Erfolgsaussicht des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens verneint hat. Es hat damit den Weg zum Sozialgericht unverhältnismäßig erschwert und die Beschwerdeführerin in ihrer grundrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit verletzt.
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III.
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Der Beschluss des Sozialgerichts vom 30. März 2020 - S 27 AY 7/20 ER - wird, soweit die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegenüber der Beschwerdeführerin abgelehnt wurde, aufgehoben und die Sache an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
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IV.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 105, 1 17> m.w.N.).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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