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BFH 08.09.2016 - III R 48/12
BFH 08.09.2016 - III R 48/12 - (Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten - Im Wesentliche inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 04.02.2016 III R 17/13)
Normen
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 1 EStG 2009, Art 1 Buchst z EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004, Art 11 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 67 EGV 883/2004, Art 68 EGV 883/2004, Art 60 Abs 1 S 2 EGV 987/2009, EStG VZ 2011
Vorinstanz
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 15. August 2012, Az: 2 K 2143/11, Urteil
Leitsatz
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NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776) .
Tenor
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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. August 2012 2 K 2143/11 im Kostenausspruch ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es der Klage stattgegeben hat.
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Die Klage wird auch insoweit abgewiesen.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Mai 2010 bis Juni 2011.
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Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater des im Jahr 1994 geborenen Sohnes D, der bei der Kindsmutter in Polen lebt.
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Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und hat seit dem Jahr 2005 seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Er war seit Juni 2006 aufgrund seiner Tätigkeit als selbstständiger Berufsmusiker bei der Künstlersozialkasse versicherungspflichtig und wurde in Deutschland zur Einkommensteuer veranlagt.
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Mit Bescheid vom 21. April 2011 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für D für die Zeit ab Mai 2010 ab, da D bei der Kindsmutter in Polen lebe.
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Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. Juni 2011).
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Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für D, zuletzt für den Zeitraum Januar 2006 bis Mai 2006 und für die Zeit ab September 2009.
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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 15. August 2012 2 K 2143/11 zum Teil statt. Es verpflichtete die Familienkasse unter Änderung des Ablehnungsbescheids vom 21. April 2011 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 3. Juni 2011, Kindergeld für D für die Zeit ab Mai 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG zu gewähren. Im Übrigen wies es die Klage ab.
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Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.
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Die Familienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 15. August 2012 2 K 2143/11 insoweit aufzuheben und die Klage auch insoweit abzuweisen, als die Familienkasse zur Gewährung von Kindergeld für D für die Zeit ab Mai 2010 verpflichtet worden ist.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Mit Beschluss vom 13. Januar 2015 hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit, als es der Klage stattgegeben hat und zur Abweisung der Klage auch für die Zeit ab Mai 2010 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für D ab Mai 2010 (vorrangig) dem Kläger zusteht. Denn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).
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1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde --für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)-- vom FG festgestellt. Unerheblich ist, dass D seinen Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
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2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit D in Deutschland wohnt.
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a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
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b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert. Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung.
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3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
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a) Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
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b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine selbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
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4. Wie der Senat bereits wiederholt entschieden hat, folgt aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es für die Anwendung der Fiktionsregelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nicht darauf an, ob die in Polen lebende Kindsmutter einen Anspruch auf Familienleistungen in Polen hatte und deshalb im Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist (vgl. EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 33). Denn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 findet bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung. Die Kindsmutter gehört zudem zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in den Senatsurteilen vom 4. Februar 2016 III R 17/13 (BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18), vom 10. März 2016 III R 8/13 (BFH/NV 2016, 1164, Rz 21 ff.), vom 10. März 2016 III R 25/12 (BFH/NV 2016, 1161, Rz 20 ff.) und vom 28. April 2016 III R 68/13 (BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 19 ff.) Bezug genommen.
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5. Zu Recht weist der Kläger zwar darauf hin, dass der andere Elternteil nach dem EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 39 "alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen" erfüllen muss. Gerade dies ist vorliegend aber der Fall. Denn die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
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a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.
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b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme des D vorliegt.
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6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Vielmehr hätte die deutsche Familienkasse einen Antrag des Klägers auf Kindergeld auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen. Soweit der Kläger unter Bezugnahme auf Rz 37 und Rz 45 des EuGH-Urteils in DStRE 2015, 1501 meint, der im Ausland wohnende Elternteil werde erst dann zum Berechtigten, wenn der im Inland wohnende Elternteil --anders als im vorliegenden Fall-- keinen Antrag gestellt habe, beachtet er die dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegte Rechtsfrage nicht hinreichend. Der BFH hatte den EuGH mit der 2. Vorlagefrage um Stellungnahme ersucht, ob der Anspruch dem im zuständigen Mitgliedstaat (Deutschland) wohnenden Elternteil (d.h. im Vorlagefall wie auch im Streitfall dem Kindsvater) zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (d.h. im Vorlagefall wie auch im Streitfall die in Polen lebende Kindsmutter), keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat (EuGH-Vorlage des BFH vom 8. Mai 2014 III R 17/13, BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329, Rz 26 f.). Diese Frage hat der EuGH verneint, weil der in Deutschland gestellte Antrag des Kindsvaters auch als solcher zugunsten der Kindsmutter zu berücksichtigen ist (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 46 ff.). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungsgründe in den Senatsurteilen in BFH/NV 2016, 1164, Rz 30, in BFH/NV 2016, 1161, Rz 33 und in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 28 Bezug genommen.
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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