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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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BSG 12.12.2024 - B 3 KR 4/23 R
BSG 12.12.2024 - B 3 KR 4/23 R
Vorinstanz
vorgehend SG Chemnitz, 10. April 2020, Az: S 11 KR 667/19, Gerichtsbescheid
vorgehend Sächsisches Landessozialgericht, 15. November 2022, Az: L 9 KR 272/20, Urteil
Tenor
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Die Revision wird zurückgewiesen.
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Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Im Streit steht der Ausschluss vom Krankengeld.
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Der 1957 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er bezog seit 1979 in der Deutschen Demokratischen Republik eine Invalidenrente wegen Blindheit/Sehbehinderung. Diese wurde nach der Wiedervereinigung zunächst ab 1.1.1992 in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Vollrente) umgewertet und ab 1.5.1995 in eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (Teilrente) wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenze durch den erwerbstätigen Kläger (Änderung des Bescheids vom 27.11.1991 durch Bescheid vom 18.3.1995 der LVA Sachsen). Eine erneute Umwertung erfolgte zum 1.7.2017 auf der Grundlage des Flexirentengesetzes, nach dem die dem weiterhin erwerbstätigen Kläger geleistete Rente als Rente wegen voller Erwerbsminderung (Vollrente) gilt, ohne dass für diese ein Hinzuverdienst berücksichtigt wird (Bescheid vom 29.11.2018 der DRV Mitteldeutschland).
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Aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit ab 20.11.2018 bewilligte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 11.1.2019 Krankengeld ab 3.1.2019 für die ärztlich voraussichtlich festgestellte Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit und zahlte dieses für den Arbeitsunfähigkeitszeitraum bis 17.1.2019 aus. Nachdem die Beklagte vom veränderten Rentenbezug des Klägers ab 1.7.2017 Kenntnis erlangt hatte, stellte sie fest, dass der Kläger ab Beginn seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1.7.2017 keinen Anspruch auf Krankengeld habe (Bescheid vom 30.1.2019). Weitere Zahlungen erfolgten bis zum Ende der Arbeitsunfähigkeit am 31.3.2019 nicht. Den Antrag des Klägers auf Krankengeld für eine Arbeitsunfähigkeit ab 11.6.2019 lehnte die Beklagte wegen des Bezugs der Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Verweis auf § 50 SGB V ab (Bescheid vom 10.7.2019). Die Widersprüche des Klägers, mit denen er auf die Besonderheiten seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung verwies, die zur ausnahmsweisen Nichtanwendung dieser Ausschlussregelung führten, wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheide vom 23.9.2019).
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Im Klageverfahren hat die Beklagte erklärt, auf eine Rückforderung des bereits ausgezahlten Krankengelds zu verzichten. Das SG hat die Klage auf Krankengeld abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 14.4.2020), das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 15.11.2022). Der Kläger sei nach § 50 Abs 1 Satz 1 SGB V vom Anspruch auf Krankengeld wegen des Bezugs einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ausgeschlossen. Dieser komme als Vollrente eine Entgeltersatzfunktion zu, neben der kein Anspruch auf Krankengeld als weiterer Entgeltersatzleistung bestehe.
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Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger der Sache nach eine Verletzung von § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V und verweist auf den Unterschied seiner umgewerteten DDR-Invalidenrente, die nur als eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gelte und ohne Hinzuverdienstgrenze neben einer Erwerbstätigkeit geleistet werde, zu einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Seine Rente dürfe deshalb nicht im Krankengeldrecht als eine solche Rente angesehen werden.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 15. November 2022 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 14. April 2020 sowie die Bescheide der Beklagten vom 30. Januar 2019 und vom 10. Juli 2019 in Gestalt der Wider-spruchsbescheide vom 23. September 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 18. Januar bis 31. März 2019 und ab 11. Juni 2019 Krankengeld zu zahlen.
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Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Aufgrund des Bezugs einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ist der Kläger vom Anspruch auf Krankengeld ausgeschlossen.
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1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die Bescheide der Beklagten vom 30.1.2019 und 10.7.2019 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23.9.2019, mit denen sie einen Anspruch des Klägers auf Krankengeld wegen des Bezugs einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 18.1. bis 31.3.2019 und wiederum ab 11.6.2019 ablehnte. Nicht streitgegenständlich ist ein Anspruch auf Krankengeld vom 3. bis 17.1.2019 und der hierzu ergangene Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 11.1.2019.
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Richtige Klageart ist die auf Aufhebung der Bescheide und Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Krankengeld gerichtete kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), die als auf ein Grundurteil gerichtet keiner Bezifferung bedarf (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).
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2. Nach § 44 Abs 1 SGB V (idF des GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378) iVm § 46 Satz 1 Nr 2 und Satz 2 SGB V (idF des GKV-VSG vom 16.7.2015, BGBl I 1211) haben Versicherte ua Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Unabhängig von den weiteren rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zahlung von Krankengeld im Hinblick darauf, dass Arbeitsunfähigkeiten jeweils rechtzeitig und lückenlos ärztlich festgestellt und der beklagten Krankenkasse rechtzeitig gemeldet wurden (§ 49 Abs 1 Nr 5 SGB V in der bis 31.12.2020 geltenden Fassung), steht hier allein im Streit, ob der Krankengeldanspruch wegen des Bezugs einer Rente ausgeschlossen ist.
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3. Rechtsgrundlage für den Ausschluss vom Krankengeld ist vorliegend allein § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V (zunächst idF des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, BGBl I 1827, und ab 11.5.2019 idF des TSVG vom 6.5.2019, BGBl I 646). Hiernach endet ein Anspruch auf Krankengeld für Versicherte, die eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen, vom Beginn dieser Leistungen an; nach Beginn dieser Leistungen entsteht ein neuer Krankengeldanspruch nicht.
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4. Diese Ausschlussregelung vom Krankengeld ist auch auf die vom Kläger bezogene Rente anzuwenden, die nach ihrer letzten Umwertung zum 1.7.2017 als Rente wegen voller Erwerbsminderung gilt.
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a) Übergeleitete Invalidenrenten des Beitrittsgebiets, die am 30.6.2017 je nach Höhe des Hinzuverdiensts als Renten wegen Erwerbsunfähigkeit oder als Renten wegen Berufsunfähigkeit geleistet wurden, gelten gemäß § 302a Abs 1, Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB VI (idF des Flexirenten-gesetzes vom 8.12.2016, BGBl I 2838) ab dem 1.7.2017 einheitlich als Renten wegen voller Erwerbsminderung iS des § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V. Bei dieser erneuten Umwertung ist den Besonderheiten der bereits zuvor übergeleiteten DDR-Invalidenrente wegen Blindheit, die keine volle Erwerbsminderung voraussetzte, aus Vertrauensschutzgründen zur Vermeidung einer Verschlechterung der Rechtsposition der Versicherten im Rentenrecht dadurch Rechnung getragen worden (vgl BT-Drucks 18/9787 S 48 f), dass diese Rente wegen voller Erwerbsminderung keinen Hinzuverdienstgrenzen unterliegt (§ 313 Abs 6 SGB VI). Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass ungeachtet des Bezugs der Rente eine Erwerbstätigkeit mangels voller Erwerbsminderung möglich bleibt. Unverändert geblieben ist indes im Krankenversicherungsrecht die Ausschlussregelung des § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V.
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b) Zwar ist bei dem Kläger eine volle Erwerbsminderung iS von § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI nicht festgestellt worden, vielmehr war er erwerbstätig; gleichwohl bezieht er nach den erfolgten rentenrechtlichen Umwertungen seiner DDR-Invalidenrente nicht einen Nachteilsausgleich wegen Blindheit, sondern aus der gesetzlichen Rentenversicherung als Entgeltersatzleistung statt der zuvor bezogenen Rente wegen Berufsunfähigkeit (Teilrente) seit 1.7.2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (Vollrente). Dass diese im Rentenrecht nur als eine solche "gilt", führt im Krankengeldrecht nicht zur Unanwendbarkeit der Ausschlussregelung des § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V, die zwischen dem Bezug von Renten wegen voller Erwerbsminderung und von Renten, die als eine solche gelten, nicht unterscheidet.
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5. Auch der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, die auf einer Fiktion der vollen Erwerbsminderung beruht, schließt einen Anspruch auf Krankengeld aus. Dies entspricht den mit der Ausschlussregelung verfolgten Zwecken, eine Doppelversorgung mit Entgeltersatzleistungen öffentlicher Träger zu vermeiden, denen dieselbe Entgeltersatzfunktion zukommt, und die Risiken zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung voneinander abzugrenzen und zu verteilen.
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a) Nach § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V führt der Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung - wie der einer Vollrente wegen Alters - dazu, dass der Krankengeldanspruch komplett wegfällt und nicht neu entsteht (vgl im Einzelnen BSG vom 4.6.2019 - B 3 KR 15/18 R - BSGE 128, 179 = SozR 4-2500 § 50 Nr 3, RdNr 26). Der Gesetzgeber hat hiermit eine grundsätzliche Systementscheidung zur Zuordnung der Entgeltersatzleistungen getroffen (vgl im Einzelnen bereits BSG vom 28.9.2010 - B 1 KR 31/09 R - BSGE 106, 296 = SozR 4-2500 § 50 Nr 2, RdNr 12 ff). Entgeltersatzleistungen der Krankenversicherung und der Rentenversicherung werden hierdurch klar voneinander abgegrenzt und kumulative Doppelleistungen zum Ersatz von Arbeitsentgelt oder -einkommen aus den Systemen der sozialen Sicherung verhindert. Das Gesetz räumt dem Krankengeld insoweit keinen Vorrang gegenüber einer Rentenzahlung ein. Im Gegenteil: Rentenzahlungen haben den Vorrang vor Krankengeldzahlungen, weil es in erster Linie Aufgabe der Rentenversicherung ist, bei dauerhafter Erwerbsminderung Entgeltersatz zu leisten.
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b) An dieser Systementscheidung ist auch vorliegend festzuhalten, obwohl der Kläger erwerbstätig ist und für ihn eine Hinzuverdienstgrenze nicht gilt. Die Möglichkeit eines rentenunschädlichen Hinzuverdiensts ist für den Ausschluss vom Krankengeld unerheblich. Die Regelungen zum Hinzuverdienst betreffen das geschlossene System der Rentengewährung aus dem SGB VI, nicht aber das Krankengeld nach dem SGB V. Der Kläger kann danach zwar neben seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung unbegrenzt aus einer Erwerbstätigkeit hinzuverdienen, hat aber bei Arbeitsunfähigkeit neben seiner als Vollrente geleisteten Rente keinen Krankengeldanspruch. Das Krankengeld kann nicht "hinzuverdient" werden, weil die rentenrechtliche Privilegierung durch Nichtgeltung einer Hinzuverdienstgrenze der vom Kläger bezogenen Rente nicht ihre Entgeltersatzfunktion nimmt, an die der Ausschluss vom Krankengeld anknüpft.
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6. Dem steht Verfassungsrecht nicht entgegen. Verfassungsrechtlich ist der Ausschluss vom Krankengeld als Entgeltersatzleistung neben dem Bezug einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zur Vermeidung einer Doppelversorgung mit Leistungen gleicher Zweckbestimmung nach der Rechtsprechung des Senats nicht zu beanstanden (vgl BSG vom 4.6.2019 - B 3 KR 15/18 R - BSGE 128, 179 = SozR 4-2500 § 50 Nr 3, RdNr 26 mwN). Der Gesetzgeber war hier verfassungsrechtlich auch nicht gehalten, den rentenrechtlichen Besonderheiten der vom Kläger bezogenen Rente durch die Nichtanwendung des Krankengeldausschlusses nach § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V Rechnung zu tragen. Er verfügt über eine Gestaltungsfreiheit bei der Frage, wie er einen von ihm als unerwünscht angesehenen Doppelbezug von Leistungen vermeiden oder beseitigen möchte (vgl BVerfG <Kammer> vom 10.9.2024 - 1 BvR 936/24 - juris RdNr 11 mwN). Der Senat kann nicht erkennen, dass der damit dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum hier überschritten sein könnte.
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Anderes folgt nicht aus Art 3 Abs 3 Satz 2 GG und auch das Diskriminierungsverbot des Art 5 Abs 2 UN-BRK setzt insoweit keine strengeren Maßstäbe, die zu Doppelleistungen führen können. Die Abgrenzungsregelung des § 50 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V zwischen Krankenversicherung und Rentenversicherung knüpft schon nicht benachteiligend an eine Behinderung an, sondern an das Zusammentreffen von Leistungen im gegliederten Sozialleistungssystem. Auch verliert die Typisierung dieser Regelung ihre grundsätzliche verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht dadurch, dass sie nicht jeden Einzelfall von Menschen mit Behinderungen abzubilden vermag - hier den des erwerbstätigen und nur arbeitsunfähigen Klägers, der trotz des Bezugs seiner umgewerteten Rente wegen voller Erwerbsminderung als Entgeltersatzleistung nicht aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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